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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Sinnsxruch

über ihrem Nähen gewesen, fühlte sich körpermatt und wollte sich nun auf¬
muntern, um dem Burschen gefällig und lieb zu sein. So sagte sie mit neckender
Absicht, aber ein unterdrücktes Gähnen machte die Worte im Tonfall wie zum
Vorwurf: "Gehst am End' selber zur Kirmes hin, und hast dir den Tanz
abgesprochen mit der Regime?"

Er fühlte, wie sie seinen Rock abstaubte, die Schwäche ihrer Bewegung
und die Mattigkeit ihres Wesens. Es reizte ihn, daß sie kleinlich erschien und
den Namen Regimes ihm von neuem nannte, den er selbst nicht mehr zu
nennen und abzutun ihr versprochen hatte, so ergriff er unzart ihren Arm und
sagte mit eigentümlich drohender Stimme: "Hin geh' ich am Ende schon, aber
mit dir, ich will dich mit roten Backen sehen, und du sollst einmal tanzen."

Wieschen zuckte jäh mit der Hand von ihm zurück, und er lachte und
fragte unsacht: "Was hast du?"

Sie hatte nichts, nur eine kleine feine Tannennadel war ihr in den Finger
gefahren, sie zog sie mit den Zähnen heraus, saugte das Blut aus der
unbedeutenden Wunde und sagte nebenher: "Wenn du willst, gehen wir, Florin,
aber sonst ums Leben nicht."

Warum sie nicht möge, fragte er freundlicher.

"Bist selber früher nicht anders gewesen," antwortete sie. "Aber geschmeckt
hat dir einmal das Trinken, seit du es probiert hast, und nicht wieder anfangen
sollst du damit."

Er ginge auch nicht ums Trinken, erwiderte er so groß und ehrlich, als
höre man, wie er ein volles Glas von sich abschöbe.
"Wo um denn?" fragte das Wieschen.

Da wurde er heimlich und zart mit ihr, aber so, daß sie neu an zu zittern
fing und von ihm wegstrebte, doch er war stärker als sie und ihrem Ohr ganz
nah, wie er ihr hinein sagte: "Mit dir zeigen will ich mich. Und die Regime
soll uns nachsehen, wenn wir weggehen des Nachts."

"Nachts -- ?" fragte das Wieschen. (Fortsetzung folgt)




Sinnspruch
Die Kunst ist der Weg nach Golgatha;
eins aber will mir das Herz bedrängen:
daß sie auch heute, wie's einst geschah,
Verbrecher neben den Heiland hängen.

Lrnst Ludwig Schellenberg
Grenzboten III 1912 29
Sinnsxruch

über ihrem Nähen gewesen, fühlte sich körpermatt und wollte sich nun auf¬
muntern, um dem Burschen gefällig und lieb zu sein. So sagte sie mit neckender
Absicht, aber ein unterdrücktes Gähnen machte die Worte im Tonfall wie zum
Vorwurf: „Gehst am End' selber zur Kirmes hin, und hast dir den Tanz
abgesprochen mit der Regime?"

Er fühlte, wie sie seinen Rock abstaubte, die Schwäche ihrer Bewegung
und die Mattigkeit ihres Wesens. Es reizte ihn, daß sie kleinlich erschien und
den Namen Regimes ihm von neuem nannte, den er selbst nicht mehr zu
nennen und abzutun ihr versprochen hatte, so ergriff er unzart ihren Arm und
sagte mit eigentümlich drohender Stimme: „Hin geh' ich am Ende schon, aber
mit dir, ich will dich mit roten Backen sehen, und du sollst einmal tanzen."

Wieschen zuckte jäh mit der Hand von ihm zurück, und er lachte und
fragte unsacht: „Was hast du?"

Sie hatte nichts, nur eine kleine feine Tannennadel war ihr in den Finger
gefahren, sie zog sie mit den Zähnen heraus, saugte das Blut aus der
unbedeutenden Wunde und sagte nebenher: „Wenn du willst, gehen wir, Florin,
aber sonst ums Leben nicht."

