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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Innere Kolonisation!

richteten weitsichtige Gutsherren Möglichkeiten für die Schaffung von Pacht¬
stellen ein. Mit einem Wort, der intelligentere und weitsichtigere Teil des
Großgrundbesitzes, der selbst mit dem Boden eng verwachsen war, suchte auch
bei sich die Faktoren zu beseitigen, die die Stadtsucht der Landbevölkerung
fördern konnte.

Aber er kam zu spät.

Die junge Generation, die in den Jahren der Hochkonjunktur der Industrie
in den Städten ein leichteres Fortkommen fand, war für das Land verloren.
Jene ersten und ihre Kinder sind vielfach längst in bürgerliche Verhältnisse auf¬
gerückt und mancher von ihnen ist vielleicht von der Welle der Hochkonjunkturen
so hoch getragen, daß sein Einkommen größer ist als der Wert des Besitzes
seines früheren Herrn. So etwas spricht sich herum in der Heimat und die
Geschichte eines besonders Begünstigten wird zur treu bewahrten Legende und
zum Anreiz für die Nachfahren.

Als die industrielle Entwicklung bald eine Jndustriearbeiterfrage schuf,
verhütete eine weise staatliche Sozialpolitik die sonst unvermeidlichen Folgen
und ließ den Wunsch aufs Land zurückzukehren beim jüngeren Geschlecht nicht
erst aufkommen. Die Städte, deren Steuersäckel durch das Wachstum von Industrie,
Handel und Verkehr gleichfalls profitierte, sahen sich genötigt, ihre sanitären Anlagen
zu verbessern und solche Wohngelegenheiten zu schaffen, die den ländlichen aus den
achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts doch sehr erheblich
überlegen waren. (Ich verweise hierzu auf Photographien, die ich im Jahre
1909 in der Leipziger Illustrierten Zeitung veröffentlicht habe und die die
Arbeiterwohnungen aus der Mitte der neunziger Jahre mit denen von 1908
in der Gegend von Gnesen in Vergleich stellen.) Hinzu traten dann die schier
unbegrenzten Möglichkeiten, sich zu amüsieren, Freundschaften zu schließen und
sonstigen Anschluß zu finden, was auf dem Lande doch recht erschwert ist, wenn
nicht zufällig sehr günstige Verbindungswege den Verkehr der Dörfer und Güter
untereinander erleichtern.

So hat die Sucht der niederen Landbevölkerungen die Städte zu ziehen, vielfach
auch dieselben Gründe, die den Gutsbesitzersohn hindern, in Wreschen oder
Stallupönen in Garnison zu gehen und ihn lieber veranlassen, wenn er es in
pekuniärer Hinsicht irgendwie ermöglichen kann, sich in die Großstädte, nach Berlin,
Potsdam, Königsberg oder Breslau zu begeben, und dann nach einigen froh¬
verlebten Militärjahren auf die väterliche Kutsche zurückzukehren. Es sind die¬
selben Gründe, die den reichen Bauernsohn der Weichselniederung veranlassen,
lieber drei Jahre bei der Totenkopfbrigaoe in Danzig als zwei Jahre beiden
Jägern in Kulm zu dienen. Die Gemeinsamkeit dieses Zuges, der sich auch
uoch in mancher anderen Erscheinung unseres gesellschaftlichen Lebens wieder¬
spiegelt, wollen wir nicht unberücksichtigt lassen, weil er uns die Möglichkeit gibt,
ein Argument zurückzuweisen, mit dem gegen die sogenannte "Landflucht", die
tatsächliche Stadtsucht, zu Felde gezogen wird.


Innere Kolonisation!

richteten weitsichtige Gutsherren Möglichkeiten für die Schaffung von Pacht¬
stellen ein. Mit einem Wort, der intelligentere und weitsichtigere Teil des
Großgrundbesitzes, der selbst mit dem Boden eng verwachsen war, suchte auch
bei sich die Faktoren zu beseitigen, die die Stadtsucht der Landbevölkerung
fördern konnte.

Aber er kam zu spät.

Die junge Generation, die in den Jahren der Hochkonjunktur der Industrie
in den Städten ein leichteres Fortkommen fand, war für das Land verloren.
Jene ersten und ihre Kinder sind vielfach längst in bürgerliche Verhältnisse auf¬
gerückt und mancher von ihnen ist vielleicht von der Welle der Hochkonjunkturen
so hoch getragen, daß sein Einkommen größer ist als der Wert des Besitzes
seines früheren Herrn. So etwas spricht sich herum in der Heimat und die
Geschichte eines besonders Begünstigten wird zur treu bewahrten Legende und
zum Anreiz für die Nachfahren.

Als die industrielle Entwicklung bald eine Jndustriearbeiterfrage schuf,
verhütete eine weise staatliche Sozialpolitik die sonst unvermeidlichen Folgen
und ließ den Wunsch aufs Land zurückzukehren beim jüngeren Geschlecht nicht
erst aufkommen. Die Städte, deren Steuersäckel durch das Wachstum von Industrie,
Handel und Verkehr gleichfalls profitierte, sahen sich genötigt, ihre sanitären Anlagen
zu verbessern und solche Wohngelegenheiten zu schaffen, die den ländlichen aus den
achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts doch sehr erheblich
überlegen waren. (Ich verweise hierzu auf Photographien, die ich im Jahre
1909 in der Leipziger Illustrierten Zeitung veröffentlicht habe und die die
Arbeiterwohnungen aus der Mitte der neunziger Jahre mit denen von 1908
in der Gegend von Gnesen in Vergleich stellen.) Hinzu traten dann die schier
unbegrenzten Möglichkeiten, sich zu amüsieren, Freundschaften zu schließen und
sonstigen Anschluß zu finden, was auf dem Lande doch recht erschwert ist, wenn
nicht zufällig sehr günstige Verbindungswege den Verkehr der Dörfer und Güter
untereinander erleichtern.

