Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine Hochschule für großgermanische Kultur

keiner die deutsche Kultur in dem Maße befruchtet wie Shakespeare. Dürer
wird von den Angelsachsen geschätzt wie einer der ihren, und es ist auch kein
Zufall, daß der Deutsche Holbein d. I. ein halbes Menschenleben lang in
England wirkte. Von Bach und Händel, der die größte Zeit seines Lebens
jenseit des Ärmelkanals zubrachte, und der sein Grab inmitten der großen Toten
der Westminster-Abtei gefunden hat, bis zu Richard Wagener, seit Byron und
Dickens in Deutschland heimisch sind und Friedrich der Große seinen besten
Schilderer in Carlnle gefunden hat, finden die Beziehungen zu einer Kultur¬
gemeinschaft zusammen, die in ihren einzelnen Wirkungen gar nicht mehr zu
lösen sind. Der große Bahnbrecher der modernen Kunst, Gottfried Semper.
gewann die Grundlagen für seine reformierende Tätigkeit in England, während
die Angelsachsen Nuskin und Moore in steigendem Maße bei uns Verständnis
finden. Ganz folgerichtig und aus dem innersten Wesen germanischen Lebens
geflossen, dringt die englische Wohnkultur zu uns herüber und verdrängt die
letzten Erinnerungen fränkischer Herkunft.

Der Schweizer Gottfried Keller gehört allen deutsch sprechenden Völkern,
während die tiefe Gedankenwelt eines Emerson die spitzfindige Logik eines
Voltaire längst aus dem Sattel gehoben hat. Kants Philosophie und Schillers
Idealismus haben Pate gestanden bei allem Guten und Schönen, was germanischer
Geist seit einem Jahrhundert geboren hat. Und blicken wir nach Norden, wo
altgermanischer Skaldengeist niemals aus seiner Bahn gewichen ist, da weht uns
eine Stimmung entgegen, die eine stärkere Spur durch unsere Literatur gezogen
hat als jemals eine andere. Der Schwede Oskar Montelius ist es, der in die
tiefsten Schächte der germanischen Vergangenheit hinabgestiegen ist und ungeahnte
Ausblicke auf den Einfluß dieser Zeit, selbst auf die antike Kultur eröffnet hat.
Ein befreiender Luftzug weht seitdem durch die Wissenschaft, der immer kräftiger
auf die Erkenntnis drängt, daß unsere Vorfahren vor mehr als zwei Jahr¬
tausenden keineswegs rohe Barbaren, sondern im besten Sinne des Wortes
Kulturträger waren, deren künstlerisches Erbe von den Deutschen Mohrmann,
Haupt und dem Engländer George Baldwin Brown aus den Umschlingungen
der römischen Kultur freigelegt wurde. Mit Überraschung, aber auch mit Genug¬
tuung erkennen wir, daß viele Äußerungen der gegenwärtigen Kunst ganz
unbewußt an die altgermanische Kunstüberlieferung anknüpfen. Blicken wir nur
mit offenen Augen in unsere Vergangenheit, dann sehen wir, wie der jüngst
ins Grab gesunkene Karl Rhamm es nachgewiesen hat, daß die Wohngewohnheit
der Urzeit noch heute in dem sächsischen und alemannischen Bauernhause und in
dem nordischen und englischen Hallenhause weiterwirkt; mit staunendem Auge
entdecken wir, wie dasselbe Haus aus den verschütteten Ruinen Griechenlands
wieder ans Tageslicht tritt, oder schon in den ersten Jahrhunderten unserer
Zeitrechnung siegreich den ganzen Osten Europas erobert hat. Von den gesunden
Grundlagen dieser Überlieferung zeugt es, daß die altgermanische Dorfverfassung,
wie sie von dem Angelsachsen Seeboden, den Deutschen Hansen, v. Maurer und


Eine Hochschule für großgermanische Kultur

keiner die deutsche Kultur in dem Maße befruchtet wie Shakespeare. Dürer
wird von den Angelsachsen geschätzt wie einer der ihren, und es ist auch kein
Zufall, daß der Deutsche Holbein d. I. ein halbes Menschenleben lang in
England wirkte. Von Bach und Händel, der die größte Zeit seines Lebens
jenseit des Ärmelkanals zubrachte, und der sein Grab inmitten der großen Toten
der Westminster-Abtei gefunden hat, bis zu Richard Wagener, seit Byron und
Dickens in Deutschland heimisch sind und Friedrich der Große seinen besten
Schilderer in Carlnle gefunden hat, finden die Beziehungen zu einer Kultur¬
gemeinschaft zusammen, die in ihren einzelnen Wirkungen gar nicht mehr zu
lösen sind. Der große Bahnbrecher der modernen Kunst, Gottfried Semper.
