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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Wilhelm Schäfer

Derselbe Trieb, aus halbrohen Klumpen formklare Kristalle herauszuschleifen,
führt Schäfer schließlich zur Anekdote. Auch hier gibt ihm meist die Geschichte
seiner rheinischen Heimat oder ihr gegenwärtiges Leben primitiv geformte Gebilde
in die Hand. Ein reges Heimatgefühl sieht die Begebenheiten auf einem wohl¬
vertrauten Boden sich von neuem abspielen, und die Freude des Künstlers ist
es nun, im knappsten Zusammendrängen doch all den Lebensgehalt des besonderen
Geschehens offenbar werden zu lassen. Während die landläufige Anekdote zumeist
mit festgeprägten Gestalten rechnet, mit Persönlichkeiten und Zusammenhängen,
die sie als bekannt voraussetzen darf, und an ihnen nur den oder jenen Zug
durch eine Augenblicksspiegelung besonders eindringlich macht, weiß Schäfer es
sorgsam zu fügen, daß dies plötzlich einfallende Licht die wesentliche Seite der
Erscheinungen erhellt. Natürlich wird auch hier überall an Bekanntes gerührt,
aber die Dinge werden in einer so bildkräftigen Sprache bei ihrem eigenen
Namen gerufen, daß sie auch rein aus sich heraus Leben gewinnen. Die
Erlebnisse der Menschen sind auch hier nur in Teilausschnitten gegeben, und
ihre volle Bedeutung wächst ihnen aus viel weiter reichenden Zusammenhängen
zu. Aber das Ziel des Erzählers ist es überall, in der vereinzelten Äußerung
den ganzen Menschen, wie er bedingt ist durch seines Wesens Art und ver¬
flochten in die besonderen Beziehungen seines Daseins, zum mindesten ahnen
zu lassen. Zuweilen aber geht der Reiz auch nur von der Seltsamkeit eines
Vorfalls aus, und Schäfer lauscht ihm dann den munteren oder schweren,
kapriziösen oder gehaltenen Rhythmus ab, der ihm innemohnt. Nicht selten
fügt sich, was da unter dem Namen der Anekdote gehen soll, überhaupt nicht
mehr unter den Begriff: es handelt sich dann nicht um Ereignisse, die in irgend¬
einem besonderen Augenblick gipfeln oder deren innere Spannung sich in einem
rasch aufzuckendem Wort entlädt, sondern um die Reflexe eines Lebensmomentes --
wie etwa in der letzten Geschichte der dreiunddreißig Anekdoten "Im letzten
O-Zugwagen" -- oder um seelische Entwicklungen, die freilich auch von irgend¬
einer seltsamen Begebenheit ihren Ausgang nehmen, aber dann eingehend um
ihrer selbst willen verfolgt werden.

Auch in den Anekdoten strömen Schäfer die lebendigsten Kräfte dann zu,
wenn er sich mit der heimatlichen Erde berührt. Da formt sich das Bild der
Landschaft aus liebevoller Vertrautheit, da ist das Begebnis des Augenblicks
überall verwoben in lebendig fühlbare Zusammenhänge von Geschichte und
Schicksal der Gesamtheit, und der frischkräftigen Eigenart rheinischen Volkstums,
seiner behaglich regen Lebenslust, seiner schlagfertigen Keckheit wird ein mit¬
empfindendes Verstehen gerecht.

Schäfer hat sich mit solcher Kleinarbeit an geschichtlichen Miniaturen nicht
dauernd begnügt. Seine Halsbandgeschichte legt in umfassender Entwicklung das
verschlungene Gewirke eines weltberüchtigten Intrigenspieles bloß, er folgt all
den leichtfertig gedrehten, frech verknoteten Fäden, und aus den nüchternen Akten
eines ungeheuerlichen Schwindelprozesses formt rege Erzählerfreude eine durch-


Wilhelm Schäfer

Derselbe Trieb, aus halbrohen Klumpen formklare Kristalle herauszuschleifen,
führt Schäfer schließlich zur Anekdote. Auch hier gibt ihm meist die Geschichte
seiner rheinischen Heimat oder ihr gegenwärtiges Leben primitiv geformte Gebilde
in die Hand. Ein reges Heimatgefühl sieht die Begebenheiten auf einem wohl¬
vertrauten Boden sich von neuem abspielen, und die Freude des Künstlers ist
es nun, im knappsten Zusammendrängen doch all den Lebensgehalt des besonderen
Geschehens offenbar werden zu lassen. Während die landläufige Anekdote zumeist
mit festgeprägten Gestalten rechnet, mit Persönlichkeiten und Zusammenhängen,
die sie als bekannt voraussetzen darf, und an ihnen nur den oder jenen Zug
durch eine Augenblicksspiegelung besonders eindringlich macht, weiß Schäfer es
sorgsam zu fügen, daß dies plötzlich einfallende Licht die wesentliche Seite der
Erscheinungen erhellt. Natürlich wird auch hier überall an Bekanntes gerührt,
aber die Dinge werden in einer so bildkräftigen Sprache bei ihrem eigenen
Namen gerufen, daß sie auch rein aus sich heraus Leben gewinnen. Die
Erlebnisse der Menschen sind auch hier nur in Teilausschnitten gegeben, und
ihre volle Bedeutung wächst ihnen aus viel weiter reichenden Zusammenhängen
zu. Aber das Ziel des Erzählers ist es überall, in der vereinzelten Äußerung
den ganzen Menschen, wie er bedingt ist durch seines Wesens Art und ver¬
flochten in die besonderen Beziehungen seines Daseins, zum mindesten ahnen
zu lassen. Zuweilen aber geht der Reiz auch nur von der Seltsamkeit eines
Vorfalls aus, und Schäfer lauscht ihm dann den munteren oder schweren,
kapriziösen oder gehaltenen Rhythmus ab, der ihm innemohnt. Nicht selten
fügt sich, was da unter dem Namen der Anekdote gehen soll, überhaupt nicht
mehr unter den Begriff: es handelt sich dann nicht um Ereignisse, die in irgend¬
einem besonderen Augenblick gipfeln oder deren innere Spannung sich in einem
rasch aufzuckendem Wort entlädt, sondern um die Reflexe eines Lebensmomentes —
wie etwa in der letzten Geschichte der dreiunddreißig Anekdoten „Im letzten
O-Zugwagen" — oder um seelische Entwicklungen, die freilich auch von irgend¬
einer seltsamen Begebenheit ihren Ausgang nehmen, aber dann eingehend um
ihrer selbst willen verfolgt werden.

