Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die lockt als Asien und Lnropcr

nach entwicklungsgeschichtlichen und anatomisch-physiologischen Merkmalen. Es
ist die Lehre Darwins, die hier für die Erkenntnis des Menschen fruchtbar
gemacht worden ist.

Dieser Versuch wurde ohne Zweifel mit Fug und Recht unternommen.
Indessen soviel Darwinismus und Entwicklungsgeschichte auch geleistet haben,
diese Lehre haftet schließlich am Leiblichen; die "Menschheit" aber ist in min¬
destens gleichem Matze auch ein geistiges Phänomen, und zu dessen Begreifen
reicht die Naturwissenschaft nun einmal nicht aus.

Machen wir uns also von dieser Einseitigkeit los und überblicken nun die
ganze uns geschichtlich bekannte Menschheit, so ergibt sich uns als naheliegendes
Einteilungsprinzip die Kulturgemeinschaft. Die "Weltgeschichte", wie wir über¬
treibend sagen, zeigt uns, datz bald hier, bald da sich auf der Erde Kultur¬
zentren bilden, Höhepunkte der Entwicklung, Komplexe, in denen sich das ab¬
spielt, was wir eigentlich Geschichte nennen. Und diese Führerrolle wechselt
unter den Nationen, sie geht nach längerer oder kürzerer Dauer von einer
Völkergruppe auf die andere, von einem Länderkreis auf den anderen über; der
Schwerpunkt der Menschheit wandert.

Die älteste uns genauer bekannte Kulturgemeinschaft ist die in den Euphrat-
ländern angesiedelte, deren Träger die Babylonier und Assyrer, später die
Meder und Perser sind, und die jüngere, in mancher Hinsicht ähnliche der
Ägypter. Beide getrennte und in sich abgeschlossene Kulturzentren stehen in
lebhafter teils freundlicher, teils feindlicher Wechselbeziehung zueinander. Beide
stellen einen bedeutenden Höhepunkt dar, vielleicht das höchste Niveau, das vor
der Gegenwart erreicht worden ist.

Die nächste große Kulturgemeinschaft, welche die alte ablöst und nun
ihrerseits die Weltgeschichte repräsentiert, ist die der Mittelmeerländer, an der
wieder verschiedene Nationen neben- und nacheinander und mit verschiedenen
Leiswngen teilnehmen: bis endlich das römische Imperium die Glieder auch zu"
politischen Einheit zusammenschließt und die kulturellen Hauptströmungen, die
jüdische, griechische, römische, zu einem einzigen Strome vereinigt.

Eine Kulturgemeinschaft nach Art der angedeuteten Beispiele ist nun offenbar
das, was wir heute Europa nennen. Die Europäer empfinden sich selbst naiv
als "Menschheit" schlechtweg. Sie nennen Weltgeschichte die von Europa aus
gesehene Geschichte. Sie zweifeln nicht, daß wenn etwa Bewohner des Mars
auf die Erde kämen -- wie es in dem phantastischen Roman von Kurt Laßwitz
angenommen wird -- die Martier mit Europäern in Verbindung treten müßten,
um den "Menschen" kennen zu lernen.

Ob dieser Standpunkt berechtigt ist, wird später zu erörtern sein. Zunächst
fragen wir: Welches sind die Gemeinsamkeiten, auf Grund deren wir uns als
Einheit und im Gegensatz zu den übrigen Bewohnern der Erde fühlen?

Die naheliegende Antwort: diese Gemeinsamkeit ist unsere Überlegenheit,
wäre eine oberflächliche Antwort. Wir sind freilich heute die überlegenen,


Die lockt als Asien und Lnropcr

nach entwicklungsgeschichtlichen und anatomisch-physiologischen Merkmalen. Es
ist die Lehre Darwins, die hier für die Erkenntnis des Menschen fruchtbar
gemacht worden ist.

Dieser Versuch wurde ohne Zweifel mit Fug und Recht unternommen.
Indessen soviel Darwinismus und Entwicklungsgeschichte auch geleistet haben,
diese Lehre haftet schließlich am Leiblichen; die „Menschheit" aber ist in min¬
destens gleichem Matze auch ein geistiges Phänomen, und zu dessen Begreifen
reicht die Naturwissenschaft nun einmal nicht aus.

Machen wir uns also von dieser Einseitigkeit los und überblicken nun die
ganze uns geschichtlich bekannte Menschheit, so ergibt sich uns als naheliegendes
Einteilungsprinzip die Kulturgemeinschaft. Die „Weltgeschichte", wie wir über¬
treibend sagen, zeigt uns, datz bald hier, bald da sich auf der Erde Kultur¬
zentren bilden, Höhepunkte der Entwicklung, Komplexe, in denen sich das ab¬
spielt, was wir eigentlich Geschichte nennen. Und diese Führerrolle wechselt
unter den Nationen, sie geht nach längerer oder kürzerer Dauer von einer
Völkergruppe auf die andere, von einem Länderkreis auf den anderen über; der
Schwerpunkt der Menschheit wandert.