gewann die Grundlagen für seine reformierende Tätigkeit in England, während
die Angelsachsen Nuskin und Moore in steigendem Maße bei uns Verständnis
finden. Ganz folgerichtig und aus dem innersten Wesen germanischen Lebens
geflossen, dringt die englische Wohnkultur zu uns herüber und verdrängt die
letzten Erinnerungen fränkischer Herkunft.

Der Schweizer Gottfried Keller gehört allen deutsch sprechenden Völkern,
während die tiefe Gedankenwelt eines Emerson die spitzfindige Logik eines
Voltaire längst aus dem Sattel gehoben hat. Kants Philosophie und Schillers
Idealismus haben Pate gestanden bei allem Guten und Schönen, was germanischer
Geist seit einem Jahrhundert geboren hat. Und blicken wir nach Norden, wo
altgermanischer Skaldengeist niemals aus seiner Bahn gewichen ist, da weht uns
eine Stimmung entgegen, die eine stärkere Spur durch unsere Literatur gezogen
hat als jemals eine andere. Der Schwede Oskar Montelius ist es, der in die
tiefsten Schächte der germanischen Vergangenheit hinabgestiegen ist und ungeahnte
Ausblicke auf den Einfluß dieser Zeit, selbst auf die antike Kultur eröffnet hat.
Ein befreiender Luftzug weht seitdem durch die Wissenschaft, der immer kräftiger
auf die Erkenntnis drängt, daß unsere Vorfahren vor mehr als zwei Jahr¬
tausenden keineswegs rohe Barbaren, sondern im besten Sinne des Wortes
Kulturträger waren, deren künstlerisches Erbe von den Deutschen Mohrmann,
Haupt und dem Engländer George Baldwin Brown aus den Umschlingungen
der römischen Kultur freigelegt wurde. Mit Überraschung, aber auch mit Genug¬
tuung erkennen wir, daß viele Äußerungen der gegenwärtigen Kunst ganz
unbewußt an die altgermanische Kunstüberlieferung anknüpfen. Blicken wir nur
mit offenen Augen in unsere Vergangenheit, dann sehen wir, wie der jüngst
ins Grab gesunkene Karl Rhamm es nachgewiesen hat, daß die Wohngewohnheit
der Urzeit noch heute in dem sächsischen und alemannischen Bauernhause und in
dem nordischen und englischen Hallenhause weiterwirkt; mit staunendem Auge
entdecken wir, wie dasselbe Haus aus den verschütteten Ruinen Griechenlands
wieder ans Tageslicht tritt, oder schon in den ersten Jahrhunderten unserer
Zeitrechnung siegreich den ganzen Osten Europas erobert hat. Von den gesunden
Grundlagen dieser Überlieferung zeugt es, daß die altgermanische Dorfverfassung,
wie sie von dem Angelsachsen Seeboden, den Deutschen Hansen, v. Maurer und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321956"/>
          <fw type="header" place="top"> Eine Hochschule für großgermanische Kultur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_833" prev="#ID_832"> keiner die deutsche Kultur in dem Maße befruchtet wie Shakespeare. Dürer<lb/>
wird von den Angelsachsen geschätzt wie einer der ihren, und es ist auch kein<lb/>
Zufall, daß der Deutsche Holbein d. I. ein halbes Menschenleben lang in<lb/>
England wirkte. Von Bach und Händel, der die größte Zeit seines Lebens<lb/>
jenseit des Ärmelkanals zubrachte, und der sein Grab inmitten der großen Toten<lb/>
der Westminster-Abtei gefunden hat, bis zu Richard Wagener, seit Byron und<lb/>
Dickens in Deutschland heimisch sind und Friedrich der Große seinen besten<lb/>