Auch in den Anekdoten strömen Schäfer die lebendigsten Kräfte dann zu,
wenn er sich mit der heimatlichen Erde berührt. Da formt sich das Bild der
Landschaft aus liebevoller Vertrautheit, da ist das Begebnis des Augenblicks
überall verwoben in lebendig fühlbare Zusammenhänge von Geschichte und
Schicksal der Gesamtheit, und der frischkräftigen Eigenart rheinischen Volkstums,
seiner behaglich regen Lebenslust, seiner schlagfertigen Keckheit wird ein mit¬
empfindendes Verstehen gerecht.

Schäfer hat sich mit solcher Kleinarbeit an geschichtlichen Miniaturen nicht
dauernd begnügt. Seine Halsbandgeschichte legt in umfassender Entwicklung das
verschlungene Gewirke eines weltberüchtigten Intrigenspieles bloß, er folgt all
den leichtfertig gedrehten, frech verknoteten Fäden, und aus den nüchternen Akten
eines ungeheuerlichen Schwindelprozesses formt rege Erzählerfreude eine durch-


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[0167] Wilhelm Schäfer Derselbe Trieb, aus halbrohen Klumpen formklare Kristalle herauszuschleifen, führt Schäfer schließlich zur Anekdote. Auch hier gibt ihm meist die Geschichte seiner rheinischen Heimat oder ihr gegenwärtiges Leben primitiv geformte Gebilde in die Hand. Ein reges Heimatgefühl sieht die Begebenheiten auf einem wohl¬ vertrauten Boden sich von neuem abspielen, und die Freude des Künstlers ist es nun, im knappsten Zusammendrängen doch all den Lebensgehalt des besonderen Geschehens offenbar werden zu lassen. Während die landläufige Anekdote zumeist mit festgeprägten Gestalten rechnet, mit Persönlichkeiten und Zusammenhängen, die sie als bekannt voraussetzen darf, und an ihnen nur den oder jenen Zug durch eine Augenblicksspiegelung besonders eindringlich macht, weiß Schäfer es sorgsam zu fügen, daß dies plötzlich einfallende Licht die wesentliche Seite der Erscheinungen erhellt. Natürlich wird auch hier überall an Bekanntes gerührt, aber die Dinge werden in einer so bildkräftigen Sprache bei ihrem eigenen Namen gerufen, daß sie auch rein aus sich heraus Leben gewinnen. Die Erlebnisse der Menschen sind auch hier nur in Teilausschnitten gegeben, und ihre volle Bedeutung wächst ihnen aus viel weiter reichenden Zusammenhängen zu. Aber das Ziel des Erzählers ist es überall, in der vereinzelten Äußerung den ganzen Menschen, wie er bedingt ist durch seines Wesens Art und ver¬ flochten in die besonderen Beziehungen seines Daseins, zum mindesten ahnen zu lassen. Zuweilen aber geht der Reiz auch nur von der Seltsamkeit eines Vorfalls aus, und Schäfer lauscht ihm dann den munteren oder schweren, kapriziösen oder gehaltenen Rhythmus ab, der ihm innemohnt. Nicht selten fügt sich, was da unter dem Namen der Anekdote gehen soll, überhaupt nicht mehr unter den Begriff: es handelt sich dann nicht um Ereignisse, die in irgend¬ einem besonderen Augenblick gipfeln oder deren innere Spannung sich in einem rasch aufzuckendem Wort entlädt, sondern um die Reflexe eines Lebensmomentes — wie etwa in der letzten Geschichte der dreiunddreißig Anekdoten „Im letzten O-Zugwagen" — oder um seelische Entwicklungen, die freilich auch von irgend¬ einer seltsamen Begebenheit ihren Ausgang nehmen, aber dann eingehend um ihrer selbst willen verfolgt werden. Auch in den Anekdoten strömen Schäfer die lebendigsten Kräfte dann zu, wenn er sich mit der heimatlichen Erde berührt. Da formt sich das Bild der Landschaft aus liebevoller Vertrautheit, da ist das Begebnis des Augenblicks überall verwoben in lebendig fühlbare Zusammenhänge von Geschichte und Schicksal der Gesamtheit, und der frischkräftigen Eigenart rheinischen Volkstums, seiner behaglich regen Lebenslust, seiner schlagfertigen Keckheit wird ein mit¬ empfindendes Verstehen gerecht. Schäfer hat sich mit solcher Kleinarbeit an geschichtlichen Miniaturen nicht dauernd begnügt. Seine Halsbandgeschichte legt in umfassender Entwicklung das verschlungene Gewirke eines weltberüchtigten Intrigenspieles bloß, er folgt all den leichtfertig gedrehten, frech verknoteten Fäden, und aus den nüchternen Akten eines ungeheuerlichen Schwindelprozesses formt rege Erzählerfreude eine durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/167>, abgerufen am 03.07.2024.