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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Lrühlingsflutcn

"Ist es wahr, daß man auf dieser Strecke oft beraubt wird?" fragte Sonja
plötzlich.

"Zwischen Karpowka und Grigorjewka?"

"Ja."

"Das ist richtig. Es kommt vor, daß man hier beraubt und sogar tot¬
geschlagen wird. Wenn wir uns dem Ort Roguliuo nähern, so kommen wir an
der Stelle vorbei, wo die Tamntschi meinen Onkel ermordet haben."

"Wer sind die Tamatschi?"

"So nennt man bei uns die Herumtreiber, die früher in den Goldberg-
werken arbeiteten und nun zu keiner anderen Beschäftigung mehr tauglich sind.
Das ist ein unheimliches Volk. Sie rauben und morden."

"Sie sind eine Knürina?" fragte er dann nach einem kurzen Stillschweigen.
"Vielleicht die Tochter des Besitzers?"

Sonja schwieg, aber der Aufseher rückte naher und flüsterte ihr ins Ohr:

"Mir scheint, ich kenne Sie. Ich habe Sie auf den Kaüriuschen Goldberg¬
werken gesehen, als ich dort in Geschäften war."

Sonja fühlte, daß ihre Hände und Füße wie im Fieber zitterten, alles schien
ihr ein wüster Traum, und sie glaubte schou uicht mehr daran, daß der Nebel
jemals weichen, die Wasser zurückfinden und sie wieder festes Laud sehen würde.

"Der Alte aus Karpowka gehört wahrscheinlich wohl zu einer Sekte."

"Warum glauben Sie das?"

"Er sprach allerlei unverständliches Zeug. Ehe Sie kamen, redete er immer
von der Liebe. Das eine sei eine Sünde, und das andere sei auch eine Sünde.
Aber ich denke, Sie als ein gebildetes Fräulein werden sicher begreifen, daß
alles sehr einfach ist. Und es gibt gar kein Geheimnis. Wenn der Mensch vom
Affen abstammt, so folgt daraus . . . Wir haben auch Bücher gelesen . . . Selbst¬
verständlich . . .

"Gott weiß, was Sie da reden. Ich begreife nichts", sagte Sonja.

"Sie werden es schon begreifen, liebes Fräulein", erwiderte der Aufseher
und legte seine Hand auf Sonjas Knie.

"Was fällt Ihnen ein?" rief Sonja laut und stiejz heftig seine Hand zurück.

In diesem Augenblick hielt der Kutscher die Pferde an, und sich zum Auf¬
seher umwendend sagte er ruhig:

"Wahrscheinlich sind wir in den Fluß geraten. Ich finde den Weg
nicht mehr."

Er kletterte vom Bock und versank bis an die Knie im Wasser, das den
Tarantaß umspülte.

"Hier ist ein Stein," sagte er darauf und deutete mit der Peitsche ans eine
graue Masse, die aus dein Wasser hervorragte. "Und rund herum ist Wasser.
Ich will die Furt suchen."

"Pack dich, alter Dummkopf", rief ihm der Aufseher ärgerlich nach.

Bald verschwand der Rücken des Kutschers im Nebel. Sonja wurde es
unheimlich, zu zweit im Tarantaß zu sitzen, sie stieg aus und kletterte auf
den Stein.


Grenzboten II 1912 11
Lrühlingsflutcn

„Ist es wahr, daß man auf dieser Strecke oft beraubt wird?" fragte Sonja
plötzlich.

„Zwischen Karpowka und Grigorjewka?"

„Ja."

„Das ist richtig. Es kommt vor, daß man hier beraubt und sogar tot¬
geschlagen wird. Wenn wir uns dem Ort Roguliuo nähern, so kommen wir an
der Stelle vorbei, wo die Tamntschi meinen Onkel ermordet haben."

„Wer sind die Tamatschi?"

„So nennt man bei uns die Herumtreiber, die früher in den Goldberg-
werken arbeiteten und nun zu keiner anderen Beschäftigung mehr tauglich sind.
Das ist ein unheimliches Volk. Sie rauben und morden."

„Sie sind eine Knürina?" fragte er dann nach einem kurzen Stillschweigen.
„Vielleicht die Tochter des Besitzers?"

Sonja schwieg, aber der Aufseher rückte naher und flüsterte ihr ins Ohr:

„Mir scheint, ich kenne Sie. Ich habe Sie auf den Kaüriuschen Goldberg¬
werken gesehen, als ich dort in Geschäften war."

Sonja fühlte, daß ihre Hände und Füße wie im Fieber zitterten, alles schien
ihr ein wüster Traum, und sie glaubte schou uicht mehr daran, daß der Nebel
jemals weichen, die Wasser zurückfinden und sie wieder festes Laud sehen würde.

„Der Alte aus Karpowka gehört wahrscheinlich wohl zu einer Sekte."

„Warum glauben Sie das?"

„Er sprach allerlei unverständliches Zeug. Ehe Sie kamen, redete er immer
von der Liebe. Das eine sei eine Sünde, und das andere sei auch eine Sünde.
Aber ich denke, Sie als ein gebildetes Fräulein werden sicher begreifen, daß
alles sehr einfach ist. Und es gibt gar kein Geheimnis. Wenn der Mensch vom
Affen abstammt, so folgt daraus . . . Wir haben auch Bücher gelesen . . . Selbst¬
verständlich . . .

„Gott weiß, was Sie da reden. Ich begreife nichts", sagte Sonja.

„Sie werden es schon begreifen, liebes Fräulein", erwiderte der Aufseher
und legte seine Hand auf Sonjas Knie.

„Was fällt Ihnen ein?" rief Sonja laut und stiejz heftig seine Hand zurück.

In diesem Augenblick hielt der Kutscher die Pferde an, und sich zum Auf¬
seher umwendend sagte er ruhig:

„Wahrscheinlich sind wir in den Fluß geraten. Ich finde den Weg
nicht mehr."

Er kletterte vom Bock und versank bis an die Knie im Wasser, das den
Tarantaß umspülte.

„Hier ist ein Stein," sagte er darauf und deutete mit der Peitsche ans eine
graue Masse, die aus dein Wasser hervorragte. „Und rund herum ist Wasser.
Ich will die Furt suchen."

„Pack dich, alter Dummkopf", rief ihm der Aufseher ärgerlich nach.

Bald verschwand der Rücken des Kutschers im Nebel. Sonja wurde es
unheimlich, zu zweit im Tarantaß zu sitzen, sie stieg aus und kletterte auf
den Stein.


Grenzboten II 1912 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/93>, abgerufen am 23.07.2024.