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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Welt als Asien und Europa

all unsere Urteile über den "Asiaten" aus einer beschränkten, europazentrischen
Weltanschauung hervorgegangen sind, und daß unsere Werte, weit entfernt,
allgemein menschliche Werte, also Werte schlechtweg zu sein, vielmehr einseitig
europäische Werte sind.

Ist nicht die Moral, die Nietzsche bekämpft, ebenso wie die Antimoral,
für die er streitet, etwas Europäisches? Steht es nicht ebenso mit dem lieben
Gott und mit dem, was wir "Natur" nennen und mit dem mechanischen
Kosmos der Atheisten? Europäisch ist die Überschätzung und Vorherrschaft der
Arbeit in unserem Leben, europäisch ist die Unfähigkeit zur Muße, die doch erst
die Frucht unseres Schaffens und Strebens wäre. Europäisch ist, wie gesagt,
die "Dame", europäisch bis zur Karikatur der "Gentleman" samt seinem über¬
spannten Begriff von Ehre, den auch schon Schopenhauer so bissig verspottet
hat. Europäisch ist die Kunst, wie wir sie auffassen und betreiben, mit ihren
Stilen und Problemen, mit Schulen und Cliquen, mit Publikum und Kritik;
europäisch ist der Bohömien und der Schöngeist und der Ästhet, ja europäisch,
einseitig europäisch ist wahrscheinlich das "Genie". Daß die polyphone Musik
eine europäische Erfindung der letzten Jahrhunderte ist, gehört ja zu den
bekannteren Unbegreiflichkeiten, auch wohl, daß ihre Grundlage, Dur- und Moll¬
tonleiter, keineswegs die einzigen oder die natürlichen Tonleitern sind, wofür
wir sie durch Gewohnheit halten. Ein Konzert ist etwas für den Nichteuropäer
wahrscheinlich lächerlich Europäisches, das Theater seltsamerweise nicht. Zolas
Realismus und Dostojewskys Seelenanalvsen wird nur der Europäer als Poesie
begreifen. Und was ein Feuilleton oder gar ein Feuilletonist bedeutet, dürfte
einem Nichteuropäer schwer klarzumachen sein. Aber sogar die Wissenschaft, so
wie wir sie betreiben, ist kaum etwas allgemein Menschliches, ist nicht die
Wahrheit schlechtweg, sondern eine einseitig bedingte, historisch entstandene, auf
gewisse Menschen zugeschnittene, nämlich europäische Konvention. Der Drang
nach Wahrheit gilt uns ja als höchstes Gesetz. Aber nicht umsonst hat Nietzsche
die tollkühne Frage aufgeworfen, woher die Sittlichkeit der Wahrheit komme,
und ob nicht die Unwahrheit, mindestens die Illusion wertvoller sein könne,
und hat gezeigt, daß in unserer unbedingten Ehrfurcht vor der Wahrheit die
christlich-europäische Moralität stecke. Wir Europäer haben unsere eigenen
Methoden der Forschung, die (sozusagen) statistische in den philologisch'historischen
Wissenschaften und das Experiment in den Naturwissenschaften. Das kritische
Sammeln und Vergleichen, wie wir es organisiert haben, hebt uns an Fülle
und Exaktheit der Ergebnisse über alle früheren und außereuropäischen Versuche
weit hinaus und überschüttet uns mit einer unübersehbaren Menge gewußter
Tatsachen, die wir fast nicht mehr bewältigen können. Das Experiment ist
unsere glücklichste Erfindung; sie eigentlich hat die Naturkräfte in unsere Hand
gegeben, ihr vor allem verdanken wir die Macht, mit der wir heute die Vor¬
herrschaft auf der Erde ausüben. Aber erfolgreich oder nicht: unsere Mittel
sind einseitig; sie machen uns zu Spezialisten, und wer weiß, ob nicht eine


Die Welt als Asien und Europa

all unsere Urteile über den „Asiaten" aus einer beschränkten, europazentrischen
Weltanschauung hervorgegangen sind, und daß unsere Werte, weit entfernt,
allgemein menschliche Werte, also Werte schlechtweg zu sein, vielmehr einseitig
europäische Werte sind.

