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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

wast des Stoffes selbst wird die Forderung des Positivismus ausgedehnt.
Eigentlich gibt es überhaupt keine Auswahl mehr, da diese ja wieder eine
individuelle Wertung seitens des Künstlers darstellen würde. Auch darf kein
Charakter eine Ausnahmestellung einnehmen und das Ganze in eine Ordnung
bringen, die nicht schon in der beobachteten Wirklichkeit liegt. Während also
seine Vorbilder die wissenschaftliche Methode auf die Begründung einer inneren
Notwendigkeit ini Werke selbst beschränken, legt Flaubert in seiner Theorie den
Hauptwert auf eine rein empirische Gewinnung des Stoffes selbst.

Man wende nun nicht ein, daß unsere Auffassung zwar offenbar für
,Ma<jame Kovar^" und "lVöäucation Zentimentale" zutreffe, keineswegs aber
für "Lalumbv": man nenne also diesen geschichtlichen Roman kein Zugeständnis
an die Romantik, wie es fast alle französischen Kritiker bis jetzt getan haben.
Schon die jahrelangen geschichtlichen Vorstudien, die Flaubert zu diesem Werke
betrieb, beweisen, daß er darin ebensowenig von der Wirklichkeit abweichen
wollte, wie in seinen anderen Werken. Der einzige Unterschied ist, daß diese
Wirklichkeit nicht in der Gegenwart, sondern in der fernsten Vergangenheit liegt.
Der Dichter glaubte, daß die Entdeckungen in Karthago, verbunden mit den
literarischen Berichten über jene Zeit, die er aufs gewissenhafteste benutzte, die
fernste Vergangenheit mit derselben Gründlichkeit und Wahrheit wie die Gegen¬
wart zu behandeln erlaubtem An der theoretischen Grundlage des Romans
ist damit nicht das geringste geändert. Romantisch könnte man höchstens die
geschilderte Epoche nennen, nicht aber den Roman. Unserer Anschauung von
dem Werke widerspricht es auch keineswegs, wenn man als Grund für des
Dichters Flucht in die Vergangenheit angibt, daß ihm selbst das alltägliche
Leben der Gegenwart, auf dessen Darstellung ihn seine Kunstanschauung ver¬
wies, zu dürftig und nichtssagend erschien, so daß er außergewöhnliche, packende
Ereignisse nur in der Vergangenheit als den kausalen Bedingungen der geschicht¬
lichen Notwendigkeit entsprechend, also seinem wissenschaftlichen Ideale der Kunst
genügend, zu finden glaubte. Zeigt doch sein letzter Roman, den er unvoll¬
ständig hinterließ, "Kouvaiä et pLcucIiet". noch eine weitere Steigerung seiner
realistischen Praxis. Die Beobachtung der Wirklichkeit hatte Flaubert gelehrt,
daß die Menschen um ihn in ihren: innersten Grunde eigentlich alle gleich sind,
daß sie Exemplare einer großen Herde sind, die nur das ganz geübte, an
genaue Unterscheidung gewöhnte Auge des Hirten auseinanderhalten kann.
Wollte er dies pessimistische Ergebnis seines Studiums seinen künstlerischen
Grundsätzen gemäß zur Darstellung bringen, so mußte er alle nennenswerten
Unterschiede zwischen seinen Helden fallen lassen. Überhaupt darf dieser Roman
keinen einzelnen Held mehr haben, sondern es müssen mehrere Figuren in ihrer
Gleichheit, fast ohne Unterschiede, gezeichnet werden. Dieses seltsame Wagnis
übernimmt Flaubert in "Louvarä et pecueket". Man hat schon längst erkannt,
daß diese beiden Gestalten keine Individuen, sondern Typen find. Alle Menschen
sind eben Bouvards, einer wie der andere, einer so langweilig und alltäglich


Die naturwissenschaftliche Weltanschauung

wast des Stoffes selbst wird die Forderung des Positivismus ausgedehnt.
Eigentlich gibt es überhaupt keine Auswahl mehr, da diese ja wieder eine
individuelle Wertung seitens des Künstlers darstellen würde. Auch darf kein
Charakter eine Ausnahmestellung einnehmen und das Ganze in eine Ordnung
bringen, die nicht schon in der beobachteten Wirklichkeit liegt. Während also
seine Vorbilder die wissenschaftliche Methode auf die Begründung einer inneren
Notwendigkeit ini Werke selbst beschränken, legt Flaubert in seiner Theorie den
Hauptwert auf eine rein empirische Gewinnung des Stoffes selbst.

Man wende nun nicht ein, daß unsere Auffassung zwar offenbar für
,Ma<jame Kovar^" und „lVöäucation Zentimentale" zutreffe, keineswegs aber
für „Lalumbv": man nenne also diesen geschichtlichen Roman kein Zugeständnis
an die Romantik, wie es fast alle französischen Kritiker bis jetzt getan haben.
Schon die jahrelangen geschichtlichen Vorstudien, die Flaubert zu diesem Werke
betrieb, beweisen, daß er darin ebensowenig von der Wirklichkeit abweichen
wollte, wie in seinen anderen Werken. Der einzige Unterschied ist, daß diese
Wirklichkeit nicht in der Gegenwart, sondern in der fernsten Vergangenheit liegt.
Der Dichter glaubte, daß die Entdeckungen in Karthago, verbunden mit den
literarischen Berichten über jene Zeit, die er aufs gewissenhafteste benutzte, die
fernste Vergangenheit mit derselben Gründlichkeit und Wahrheit wie die Gegen¬
wart zu behandeln erlaubtem An der theoretischen Grundlage des Romans
ist damit nicht das geringste geändert. Romantisch könnte man höchstens die
geschilderte Epoche nennen, nicht aber den Roman. Unserer Anschauung von
dem Werke widerspricht es auch keineswegs, wenn man als Grund für des
Dichters Flucht in die Vergangenheit angibt, daß ihm selbst das alltägliche
Leben der Gegenwart, auf dessen Darstellung ihn seine Kunstanschauung ver¬
wies, zu dürftig und nichtssagend erschien, so daß er außergewöhnliche, packende
Ereignisse nur in der Vergangenheit als den kausalen Bedingungen der geschicht¬
lichen Notwendigkeit entsprechend, also seinem wissenschaftlichen Ideale der Kunst
genügend, zu finden glaubte. Zeigt doch sein letzter Roman, den er unvoll¬
ständig hinterließ, „Kouvaiä et pLcucIiet". noch eine weitere Steigerung seiner
realistischen Praxis. Die Beobachtung der Wirklichkeit hatte Flaubert gelehrt,
daß die Menschen um ihn in ihren: innersten Grunde eigentlich alle gleich sind,
daß sie Exemplare einer großen Herde sind, die nur das ganz geübte, an
genaue Unterscheidung gewöhnte Auge des Hirten auseinanderhalten kann.
Wollte er dies pessimistische Ergebnis seines Studiums seinen künstlerischen
Grundsätzen gemäß zur Darstellung bringen, so mußte er alle nennenswerten
Unterschiede zwischen seinen Helden fallen lassen. Überhaupt darf dieser Roman
keinen einzelnen Held mehr haben, sondern es müssen mehrere Figuren in ihrer
Gleichheit, fast ohne Unterschiede, gezeichnet werden. Dieses seltsame Wagnis
übernimmt Flaubert in „Louvarä et pecueket". Man hat schon längst erkannt,
daß diese beiden Gestalten keine Individuen, sondern Typen find. Alle Menschen
sind eben Bouvards, einer wie der andere, einer so langweilig und alltäglich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/116>, abgerufen am 03.07.2024.