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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

einzelnen glücklich gewesen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung je nach dem
Parteistandpunkte verschieden ausfallen wird.

Im Kurs des Reichsschiffes in der auswärtigen Politik des fünften
Kanzlers erkennen wir ohne Zweifel den festen Willen, den Weltfrieden zu
erhalten, ohne Deutschland in seiner Entwicklung behindern zu lassen. Da diese
Entwicklung nirgends mit der Rußlands kollidiert, die russische Regierung aber
den Frieden aus Gründen der inneren Politik gleichfalls zu erhalten wünscht,
so ward eine Verständigung mit dem Zarenreich um so mehr der gegebene Aus¬
gangspunkt für alle weiteren Maßnahmen, als England sich dem freimütiger
Entgegenkommen Bethmanns versagte. Im übrigen galt es das System der
Versicherungen und Rückversicherungen, das vorübergehend durch die englische
Einkreisungspolitik gestört worden war, wieder in Ordnung zu bringen. Die
Haltung Deutschlands im Marolkostreit hat seine Friedensliebe ebenso dargetan,
wie sie dazu führen konnte England vor aller Welt als den Friedensstörer zu
entlarven. Seine Haltung in der Tripolisfrage hat den Dreibund gefestigt und
die Türkei vor dem Untergange bewahrt; denn ohne sie wäre Rußland nicht
zur Verständigung auch mit Österreich-Ungarn gekommen und das Pulverfaß
auf dem Balkan wäre, durch nitida oder Ferdinand in Brand gesteckt, in die
Luft geflogen. Eine sinngemäße Fortbildung des Ententensystems bedeutet auch
die neueste Flottenkonvention Frankreichs mit Rußland, von deren Tragweite
noch gar nicht ausgemacht ist, daß sie sich gegen Deutschland richten muß. Jeden¬
falls sollte die französische Regierung nun endlich davon überzeugt sein, daß
die deutsche Marokkopolitik von ihren ersten Anfängen an ohne Hinter¬
gedanken betrieben wurde. Der wirkliche Gegner unseres gallischen Nachbarn
ist stets das in seiner Herrschaft am Mittelmeer beeinträchtigte England gewesen.
Die neuerlichen Schwierigkeiten mit Spanien sind nur erklärlich durch das
Intrigenspiel der englischen Diplomatie. So wird denn wohl die Zeit einmal
kommen, wo man auch in Frankreich die Wahrheit der Worte Kiderlens erkennen
wird, die dieser zu Kissingen an den Vertreter des Figaro gerichtet hat: "Das
schmollende Frankreich bedeutet eine ständige Kriegsgefahr." Das mag für ein
seiner westlichen Nachbarn unsicheres Rußland eine ganz willkommene Erscheinung
sein, nicht aber sür ein Rußland, daß sich mit Österreich-Ungarn und Deutsch¬
land verständigt hat und den Frieden auf dem Kontinent benötigt, um seine
Pläne in Asien ungestört durchführen zu können.

So dürfen wir mit dem Ergebnis der dreijährigen Kanzlerschaft Bethmanns
wenigstens auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zufrieden sein. Durch die
Verständigung der drei Kaiserstaaten ist eine neue starke Grundlage geschaffen
worden, von der aus die Einzelfragen der Wellpolitik, die meist Wirtschafts¬
fragen sind, erörtert werden können, ohne gleich wie im vergangenen Jahr den
Weltfrieden zu bedrohen. Eine gewisse Feuerprobe hat die neue Ordnung der
Dinge bereits überstanden, indem der türkisch-montenegrische Grenzstreit, der
kürzlich auftauchte, in wenigen Tagen ohne Schwierigkeiten beigelegt werden


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einzelnen glücklich gewesen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung je nach dem
Parteistandpunkte verschieden ausfallen wird.

Im Kurs des Reichsschiffes in der auswärtigen Politik des fünften
Kanzlers erkennen wir ohne Zweifel den festen Willen, den Weltfrieden zu
erhalten, ohne Deutschland in seiner Entwicklung behindern zu lassen. Da diese
Entwicklung nirgends mit der Rußlands kollidiert, die russische Regierung aber
den Frieden aus Gründen der inneren Politik gleichfalls zu erhalten wünscht,
so ward eine Verständigung mit dem Zarenreich um so mehr der gegebene Aus¬
gangspunkt für alle weiteren Maßnahmen, als England sich dem freimütiger
Entgegenkommen Bethmanns versagte. Im übrigen galt es das System der
Versicherungen und Rückversicherungen, das vorübergehend durch die englische
Einkreisungspolitik gestört worden war, wieder in Ordnung zu bringen. Die
Haltung Deutschlands im Marolkostreit hat seine Friedensliebe ebenso dargetan,
wie sie dazu führen konnte England vor aller Welt als den Friedensstörer zu
entlarven. Seine Haltung in der Tripolisfrage hat den Dreibund gefestigt und
die Türkei vor dem Untergange bewahrt; denn ohne sie wäre Rußland nicht
zur Verständigung auch mit Österreich-Ungarn gekommen und das Pulverfaß
auf dem Balkan wäre, durch nitida oder Ferdinand in Brand gesteckt, in die
Luft geflogen. Eine sinngemäße Fortbildung des Ententensystems bedeutet auch
die neueste Flottenkonvention Frankreichs mit Rußland, von deren Tragweite
noch gar nicht ausgemacht ist, daß sie sich gegen Deutschland richten muß. Jeden¬
falls sollte die französische Regierung nun endlich davon überzeugt sein, daß
die deutsche Marokkopolitik von ihren ersten Anfängen an ohne Hinter¬
gedanken betrieben wurde. Der wirkliche Gegner unseres gallischen Nachbarn
ist stets das in seiner Herrschaft am Mittelmeer beeinträchtigte England gewesen.
Die neuerlichen Schwierigkeiten mit Spanien sind nur erklärlich durch das
Intrigenspiel der englischen Diplomatie. So wird denn wohl die Zeit einmal
kommen, wo man auch in Frankreich die Wahrheit der Worte Kiderlens erkennen
wird, die dieser zu Kissingen an den Vertreter des Figaro gerichtet hat: „Das
schmollende Frankreich bedeutet eine ständige Kriegsgefahr." Das mag für ein
seiner westlichen Nachbarn unsicheres Rußland eine ganz willkommene Erscheinung
sein, nicht aber sür ein Rußland, daß sich mit Österreich-Ungarn und Deutsch¬
land verständigt hat und den Frieden auf dem Kontinent benötigt, um seine
Pläne in Asien ungestört durchführen zu können.

