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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Dramas aller Länder beweist, daß es in erster Linie Problemdichtung und
Darstellung sogenannter "Fälle" gewesen ist. Namen zu nennen, dürfte auch
hier unnötig sein. Theoretisch betrachtet charakterisiert sich die ganze Richtung
als ein Naturalismus, der von dem konsequenten Kunstempirismus ausgeht und
die Berechtigung dieser extremen Forderungen auch anerkennt; nur in der Praxis
glaubt er diese Konsequenz etwas mildern zu können, indem er sich für berechtigt
hält, sein Augenmerk nur auf "das Interessante" an der Wirklichkeit zu richten.
Der Fortschritt ist also nur ein praktischer Schritt über das theoretisch als
berechtigt Anerkannte hinaus. Daß aber dieser Schritt nicht auch theoretisch
verwertet worden ist, beweist, daß er eigentlich nicht gerechtfertigt werden konnte.
Flaubert behielt recht. Den entscheidenden Schritt in Theorie und Praxis
tat erst Zola.


3. Die materialistische Geschichtsauffassung und der Roman Zolas

Wenn wir nun einen oder den anderen Roman Zolas betrachten, so
werden wir kaum eine wesentliche Abweichung von der Manier seiner Vor¬
gänger, etwa der Gebrüder Goncourt feststellen. Wir werden vielmehr erklären,
daß auch er "Fälle" aufsucht, daß auch er in die Tiefen des Menschenlebens
hinabsteigt, um aus mehr oder weniger schmutzigen Schächten "Interessantes"
zutage zu fördern. So ist er vielleicht der eindrucksvollste Schiloerer mensch¬
lichen Elends geworden und gilt daher als der eigentliche Sozialist unter den
Romanschriftstellern. Betrachten wir aber das ganze Werk Zolas, so finden
wir doch bald einen einheitlichen Zug, der durch alle seine Arbeiten hindurch¬
geht. Wir erkennen bald, daß diese Elendsmalereien nicht willkürlich zusammen¬
gestellt sind, sondern, daß ein gemeinsames Grundthema sie fast alle miteinander
verbindet. Dieses gemeinsame Problem ist die soziale Frage in der besonderen
Gestalt, daß nur dem wirtschaftlichen Faktor ein Einfluß auf das Handeln,
Denken und Fühlen der Menschen eingeräumt wird. Der Kampf um die
wirtschaftliche Existenz steht überall im Vordergrunde, mag es sich um ganze
Gruppen sozial zusammengehöriger Einzelwesen handeln, oder um eine besondere
Familie oder ein einziges Individuum. In dem grandiosen Gemälde, das
..Qei-milmI" vor uns aufrollt, erleben wir das Erwachen einer neuen Gesellschafts¬
klasse, des vierten Standes, mit; die einzige treibende Kraft aber bei dem
ganzen Werdegang ist die bittere Not, der Kampf um das kärgliche Brot für
die Familie. Mit genialer Deutlichkeit wird uns der ganze Einfluß der öko¬
nomischen Lage auf das geistige Dasein des Arbeiters, auf das Denken und
Fühlen der Arbeiterfamilien vor die Seele gestellt. Fast schaudernd erkennen
wir den unentrinnbaren kausalen Zusammenhang zwischen geistigem Leben und
wirtschaftlichen Bedingungen. Nie hat ein Nationalökonom oder ein Geschicht¬
schreiber diese Zusammenhänge plastischer und vollständiger herausgearbeitet.
Im ,,^88dmoir" sehen wir zwei Menschenkinder den Kampf mit der Lebenslage


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

Dramas aller Länder beweist, daß es in erster Linie Problemdichtung und
Darstellung sogenannter „Fälle" gewesen ist. Namen zu nennen, dürfte auch
hier unnötig sein. Theoretisch betrachtet charakterisiert sich die ganze Richtung
als ein Naturalismus, der von dem konsequenten Kunstempirismus ausgeht und
die Berechtigung dieser extremen Forderungen auch anerkennt; nur in der Praxis
glaubt er diese Konsequenz etwas mildern zu können, indem er sich für berechtigt
hält, sein Augenmerk nur auf „das Interessante" an der Wirklichkeit zu richten.
Der Fortschritt ist also nur ein praktischer Schritt über das theoretisch als
berechtigt Anerkannte hinaus. Daß aber dieser Schritt nicht auch theoretisch
verwertet worden ist, beweist, daß er eigentlich nicht gerechtfertigt werden konnte.
Flaubert behielt recht. Den entscheidenden Schritt in Theorie und Praxis
tat erst Zola.