Die älteste uns genauer bekannte Kulturgemeinschaft ist die in den Euphrat-
ländern angesiedelte, deren Träger die Babylonier und Assyrer, später die
Meder und Perser sind, und die jüngere, in mancher Hinsicht ähnliche der
Ägypter. Beide getrennte und in sich abgeschlossene Kulturzentren stehen in
lebhafter teils freundlicher, teils feindlicher Wechselbeziehung zueinander. Beide
stellen einen bedeutenden Höhepunkt dar, vielleicht das höchste Niveau, das vor
der Gegenwart erreicht worden ist.

Die nächste große Kulturgemeinschaft, welche die alte ablöst und nun
ihrerseits die Weltgeschichte repräsentiert, ist die der Mittelmeerländer, an der
wieder verschiedene Nationen neben- und nacheinander und mit verschiedenen
Leiswngen teilnehmen: bis endlich das römische Imperium die Glieder auch zu»
politischen Einheit zusammenschließt und die kulturellen Hauptströmungen, die
jüdische, griechische, römische, zu einem einzigen Strome vereinigt.

Eine Kulturgemeinschaft nach Art der angedeuteten Beispiele ist nun offenbar
das, was wir heute Europa nennen. Die Europäer empfinden sich selbst naiv
als „Menschheit" schlechtweg. Sie nennen Weltgeschichte die von Europa aus
gesehene Geschichte. Sie zweifeln nicht, daß wenn etwa Bewohner des Mars
auf die Erde kämen — wie es in dem phantastischen Roman von Kurt Laßwitz
angenommen wird — die Martier mit Europäern in Verbindung treten müßten,
um den „Menschen" kennen zu lernen.

Ob dieser Standpunkt berechtigt ist, wird später zu erörtern sein. Zunächst
fragen wir: Welches sind die Gemeinsamkeiten, auf Grund deren wir uns als
Einheit und im Gegensatz zu den übrigen Bewohnern der Erde fühlen?