Ist nicht die Moral, die Nietzsche bekämpft, ebenso wie die Antimoral,
für die er streitet, etwas Europäisches? Steht es nicht ebenso mit dem lieben
Gott und mit dem, was wir „Natur" nennen und mit dem mechanischen
Kosmos der Atheisten? Europäisch ist die Überschätzung und Vorherrschaft der
Arbeit in unserem Leben, europäisch ist die Unfähigkeit zur Muße, die doch erst
die Frucht unseres Schaffens und Strebens wäre. Europäisch ist, wie gesagt,
die „Dame", europäisch bis zur Karikatur der „Gentleman" samt seinem über¬
spannten Begriff von Ehre, den auch schon Schopenhauer so bissig verspottet
hat. Europäisch ist die Kunst, wie wir sie auffassen und betreiben, mit ihren
Stilen und Problemen, mit Schulen und Cliquen, mit Publikum und Kritik;
europäisch ist der Bohömien und der Schöngeist und der Ästhet, ja europäisch,
einseitig europäisch ist wahrscheinlich das „Genie". Daß die polyphone Musik
eine europäische Erfindung der letzten Jahrhunderte ist, gehört ja zu den
bekannteren Unbegreiflichkeiten, auch wohl, daß ihre Grundlage, Dur- und Moll¬
tonleiter, keineswegs die einzigen oder die natürlichen Tonleitern sind, wofür
wir sie durch Gewohnheit halten. Ein Konzert ist etwas für den Nichteuropäer
wahrscheinlich lächerlich Europäisches, das Theater seltsamerweise nicht. Zolas
Realismus und Dostojewskys Seelenanalvsen wird nur der Europäer als Poesie
begreifen. Und was ein Feuilleton oder gar ein Feuilletonist bedeutet, dürfte
einem Nichteuropäer schwer klarzumachen sein. Aber sogar die Wissenschaft, so
wie wir sie betreiben, ist kaum etwas allgemein Menschliches, ist nicht die
Wahrheit schlechtweg, sondern eine einseitig bedingte, historisch entstandene, auf
gewisse Menschen zugeschnittene, nämlich europäische Konvention. Der Drang
nach Wahrheit gilt uns ja als höchstes Gesetz. Aber nicht umsonst hat Nietzsche
die tollkühne Frage aufgeworfen, woher die Sittlichkeit der Wahrheit komme,
und ob nicht die Unwahrheit, mindestens die Illusion wertvoller sein könne,
und hat gezeigt, daß in unserer unbedingten Ehrfurcht vor der Wahrheit die
christlich-europäische Moralität stecke. Wir Europäer haben unsere eigenen
Methoden der Forschung, die (sozusagen) statistische in den philologisch'historischen
Wissenschaften und das Experiment in den Naturwissenschaften. Das kritische
Sammeln und Vergleichen, wie wir es organisiert haben, hebt uns an Fülle
und Exaktheit der Ergebnisse über alle früheren und außereuropäischen Versuche
weit hinaus und überschüttet uns mit einer unübersehbaren Menge gewußter
Tatsachen, die wir fast nicht mehr bewältigen können. Das Experiment ist
unsere glücklichste Erfindung; sie eigentlich hat die Naturkräfte in unsere Hand
gegeben, ihr vor allem verdanken wir die Macht, mit der wir heute die Vor¬
herrschaft auf der Erde ausüben. Aber erfolgreich oder nicht: unsere Mittel
sind einseitig; sie machen uns zu Spezialisten, und wer weiß, ob nicht eine


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[0272] Die Welt als Asien und Europa all unsere Urteile über den „Asiaten" aus einer beschränkten, europazentrischen Weltanschauung hervorgegangen sind, und daß unsere Werte, weit entfernt, allgemein menschliche Werte, also Werte schlechtweg zu sein, vielmehr einseitig europäische Werte sind. Ist nicht die Moral, die Nietzsche bekämpft, ebenso wie die Antimoral, für die er streitet, etwas Europäisches? Steht es nicht ebenso mit dem lieben Gott und mit dem, was wir „Natur" nennen und mit dem mechanischen Kosmos der Atheisten? Europäisch ist die Überschätzung und Vorherrschaft der Arbeit in unserem Leben, europäisch ist die Unfähigkeit zur Muße, die doch erst die Frucht unseres Schaffens und Strebens wäre. Europäisch ist, wie gesagt, die „Dame", europäisch bis zur Karikatur der „Gentleman" samt seinem über¬ spannten Begriff von Ehre, den auch schon Schopenhauer so bissig verspottet hat. Europäisch ist die Kunst, wie wir sie auffassen und betreiben, mit ihren Stilen und Problemen, mit Schulen und Cliquen, mit Publikum und Kritik; europäisch ist der Bohömien und der Schöngeist und der Ästhet, ja europäisch, einseitig europäisch ist wahrscheinlich das „Genie". Daß die polyphone Musik eine europäische Erfindung der letzten Jahrhunderte ist, gehört ja zu den bekannteren Unbegreiflichkeiten, auch wohl, daß ihre Grundlage, Dur- und Moll¬ tonleiter, keineswegs die einzigen oder die natürlichen Tonleitern sind, wofür wir sie durch Gewohnheit halten. Ein Konzert ist etwas für den Nichteuropäer wahrscheinlich lächerlich Europäisches, das Theater seltsamerweise nicht. Zolas Realismus und Dostojewskys Seelenanalvsen wird nur der Europäer als Poesie begreifen. Und was ein Feuilleton oder gar ein Feuilletonist bedeutet, dürfte einem Nichteuropäer schwer klarzumachen sein. Aber sogar die Wissenschaft, so wie wir sie betreiben, ist kaum etwas allgemein Menschliches, ist nicht die Wahrheit schlechtweg, sondern eine einseitig bedingte, historisch entstandene, auf gewisse Menschen zugeschnittene, nämlich europäische Konvention. Der Drang nach Wahrheit gilt uns ja als höchstes Gesetz. Aber nicht umsonst hat Nietzsche die tollkühne Frage aufgeworfen, woher die Sittlichkeit der Wahrheit komme, und ob nicht die Unwahrheit, mindestens die Illusion wertvoller sein könne, und hat gezeigt, daß in unserer unbedingten Ehrfurcht vor der Wahrheit die christlich-europäische Moralität stecke. Wir Europäer haben unsere eigenen Methoden der Forschung, die (sozusagen) statistische in den philologisch'historischen Wissenschaften und das Experiment in den Naturwissenschaften. Das kritische Sammeln und Vergleichen, wie wir es organisiert haben, hebt uns an Fülle und Exaktheit der Ergebnisse über alle früheren und außereuropäischen Versuche weit hinaus und überschüttet uns mit einer unübersehbaren Menge gewußter Tatsachen, die wir fast nicht mehr bewältigen können. Das Experiment ist unsere glücklichste Erfindung; sie eigentlich hat die Naturkräfte in unsere Hand gegeben, ihr vor allem verdanken wir die Macht, mit der wir heute die Vor¬ herrschaft auf der Erde ausüben. Aber erfolgreich oder nicht: unsere Mittel sind einseitig; sie machen uns zu Spezialisten, und wer weiß, ob nicht eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/272>, abgerufen am 03.07.2024.