3. Die materialistische Geschichtsauffassung und der Roman Zolas

Wenn wir nun einen oder den anderen Roman Zolas betrachten, so
werden wir kaum eine wesentliche Abweichung von der Manier seiner Vor¬
gänger, etwa der Gebrüder Goncourt feststellen. Wir werden vielmehr erklären,
daß auch er „Fälle" aufsucht, daß auch er in die Tiefen des Menschenlebens
hinabsteigt, um aus mehr oder weniger schmutzigen Schächten „Interessantes"
zutage zu fördern. So ist er vielleicht der eindrucksvollste Schiloerer mensch¬
lichen Elends geworden und gilt daher als der eigentliche Sozialist unter den
Romanschriftstellern. Betrachten wir aber das ganze Werk Zolas, so finden
wir doch bald einen einheitlichen Zug, der durch alle seine Arbeiten hindurch¬
geht. Wir erkennen bald, daß diese Elendsmalereien nicht willkürlich zusammen¬
gestellt sind, sondern, daß ein gemeinsames Grundthema sie fast alle miteinander
verbindet. Dieses gemeinsame Problem ist die soziale Frage in der besonderen
Gestalt, daß nur dem wirtschaftlichen Faktor ein Einfluß auf das Handeln,
Denken und Fühlen der Menschen eingeräumt wird. Der Kampf um die
wirtschaftliche Existenz steht überall im Vordergrunde, mag es sich um ganze
Gruppen sozial zusammengehöriger Einzelwesen handeln, oder um eine besondere
Familie oder ein einziges Individuum. In dem grandiosen Gemälde, das
..Qei-milmI" vor uns aufrollt, erleben wir das Erwachen einer neuen Gesellschafts¬
klasse, des vierten Standes, mit; die einzige treibende Kraft aber bei dem
ganzen Werdegang ist die bittere Not, der Kampf um das kärgliche Brot für
die Familie. Mit genialer Deutlichkeit wird uns der ganze Einfluß der öko¬
nomischen Lage auf das geistige Dasein des Arbeiters, auf das Denken und
Fühlen der Arbeiterfamilien vor die Seele gestellt. Fast schaudernd erkennen
wir den unentrinnbaren kausalen Zusammenhang zwischen geistigem Leben und
wirtschaftlichen Bedingungen. Nie hat ein Nationalökonom oder ein Geschicht¬
schreiber diese Zusammenhänge plastischer und vollständiger herausgearbeitet.
Im ,,^88dmoir" sehen wir zwei Menschenkinder den Kampf mit der Lebenslage


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[0121] Die naturwissenschaftliche Weltanschauung Dramas aller Länder beweist, daß es in erster Linie Problemdichtung und Darstellung sogenannter „Fälle" gewesen ist. Namen zu nennen, dürfte auch hier unnötig sein. Theoretisch betrachtet charakterisiert sich die ganze Richtung als ein Naturalismus, der von dem konsequenten Kunstempirismus ausgeht und die Berechtigung dieser extremen Forderungen auch anerkennt; nur in der Praxis glaubt er diese Konsequenz etwas mildern zu können, indem er sich für berechtigt hält, sein Augenmerk nur auf „das Interessante" an der Wirklichkeit zu richten. Der Fortschritt ist also nur ein praktischer Schritt über das theoretisch als berechtigt Anerkannte hinaus. Daß aber dieser Schritt nicht auch theoretisch verwertet worden ist, beweist, daß er eigentlich nicht gerechtfertigt werden konnte. Flaubert behielt recht. Den entscheidenden Schritt in Theorie und Praxis tat erst Zola. 3. Die materialistische Geschichtsauffassung und der Roman Zolas Wenn wir nun einen oder den anderen Roman Zolas betrachten, so werden wir kaum eine wesentliche Abweichung von der Manier seiner Vor¬ gänger, etwa der Gebrüder Goncourt feststellen. Wir werden vielmehr erklären, daß auch er „Fälle" aufsucht, daß auch er in die Tiefen des Menschenlebens hinabsteigt, um aus mehr oder weniger schmutzigen Schächten „Interessantes" zutage zu fördern. So ist er vielleicht der eindrucksvollste Schiloerer mensch¬ lichen Elends geworden und gilt daher als der eigentliche Sozialist unter den Romanschriftstellern. Betrachten wir aber das ganze Werk Zolas, so finden wir doch bald einen einheitlichen Zug, der durch alle seine Arbeiten hindurch¬ geht. Wir erkennen bald, daß diese Elendsmalereien nicht willkürlich zusammen¬ gestellt sind, sondern, daß ein gemeinsames Grundthema sie fast alle miteinander verbindet. Dieses gemeinsame Problem ist die soziale Frage in der besonderen Gestalt, daß nur dem wirtschaftlichen Faktor ein Einfluß auf das Handeln, Denken und Fühlen der Menschen eingeräumt wird. Der Kampf um die wirtschaftliche Existenz steht überall im Vordergrunde, mag es sich um ganze Gruppen sozial zusammengehöriger Einzelwesen handeln, oder um eine besondere Familie oder ein einziges Individuum. In dem grandiosen Gemälde, das ..Qei-milmI" vor uns aufrollt, erleben wir das Erwachen einer neuen Gesellschafts¬ klasse, des vierten Standes, mit; die einzige treibende Kraft aber bei dem ganzen Werdegang ist die bittere Not, der Kampf um das kärgliche Brot für die Familie. Mit genialer Deutlichkeit wird uns der ganze Einfluß der öko¬ nomischen Lage auf das geistige Dasein des Arbeiters, auf das Denken und Fühlen der Arbeiterfamilien vor die Seele gestellt. Fast schaudernd erkennen wir den unentrinnbaren kausalen Zusammenhang zwischen geistigem Leben und wirtschaftlichen Bedingungen. Nie hat ein Nationalökonom oder ein Geschicht¬ schreiber diese Zusammenhänge plastischer und vollständiger herausgearbeitet. Im ,,^88dmoir" sehen wir zwei Menschenkinder den Kampf mit der Lebenslage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/121>, abgerufen am 22.07.2024.