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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Futuristen

hüpfenden Brücken über der Messerschmiede der sonndurchflimmerten Flüsse; die
abenteuerlichen Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstiger Lokomotiven,
die auf den Schienen stampfen wie riesige, mit langen Röhren gezügelte Stahl¬
rosse, und den gleitenden Flug der Aeroplcme, deren Schraube trällert wie eine
im Winde wehende Flagge, und die klatscht wie eine beifallstobende Menge."

Auf eine so blumige Ausdrucksweise müssen wir natürlich bei unseren
kunsttheoretischen Erörterungen verzichten und kurz und gerade heraus noch
einmal feststellen: die Darstellung schneller Bewegungen jeder Art ist das
künstlerische Problem, das sich die Futuristen stellen. Wenn man nun die Bilder
der Maler unter ihnen betrachtet, so muß man gestehen, daß Ansätze zur Lösung
dieses Problems darin wohl vorhanden sind. Umberto Boccioms großes Ge¬
mälde "Die erwachende Stadt" erscheint dem Blick zuerst als ein gewaltiges
Gewirre von Farben, als ein Chaos von sprühenden, blauen und roten Farb¬
tönen. Dieses Chaos ordnet sich erst nach längerer Betrachtung, vielleicht erst
mit Hilfe einer Erläuterung -- die Futuristen geben in, Katalog ihrer Aus¬
stellung allen ihren Bildern Erläuterungen bei -- zu einigermaßen sinnvollen
Einzelheiten. Da entwickelt sich in leuchtendem Not ein gewaltig gebäumter
Pferdehals, ein Kopf mit schnaubenden Nüstern, überragt von einem blauen
Kümmel, das sich hoch über der Mähne anstürmt. Solcher Pferdehäupter lassen
sich in der Umgebung noch mehr -- nicht sehen, aber ahnen. Auch der Führer
des Pferdes tritt aus dem Farbengewimmel hervor, wenn man länger zusteht,
im Hintergrunde taucht für einen Augenblick das Gelb eines Straßenbahnwagens
auf, das Ganze aber verflimmert und verflattert wieder in einem Meer von
sprühender Farbe, die schwer arbeitenden Pferde und ihre Führer, die vorüber¬
huschenden Gefährte, die Wagen, die sonnenbeschienenen Häuserfronten. Der
Maler hat auf jede Modellierung der gegenständlichen Formen verzichtet, während
die künstlerischen Lösungen des Bewegungsproblems bisher gerade die Form
zur Trägerin der Bewegung machten, die Bewegung mit Hilfe der bewegten
Form darstellten. So wird in der Kunst gemeinhin das Gegenständliche, die
Form, Ausdruck für die Bewegung. Der Futurist Boccioni verzichtet auf diese
gegenständliche Form und versucht die farbige Erscheinung, die Farbe allein,
zur Trägerin der Bewegung in seinem Bilde zu machen. Ob das möglich ist,
läßt sich durch theoretische Erwägungen allein nicht ausmachen. Die Kunsttheorie
ist sehr geneigt, das zu bezweifeln; aber sie neigt ihrer Natur nach zu Zweifel
an jedem Neuen, das sich herausbilden will, weil sie ihre Erkenntnis nur aus
den bisherigen Tatsachen der Kunstgeschichte ableitet und daher für Neues noch
kein Organ und keinen Begriff haben kann. Vor jedem Neuen aber, das durch
sein wirkliches Dasein und Aufwachsen seine Existenzberechtigung erwiesen hat.
muß jeuer Zweifel schwinden, muß die Kunsttheorie Gesetz und Formel für das
Neue zu finden suchen.

Zweifel an der Möglichkeit einer derartigen Lösung des Bewegungsproblemes
wie Boccioni in seinem Bilde sie versucht hat, dürfen uns also nicht dazu


Die Futuristen

hüpfenden Brücken über der Messerschmiede der sonndurchflimmerten Flüsse; die
abenteuerlichen Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstiger Lokomotiven,
die auf den Schienen stampfen wie riesige, mit langen Röhren gezügelte Stahl¬
rosse, und den gleitenden Flug der Aeroplcme, deren Schraube trällert wie eine
im Winde wehende Flagge, und die klatscht wie eine beifallstobende Menge."