Warum sie nicht möge, fragte er freundlicher.

„Bist selber früher nicht anders gewesen," antwortete sie. „Aber geschmeckt
hat dir einmal das Trinken, seit du es probiert hast, und nicht wieder anfangen
sollst du damit."

Er ginge auch nicht ums Trinken, erwiderte er so groß und ehrlich, als
höre man, wie er ein volles Glas von sich abschöbe.
„Wo um denn?" fragte das Wieschen.

Da wurde er heimlich und zart mit ihr, aber so, daß sie neu an zu zittern
fing und von ihm wegstrebte, doch er war stärker als sie und ihrem Ohr ganz
nah, wie er ihr hinein sagte: „Mit dir zeigen will ich mich. Und die Regime
soll uns nachsehen, wenn wir weggehen des Nachts."

„Nachts — ?" fragte das Wieschen. (Fortsetzung folgt)




Sinnspruch
Die Kunst ist der Weg nach Golgatha;
eins aber will mir das Herz bedrängen:
daß sie auch heute, wie's einst geschah,
Verbrecher neben den Heiland hängen.

Lrnst Ludwig Schellenberg
Grenzboten III 1912 29
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[0237] Sinnsxruch über ihrem Nähen gewesen, fühlte sich körpermatt und wollte sich nun auf¬ muntern, um dem Burschen gefällig und lieb zu sein. So sagte sie mit neckender Absicht, aber ein unterdrücktes Gähnen machte die Worte im Tonfall wie zum Vorwurf: „Gehst am End' selber zur Kirmes hin, und hast dir den Tanz abgesprochen mit der Regime?" Er fühlte, wie sie seinen Rock abstaubte, die Schwäche ihrer Bewegung und die Mattigkeit ihres Wesens. Es reizte ihn, daß sie kleinlich erschien und den Namen Regimes ihm von neuem nannte, den er selbst nicht mehr zu nennen und abzutun ihr versprochen hatte, so ergriff er unzart ihren Arm und sagte mit eigentümlich drohender Stimme: „Hin geh' ich am Ende schon, aber mit dir, ich will dich mit roten Backen sehen, und du sollst einmal tanzen." Wieschen zuckte jäh mit der Hand von ihm zurück, und er lachte und fragte unsacht: „Was hast du?" Sie hatte nichts, nur eine kleine feine Tannennadel war ihr in den Finger gefahren, sie zog sie mit den Zähnen heraus, saugte das Blut aus der unbedeutenden Wunde und sagte nebenher: „Wenn du willst, gehen wir, Florin, aber sonst ums Leben nicht." Warum sie nicht möge, fragte er freundlicher. „Bist selber früher nicht anders gewesen," antwortete sie. „Aber geschmeckt hat dir einmal das Trinken, seit du es probiert hast, und nicht wieder anfangen sollst du damit." Er ginge auch nicht ums Trinken, erwiderte er so groß und ehrlich, als höre man, wie er ein volles Glas von sich abschöbe. „Wo um denn?" fragte das Wieschen. Da wurde er heimlich und zart mit ihr, aber so, daß sie neu an zu zittern fing und von ihm wegstrebte, doch er war stärker als sie und ihrem Ohr ganz nah, wie er ihr hinein sagte: „Mit dir zeigen will ich mich. Und die Regime soll uns nachsehen, wenn wir weggehen des Nachts." „Nachts — ?" fragte das Wieschen. (Fortsetzung folgt) Sinnspruch Die Kunst ist der Weg nach Golgatha; eins aber will mir das Herz bedrängen: daß sie auch heute, wie's einst geschah, Verbrecher neben den Heiland hängen. Lrnst Ludwig Schellenberg Grenzboten III 1912 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/237>, abgerufen am 03.07.2024.