So hat die Sucht der niederen Landbevölkerungen die Städte zu ziehen, vielfach
auch dieselben Gründe, die den Gutsbesitzersohn hindern, in Wreschen oder
Stallupönen in Garnison zu gehen und ihn lieber veranlassen, wenn er es in
pekuniärer Hinsicht irgendwie ermöglichen kann, sich in die Großstädte, nach Berlin,
Potsdam, Königsberg oder Breslau zu begeben, und dann nach einigen froh¬
verlebten Militärjahren auf die väterliche Kutsche zurückzukehren. Es sind die¬
selben Gründe, die den reichen Bauernsohn der Weichselniederung veranlassen,
lieber drei Jahre bei der Totenkopfbrigaoe in Danzig als zwei Jahre beiden
Jägern in Kulm zu dienen. Die Gemeinsamkeit dieses Zuges, der sich auch
uoch in mancher anderen Erscheinung unseres gesellschaftlichen Lebens wieder¬
spiegelt, wollen wir nicht unberücksichtigt lassen, weil er uns die Möglichkeit gibt,
ein Argument zurückzuweisen, mit dem gegen die sogenannte „Landflucht", die
tatsächliche Stadtsucht, zu Felde gezogen wird.


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[0355] Innere Kolonisation! richteten weitsichtige Gutsherren Möglichkeiten für die Schaffung von Pacht¬ stellen ein. Mit einem Wort, der intelligentere und weitsichtigere Teil des Großgrundbesitzes, der selbst mit dem Boden eng verwachsen war, suchte auch bei sich die Faktoren zu beseitigen, die die Stadtsucht der Landbevölkerung fördern konnte. Aber er kam zu spät. Die junge Generation, die in den Jahren der Hochkonjunktur der Industrie in den Städten ein leichteres Fortkommen fand, war für das Land verloren. Jene ersten und ihre Kinder sind vielfach längst in bürgerliche Verhältnisse auf¬ gerückt und mancher von ihnen ist vielleicht von der Welle der Hochkonjunkturen so hoch getragen, daß sein Einkommen größer ist als der Wert des Besitzes seines früheren Herrn. So etwas spricht sich herum in der Heimat und die Geschichte eines besonders Begünstigten wird zur treu bewahrten Legende und zum Anreiz für die Nachfahren. Als die industrielle Entwicklung bald eine Jndustriearbeiterfrage schuf, verhütete eine weise staatliche Sozialpolitik die sonst unvermeidlichen Folgen und ließ den Wunsch aufs Land zurückzukehren beim jüngeren Geschlecht nicht erst aufkommen. Die Städte, deren Steuersäckel durch das Wachstum von Industrie, Handel und Verkehr gleichfalls profitierte, sahen sich genötigt, ihre sanitären Anlagen zu verbessern und solche Wohngelegenheiten zu schaffen, die den ländlichen aus den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts doch sehr erheblich überlegen waren. (Ich verweise hierzu auf Photographien, die ich im Jahre 1909 in der Leipziger Illustrierten Zeitung veröffentlicht habe und die die Arbeiterwohnungen aus der Mitte der neunziger Jahre mit denen von 1908 in der Gegend von Gnesen in Vergleich stellen.) Hinzu traten dann die schier unbegrenzten Möglichkeiten, sich zu amüsieren, Freundschaften zu schließen und sonstigen Anschluß zu finden, was auf dem Lande doch recht erschwert ist, wenn nicht zufällig sehr günstige Verbindungswege den Verkehr der Dörfer und Güter untereinander erleichtern. So hat die Sucht der niederen Landbevölkerungen die Städte zu ziehen, vielfach auch dieselben Gründe, die den Gutsbesitzersohn hindern, in Wreschen oder Stallupönen in Garnison zu gehen und ihn lieber veranlassen, wenn er es in pekuniärer Hinsicht irgendwie ermöglichen kann, sich in die Großstädte, nach Berlin, Potsdam, Königsberg oder Breslau zu begeben, und dann nach einigen froh¬ verlebten Militärjahren auf die väterliche Kutsche zurückzukehren. Es sind die¬ selben Gründe, die den reichen Bauernsohn der Weichselniederung veranlassen, lieber drei Jahre bei der Totenkopfbrigaoe in Danzig als zwei Jahre beiden Jägern in Kulm zu dienen. Die Gemeinsamkeit dieses Zuges, der sich auch uoch in mancher anderen Erscheinung unseres gesellschaftlichen Lebens wieder¬ spiegelt, wollen wir nicht unberücksichtigt lassen, weil er uns die Möglichkeit gibt, ein Argument zurückzuweisen, mit dem gegen die sogenannte „Landflucht", die tatsächliche Stadtsucht, zu Felde gezogen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/355>, abgerufen am 22.07.2024.