Auf eine so blumige Ausdrucksweise müssen wir natürlich bei unseren
kunsttheoretischen Erörterungen verzichten und kurz und gerade heraus noch
einmal feststellen: die Darstellung schneller Bewegungen jeder Art ist das
künstlerische Problem, das sich die Futuristen stellen. Wenn man nun die Bilder
der Maler unter ihnen betrachtet, so muß man gestehen, daß Ansätze zur Lösung
dieses Problems darin wohl vorhanden sind. Umberto Boccioms großes Ge¬
mälde „Die erwachende Stadt" erscheint dem Blick zuerst als ein gewaltiges
Gewirre von Farben, als ein Chaos von sprühenden, blauen und roten Farb¬
tönen. Dieses Chaos ordnet sich erst nach längerer Betrachtung, vielleicht erst
mit Hilfe einer Erläuterung — die Futuristen geben in, Katalog ihrer Aus¬
stellung allen ihren Bildern Erläuterungen bei — zu einigermaßen sinnvollen
Einzelheiten. Da entwickelt sich in leuchtendem Not ein gewaltig gebäumter
Pferdehals, ein Kopf mit schnaubenden Nüstern, überragt von einem blauen
Kümmel, das sich hoch über der Mähne anstürmt. Solcher Pferdehäupter lassen
sich in der Umgebung noch mehr — nicht sehen, aber ahnen. Auch der Führer
des Pferdes tritt aus dem Farbengewimmel hervor, wenn man länger zusteht,
im Hintergrunde taucht für einen Augenblick das Gelb eines Straßenbahnwagens
auf, das Ganze aber verflimmert und verflattert wieder in einem Meer von
sprühender Farbe, die schwer arbeitenden Pferde und ihre Führer, die vorüber¬
huschenden Gefährte, die Wagen, die sonnenbeschienenen Häuserfronten. Der
Maler hat auf jede Modellierung der gegenständlichen Formen verzichtet, während
die künstlerischen Lösungen des Bewegungsproblems bisher gerade die Form
zur Trägerin der Bewegung machten, die Bewegung mit Hilfe der bewegten
Form darstellten. So wird in der Kunst gemeinhin das Gegenständliche, die
Form, Ausdruck für die Bewegung. Der Futurist Boccioni verzichtet auf diese
gegenständliche Form und versucht die farbige Erscheinung, die Farbe allein,
zur Trägerin der Bewegung in seinem Bilde zu machen. Ob das möglich ist,
läßt sich durch theoretische Erwägungen allein nicht ausmachen. Die Kunsttheorie
ist sehr geneigt, das zu bezweifeln; aber sie neigt ihrer Natur nach zu Zweifel
an jedem Neuen, das sich herausbilden will, weil sie ihre Erkenntnis nur aus
den bisherigen Tatsachen der Kunstgeschichte ableitet und daher für Neues noch
kein Organ und keinen Begriff haben kann. Vor jedem Neuen aber, das durch
sein wirkliches Dasein und Aufwachsen seine Existenzberechtigung erwiesen hat.
muß jeuer Zweifel schwinden, muß die Kunsttheorie Gesetz und Formel für das
Neue zu finden suchen.

Zweifel an der Möglichkeit einer derartigen Lösung des Bewegungsproblemes
wie Boccioni in seinem Bilde sie versucht hat, dürfen uns also nicht dazu


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[0224] Die Futuristen hüpfenden Brücken über der Messerschmiede der sonndurchflimmerten Flüsse; die abenteuerlichen Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstiger Lokomotiven, die auf den Schienen stampfen wie riesige, mit langen Röhren gezügelte Stahl¬ rosse, und den gleitenden Flug der Aeroplcme, deren Schraube trällert wie eine im Winde wehende Flagge, und die klatscht wie eine beifallstobende Menge." Auf eine so blumige Ausdrucksweise müssen wir natürlich bei unseren kunsttheoretischen Erörterungen verzichten und kurz und gerade heraus noch einmal feststellen: die Darstellung schneller Bewegungen jeder Art ist das künstlerische Problem, das sich die Futuristen stellen. Wenn man nun die Bilder der Maler unter ihnen betrachtet, so muß man gestehen, daß Ansätze zur Lösung dieses Problems darin wohl vorhanden sind. Umberto Boccioms großes Ge¬ mälde „Die erwachende Stadt" erscheint dem Blick zuerst als ein gewaltiges Gewirre von Farben, als ein Chaos von sprühenden, blauen und roten Farb¬ tönen. Dieses Chaos ordnet sich erst nach längerer Betrachtung, vielleicht erst mit Hilfe einer Erläuterung — die Futuristen geben in, Katalog ihrer Aus¬ stellung allen ihren Bildern Erläuterungen bei — zu einigermaßen sinnvollen Einzelheiten. Da entwickelt sich in leuchtendem Not ein gewaltig gebäumter Pferdehals, ein Kopf mit schnaubenden Nüstern, überragt von einem blauen Kümmel, das sich hoch über der Mähne anstürmt. Solcher Pferdehäupter lassen sich in der Umgebung noch mehr — nicht sehen, aber ahnen. Auch der Führer des Pferdes tritt aus dem Farbengewimmel hervor, wenn man länger zusteht, im Hintergrunde taucht für einen Augenblick das Gelb eines Straßenbahnwagens auf, das Ganze aber verflimmert und verflattert wieder in einem Meer von sprühender Farbe, die schwer arbeitenden Pferde und ihre Führer, die vorüber¬ huschenden Gefährte, die Wagen, die sonnenbeschienenen Häuserfronten. Der Maler hat auf jede Modellierung der gegenständlichen Formen verzichtet, während die künstlerischen Lösungen des Bewegungsproblems bisher gerade die Form zur Trägerin der Bewegung machten, die Bewegung mit Hilfe der bewegten Form darstellten. So wird in der Kunst gemeinhin das Gegenständliche, die Form, Ausdruck für die Bewegung. Der Futurist Boccioni verzichtet auf diese gegenständliche Form und versucht die farbige Erscheinung, die Farbe allein, zur Trägerin der Bewegung in seinem Bilde zu machen. Ob das möglich ist, läßt sich durch theoretische Erwägungen allein nicht ausmachen. Die Kunsttheorie ist sehr geneigt, das zu bezweifeln; aber sie neigt ihrer Natur nach zu Zweifel an jedem Neuen, das sich herausbilden will, weil sie ihre Erkenntnis nur aus den bisherigen Tatsachen der Kunstgeschichte ableitet und daher für Neues noch kein Organ und keinen Begriff haben kann. Vor jedem Neuen aber, das durch sein wirkliches Dasein und Aufwachsen seine Existenzberechtigung erwiesen hat. muß jeuer Zweifel schwinden, muß die Kunsttheorie Gesetz und Formel für das Neue zu finden suchen. Zweifel an der Möglichkeit einer derartigen Lösung des Bewegungsproblemes wie Boccioni in seinem Bilde sie versucht hat, dürfen uns also nicht dazu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/224>, abgerufen am 01.10.2024.