Schilderer in Carlnle gefunden hat, finden die Beziehungen zu einer Kultur¬<lb/>
gemeinschaft zusammen, die in ihren einzelnen Wirkungen gar nicht mehr zu<lb/>
lösen sind. Der große Bahnbrecher der modernen Kunst, Gottfried Semper.<lb/>
gewann die Grundlagen für seine reformierende Tätigkeit in England, während<lb/>
die Angelsachsen Nuskin und Moore in steigendem Maße bei uns Verständnis<lb/>
finden. Ganz folgerichtig und aus dem innersten Wesen germanischen Lebens<lb/>
geflossen, dringt die englische Wohnkultur zu uns herüber und verdrängt die<lb/>
letzten Erinnerungen fränkischer Herkunft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_834" next="#ID_835"> Der Schweizer Gottfried Keller gehört allen deutsch sprechenden Völkern,<lb/>
während die tiefe Gedankenwelt eines Emerson die spitzfindige Logik eines<lb/>
Voltaire längst aus dem Sattel gehoben hat. Kants Philosophie und Schillers<lb/>
Idealismus haben Pate gestanden bei allem Guten und Schönen, was germanischer<lb/>
Geist seit einem Jahrhundert geboren hat. Und blicken wir nach Norden, wo<lb/>
altgermanischer Skaldengeist niemals aus seiner Bahn gewichen ist, da weht uns<lb/>
eine Stimmung entgegen, die eine stärkere Spur durch unsere Literatur gezogen<lb/>
hat als jemals eine andere. Der Schwede Oskar Montelius ist es, der in die<lb/>
tiefsten Schächte der germanischen Vergangenheit hinabgestiegen ist und ungeahnte<lb/>
Ausblicke auf den Einfluß dieser Zeit, selbst auf die antike Kultur eröffnet hat.<lb/>
Ein befreiender Luftzug weht seitdem durch die Wissenschaft, der immer kräftiger<lb/>
auf die Erkenntnis drängt, daß unsere Vorfahren vor mehr als zwei Jahr¬<lb/>
tausenden keineswegs rohe Barbaren, sondern im besten Sinne des Wortes<lb/>
Kulturträger waren, deren künstlerisches Erbe von den Deutschen Mohrmann,<lb/>
Haupt und dem Engländer George Baldwin Brown aus den Umschlingungen<lb/>
der römischen Kultur freigelegt wurde. Mit Überraschung, aber auch mit Genug¬<lb/>
tuung erkennen wir, daß viele Äußerungen der gegenwärtigen Kunst ganz<lb/>
unbewußt an die altgermanische Kunstüberlieferung anknüpfen. Blicken wir nur<lb/>
mit offenen Augen in unsere Vergangenheit, dann sehen wir, wie der jüngst<lb/>
ins Grab gesunkene Karl Rhamm es nachgewiesen hat, daß die Wohngewohnheit<lb/>
der Urzeit noch heute in dem sächsischen und alemannischen Bauernhause und in<lb/>
dem nordischen und englischen Hallenhause weiterwirkt; mit staunendem Auge<lb/>
entdecken wir, wie dasselbe Haus aus den verschütteten Ruinen Griechenlands<lb/>
wieder ans Tageslicht tritt, oder schon in den ersten Jahrhunderten unserer<lb/>
Zeitrechnung siegreich den ganzen Osten Europas erobert hat. Von den gesunden<lb/>
Grundlagen dieser Überlieferung zeugt es, daß die altgermanische Dorfverfassung,<lb/>