So dürfen wir mit dem Ergebnis der dreijährigen Kanzlerschaft Bethmanns
wenigstens auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zufrieden sein. Durch die
Verständigung der drei Kaiserstaaten ist eine neue starke Grundlage geschaffen
worden, von der aus die Einzelfragen der Wellpolitik, die meist Wirtschafts¬
fragen sind, erörtert werden können, ohne gleich wie im vergangenen Jahr den
Weltfrieden zu bedrohen. Eine gewisse Feuerprobe hat die neue Ordnung der
Dinge bereits überstanden, indem der türkisch-montenegrische Grenzstreit, der
kürzlich auftauchte, in wenigen Tagen ohne Schwierigkeiten beigelegt werden


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[0348] Reichsspiegel einzelnen glücklich gewesen ist, ist eine Frage, deren Beantwortung je nach dem Parteistandpunkte verschieden ausfallen wird. Im Kurs des Reichsschiffes in der auswärtigen Politik des fünften Kanzlers erkennen wir ohne Zweifel den festen Willen, den Weltfrieden zu erhalten, ohne Deutschland in seiner Entwicklung behindern zu lassen. Da diese Entwicklung nirgends mit der Rußlands kollidiert, die russische Regierung aber den Frieden aus Gründen der inneren Politik gleichfalls zu erhalten wünscht, so ward eine Verständigung mit dem Zarenreich um so mehr der gegebene Aus¬ gangspunkt für alle weiteren Maßnahmen, als England sich dem freimütiger Entgegenkommen Bethmanns versagte. Im übrigen galt es das System der Versicherungen und Rückversicherungen, das vorübergehend durch die englische Einkreisungspolitik gestört worden war, wieder in Ordnung zu bringen. Die Haltung Deutschlands im Marolkostreit hat seine Friedensliebe ebenso dargetan, wie sie dazu führen konnte England vor aller Welt als den Friedensstörer zu entlarven. Seine Haltung in der Tripolisfrage hat den Dreibund gefestigt und die Türkei vor dem Untergange bewahrt; denn ohne sie wäre Rußland nicht zur Verständigung auch mit Österreich-Ungarn gekommen und das Pulverfaß auf dem Balkan wäre, durch nitida oder Ferdinand in Brand gesteckt, in die Luft geflogen. Eine sinngemäße Fortbildung des Ententensystems bedeutet auch die neueste Flottenkonvention Frankreichs mit Rußland, von deren Tragweite noch gar nicht ausgemacht ist, daß sie sich gegen Deutschland richten muß. Jeden¬ falls sollte die französische Regierung nun endlich davon überzeugt sein, daß die deutsche Marokkopolitik von ihren ersten Anfängen an ohne Hinter¬ gedanken betrieben wurde. Der wirkliche Gegner unseres gallischen Nachbarn ist stets das in seiner Herrschaft am Mittelmeer beeinträchtigte England gewesen. Die neuerlichen Schwierigkeiten mit Spanien sind nur erklärlich durch das Intrigenspiel der englischen Diplomatie. So wird denn wohl die Zeit einmal kommen, wo man auch in Frankreich die Wahrheit der Worte Kiderlens erkennen wird, die dieser zu Kissingen an den Vertreter des Figaro gerichtet hat: „Das schmollende Frankreich bedeutet eine ständige Kriegsgefahr." Das mag für ein seiner westlichen Nachbarn unsicheres Rußland eine ganz willkommene Erscheinung sein, nicht aber sür ein Rußland, daß sich mit Österreich-Ungarn und Deutsch¬ land verständigt hat und den Frieden auf dem Kontinent benötigt, um seine Pläne in Asien ungestört durchführen zu können. So dürfen wir mit dem Ergebnis der dreijährigen Kanzlerschaft Bethmanns wenigstens auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zufrieden sein. Durch die Verständigung der drei Kaiserstaaten ist eine neue starke Grundlage geschaffen worden, von der aus die Einzelfragen der Wellpolitik, die meist Wirtschafts¬ fragen sind, erörtert werden können, ohne gleich wie im vergangenen Jahr den Weltfrieden zu bedrohen. Eine gewisse Feuerprobe hat die neue Ordnung der Dinge bereits überstanden, indem der türkisch-montenegrische Grenzstreit, der kürzlich auftauchte, in wenigen Tagen ohne Schwierigkeiten beigelegt werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/348>, abgerufen am 22.07.2024.