Die naheliegende Antwort: diese Gemeinsamkeit ist unsere Überlegenheit,
wäre eine oberflächliche Antwort. Wir sind freilich heute die überlegenen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0266" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322013"/>
          <fw type="header" place="top"> Die lockt als Asien und Lnropcr</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1076" prev="#ID_1075"> nach entwicklungsgeschichtlichen und anatomisch-physiologischen Merkmalen. Es<lb/>
ist die Lehre Darwins, die hier für die Erkenntnis des Menschen fruchtbar<lb/>
gemacht worden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1077"> Dieser Versuch wurde ohne Zweifel mit Fug und Recht unternommen.<lb/>
Indessen soviel Darwinismus und Entwicklungsgeschichte auch geleistet haben,<lb/>
diese Lehre haftet schließlich am Leiblichen; die &#x201E;Menschheit" aber ist in min¬<lb/>
destens gleichem Matze auch ein geistiges Phänomen, und zu dessen Begreifen<lb/>
reicht die Naturwissenschaft nun einmal nicht aus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1078"> Machen wir uns also von dieser Einseitigkeit los und überblicken nun die<lb/>
ganze uns geschichtlich bekannte Menschheit, so ergibt sich uns als naheliegendes<lb/>
Einteilungsprinzip die Kulturgemeinschaft. Die &#x201E;Weltgeschichte", wie wir über¬<lb/>
treibend sagen, zeigt uns, datz bald hier, bald da sich auf der Erde Kultur¬<lb/>
zentren bilden, Höhepunkte der Entwicklung, Komplexe, in denen sich das ab¬<lb/>
spielt, was wir eigentlich Geschichte nennen. Und diese Führerrolle wechselt<lb/>
unter den Nationen, sie geht nach längerer oder kürzerer Dauer von einer<lb/>
Völkergruppe auf die andere, von einem Länderkreis auf den anderen über; der<lb/>
Schwerpunkt der Menschheit wandert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1079"> Die älteste uns genauer bekannte Kulturgemeinschaft ist die in den Euphrat-<lb/>
ländern angesiedelte, deren Träger die Babylonier und Assyrer, später die<lb/>
Meder und Perser sind, und die jüngere, in mancher Hinsicht ähnliche der<lb/>
Ägypter. Beide getrennte und in sich abgeschlossene Kulturzentren stehen in<lb/>
lebhafter teils freundlicher, teils feindlicher Wechselbeziehung zueinander. Beide<lb/>
stellen einen bedeutenden Höhepunkt dar, vielleicht das höchste Niveau, das vor<lb/>
der Gegenwart erreicht worden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1080"> Die nächste große Kulturgemeinschaft, welche die alte ablöst und nun<lb/>
ihrerseits die Weltgeschichte repräsentiert, ist die der Mittelmeerländer, an der<lb/>
wieder verschiedene Nationen neben- und nacheinander und mit verschiedenen<lb/>
Leiswngen teilnehmen: bis endlich das römische Imperium die Glieder auch zu»<lb/>
politischen Einheit zusammenschließt und die kulturellen Hauptströmungen, die<lb/>
jüdische, griechische, römische, zu einem einzigen Strome vereinigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1081"> Eine Kulturgemeinschaft nach Art der angedeuteten Beispiele ist nun offenbar<lb/>
das, was wir heute Europa nennen. Die Europäer empfinden sich selbst naiv<lb/>
als &#x201E;Menschheit" schlechtweg. Sie nennen Weltgeschichte die von Europa aus<lb/>
gesehene Geschichte. Sie zweifeln nicht, daß wenn etwa Bewohner des Mars<lb/>
auf die Erde kämen &#x2014; wie es in dem phantastischen Roman von Kurt Laßwitz<lb/>
angenommen wird &#x2014; die Martier mit Europäern in Verbindung treten müßten,<lb/>
um den &#x201E;Menschen" kennen zu lernen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1082"> Ob dieser Standpunkt berechtigt ist, wird später zu erörtern sein. Zunächst<lb/>
fragen wir: Welches sind die Gemeinsamkeiten, auf Grund deren wir uns als<lb/>
Einheit und im Gegensatz zu den übrigen Bewohnern der Erde fühlen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1083" next="#ID_1084"> Die naheliegende Antwort: diese Gemeinsamkeit ist unsere Überlegenheit,<lb/>
wäre eine oberflächliche Antwort.  Wir sind freilich heute die überlegenen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0266] Die lockt als Asien und Lnropcr nach entwicklungsgeschichtlichen und anatomisch-physiologischen Merkmalen. Es ist die Lehre Darwins, die hier für die Erkenntnis des Menschen fruchtbar gemacht worden ist. Dieser Versuch wurde ohne Zweifel mit Fug und Recht unternommen. Indessen soviel Darwinismus und Entwicklungsgeschichte auch geleistet haben, diese Lehre haftet schließlich am Leiblichen; die „Menschheit" aber ist in min¬ destens gleichem Matze auch ein geistiges Phänomen, und zu dessen Begreifen reicht die Naturwissenschaft nun einmal nicht aus. Machen wir uns also von dieser Einseitigkeit los und überblicken nun die ganze uns geschichtlich bekannte Menschheit, so ergibt sich uns als naheliegendes Einteilungsprinzip die Kulturgemeinschaft. Die „Weltgeschichte", wie wir über¬ treibend sagen, zeigt uns, datz bald hier, bald da sich auf der Erde Kultur¬ zentren bilden, Höhepunkte der Entwicklung, Komplexe, in denen sich das ab¬ spielt, was wir eigentlich Geschichte nennen. Und diese Führerrolle wechselt unter den Nationen, sie geht nach längerer oder kürzerer Dauer von einer Völkergruppe auf die andere, von einem Länderkreis auf den anderen über; der Schwerpunkt der Menschheit wandert. Die älteste uns genauer bekannte Kulturgemeinschaft ist die in den Euphrat- ländern angesiedelte, deren Träger die Babylonier und Assyrer, später die Meder und Perser sind, und die jüngere, in mancher Hinsicht ähnliche der Ägypter. Beide getrennte und in sich abgeschlossene Kulturzentren stehen in lebhafter teils freundlicher, teils feindlicher Wechselbeziehung zueinander. Beide stellen einen bedeutenden Höhepunkt dar, vielleicht das höchste Niveau, das vor der Gegenwart erreicht worden ist. Die nächste große Kulturgemeinschaft, welche die alte ablöst und nun ihrerseits die Weltgeschichte repräsentiert, ist die der Mittelmeerländer, an der wieder verschiedene Nationen neben- und nacheinander und mit verschiedenen Leiswngen teilnehmen: bis endlich das römische Imperium die Glieder auch zu» politischen Einheit zusammenschließt und die kulturellen Hauptströmungen, die jüdische, griechische, römische, zu einem einzigen Strome vereinigt. Eine Kulturgemeinschaft nach Art der angedeuteten Beispiele ist nun offenbar das, was wir heute Europa nennen. Die Europäer empfinden sich selbst naiv als „Menschheit" schlechtweg. Sie nennen Weltgeschichte die von Europa aus gesehene Geschichte. Sie zweifeln nicht, daß wenn etwa Bewohner des Mars auf die Erde kämen — wie es in dem phantastischen Roman von Kurt Laßwitz angenommen wird — die Martier mit Europäern in Verbindung treten müßten, um den „Menschen" kennen zu lernen. Ob dieser Standpunkt berechtigt ist, wird später zu erörtern sein. Zunächst fragen wir: Welches sind die Gemeinsamkeiten, auf Grund deren wir uns als Einheit und im Gegensatz zu den übrigen Bewohnern der Erde fühlen? Die naheliegende Antwort: diese Gemeinsamkeit ist unsere Überlegenheit, wäre eine oberflächliche Antwort. Wir sind freilich heute die überlegenen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/266
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/266>, abgerufen am 22.07.2024.