wie sie von dem Angelsachsen Seeboden, den Deutschen Hansen, v. Maurer und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0209] Eine Hochschule für großgermanische Kultur keiner die deutsche Kultur in dem Maße befruchtet wie Shakespeare. Dürer wird von den Angelsachsen geschätzt wie einer der ihren, und es ist auch kein Zufall, daß der Deutsche Holbein d. I. ein halbes Menschenleben lang in England wirkte. Von Bach und Händel, der die größte Zeit seines Lebens jenseit des Ärmelkanals zubrachte, und der sein Grab inmitten der großen Toten der Westminster-Abtei gefunden hat, bis zu Richard Wagener, seit Byron und Dickens in Deutschland heimisch sind und Friedrich der Große seinen besten Schilderer in Carlnle gefunden hat, finden die Beziehungen zu einer Kultur¬ gemeinschaft zusammen, die in ihren einzelnen Wirkungen gar nicht mehr zu lösen sind. Der große Bahnbrecher der modernen Kunst, Gottfried Semper. gewann die Grundlagen für seine reformierende Tätigkeit in England, während die Angelsachsen Nuskin und Moore in steigendem Maße bei uns Verständnis finden. Ganz folgerichtig und aus dem innersten Wesen germanischen Lebens geflossen, dringt die englische Wohnkultur zu uns herüber und verdrängt die letzten Erinnerungen fränkischer Herkunft. Der Schweizer Gottfried Keller gehört allen deutsch sprechenden Völkern, während die tiefe Gedankenwelt eines Emerson die spitzfindige Logik eines Voltaire längst aus dem Sattel gehoben hat. Kants Philosophie und Schillers Idealismus haben Pate gestanden bei allem Guten und Schönen, was germanischer Geist seit einem Jahrhundert geboren hat. Und blicken wir nach Norden, wo altgermanischer Skaldengeist niemals aus seiner Bahn gewichen ist, da weht uns eine Stimmung entgegen, die eine stärkere Spur durch unsere Literatur gezogen hat als jemals eine andere. Der Schwede Oskar Montelius ist es, der in die tiefsten Schächte der germanischen Vergangenheit hinabgestiegen ist und ungeahnte Ausblicke auf den Einfluß dieser Zeit, selbst auf die antike Kultur eröffnet hat. Ein befreiender Luftzug weht seitdem durch die Wissenschaft, der immer kräftiger auf die Erkenntnis drängt, daß unsere Vorfahren vor mehr als zwei Jahr¬ tausenden keineswegs rohe Barbaren, sondern im besten Sinne des Wortes Kulturträger waren, deren künstlerisches Erbe von den Deutschen Mohrmann, Haupt und dem Engländer George Baldwin Brown aus den Umschlingungen der römischen Kultur freigelegt wurde. Mit Überraschung, aber auch mit Genug¬ tuung erkennen wir, daß viele Äußerungen der gegenwärtigen Kunst ganz unbewußt an die altgermanische Kunstüberlieferung anknüpfen. Blicken wir nur mit offenen Augen in unsere Vergangenheit, dann sehen wir, wie der jüngst ins Grab gesunkene Karl Rhamm es nachgewiesen hat, daß die Wohngewohnheit der Urzeit noch heute in dem sächsischen und alemannischen Bauernhause und in dem nordischen und englischen Hallenhause weiterwirkt; mit staunendem Auge entdecken wir, wie dasselbe Haus aus den verschütteten Ruinen Griechenlands wieder ans Tageslicht tritt, oder schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung siegreich den ganzen Osten Europas erobert hat. Von den gesunden Grundlagen dieser Überlieferung zeugt es, daß die altgermanische Dorfverfassung, wie sie von dem Angelsachsen Seeboden, den Deutschen Hansen, v. Maurer und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/209
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/209>, abgerufen am 29.09.2024.