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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Frühlingsfluten

"Das Fräulein ist krank," sagte der Alte, "gebt ihr ein Kissen."

"Es macht nichts," erwiderte Sonja, "es wird gleich vergehen."

"Nach einer Stunde können wir fahren," bemerkte Waßja, indem er Sonja
anblickte. "Wenn Sie wünschen, können Sie sich zu uns in den Tarcmtaß") setzen;
wir werden Sie bis Grigorjewka bringen."

"Ich danke Ihnen."

Sonja fühlte sich fiebrig und wußte kaum mehr, was sie tun sollte; alles
denn ihr phantastisch vor.

"Nein, mein Lieber," sagte der Wirt jetzt und klopfte Waßja auf die Schulter,
"solch einen Allerweltskerl gibt es im ganzen Umkreis nicht mehr; zur Nacht
würde ich dich nicht unter einem Dache mit Olympiada lassen."

Olympiada lachte laut auf:

"Ich bin nicht dumm. Gott sei Dank habe ich selbst meinen Verstand."

Der Alte mischte sich jetzt ins Gespräch;

"Ich wundere mich über euch, meine Lieben. Immer lacht und scherzt ihr,
aber euer Lachen ist nicht lustig. Woher kommt das?"

"Was lügst du da, Alter," sagte der Wirt ärgerlich. "Wir sind schon lustig.
Du selbst sitzest da wie eine Nachteule, aber wir sind lustig."

"Gebe es Gott. In meiner Jugend war ich im Frühling immer sehr traurig
gestimmt."

"Warum denn das?"

"Ich weiß kaum, wie ich es euch erklären soll, meine Brüderchen. Wenn
im Frühling die Flüsse anschwollen und im Wasser die Balken, die Trümmer und
die herrenlosen Boote umhertrieben, dann wurde mir das Herz so schwer in der
Brust. Ich stand am Ufer, und rings um mich her das unübersehbare Wasser.
Und über dem Wasser schrie ein Bogel. Damals wußte ich noch nicht, wonach
meine Seele sich sehnte, aber jetzt weiß ich es."

"Wonach denn, Alter?"

"Nach Gott, Brüderchen."

"Was sprichst du da? Was hat Gott damit zu schaffen?"

"Sehr viel, meine lieben Freunde. Die Frühlingssluteu sind Gottes Tränen.
Er weint aus Liebe zur Erde. Und die Erde seufzt und sehnt sich nach ihm.
Lauscht auf die Stimmen des Frühlings, wenn wir weiterfahren! Die Erde ist
lebendig, Brüderchen. Sie hat eine Seele."

"Es ist möglich, daß die Erde lebendig ist," sagte Waßja und sah mit feucht¬
schimmernden Augen Sonja Kaürina an. "Was aber Gott betrifft, so ist das
noch eine große Frage. Die Erde sehen wir, sie ist hier, aber wer hat Gott
gesehen?"

"Sieh mal an, wie du fix. bist," erwiderte der Alte. "An die Erde glaubst
du, aber an Gott nicht. Und ich denke so; wenn es keinen Gott gibt, so gibt
es auch keine Erde. Dann gibt es nichts, nur einen ewigen Kreislauf,"

"Meinetwegen. Nicht ich habe ihn nusgedacht, ich pfeife darauf."

"Doch auch du wirst sterben."

"Ich genieße den Augenblick."



-) Tamntnsz ---- Reisewagen.
Frühlingsfluten

„Das Fräulein ist krank," sagte der Alte, „gebt ihr ein Kissen."

„Es macht nichts," erwiderte Sonja, „es wird gleich vergehen."

„Nach einer Stunde können wir fahren," bemerkte Waßja, indem er Sonja
anblickte. „Wenn Sie wünschen, können Sie sich zu uns in den Tarcmtaß") setzen;
wir werden Sie bis Grigorjewka bringen."

„Ich danke Ihnen."

Sonja fühlte sich fiebrig und wußte kaum mehr, was sie tun sollte; alles
denn ihr phantastisch vor.

„Nein, mein Lieber," sagte der Wirt jetzt und klopfte Waßja auf die Schulter,
„solch einen Allerweltskerl gibt es im ganzen Umkreis nicht mehr; zur Nacht
würde ich dich nicht unter einem Dache mit Olympiada lassen."

Olympiada lachte laut auf:

„Ich bin nicht dumm. Gott sei Dank habe ich selbst meinen Verstand."

Der Alte mischte sich jetzt ins Gespräch;

„Ich wundere mich über euch, meine Lieben. Immer lacht und scherzt ihr,
aber euer Lachen ist nicht lustig. Woher kommt das?"

„Was lügst du da, Alter," sagte der Wirt ärgerlich. „Wir sind schon lustig.
Du selbst sitzest da wie eine Nachteule, aber wir sind lustig."

„Gebe es Gott. In meiner Jugend war ich im Frühling immer sehr traurig
gestimmt."

„Warum denn das?"

„Ich weiß kaum, wie ich es euch erklären soll, meine Brüderchen. Wenn
im Frühling die Flüsse anschwollen und im Wasser die Balken, die Trümmer und
die herrenlosen Boote umhertrieben, dann wurde mir das Herz so schwer in der
Brust. Ich stand am Ufer, und rings um mich her das unübersehbare Wasser.
Und über dem Wasser schrie ein Bogel. Damals wußte ich noch nicht, wonach
meine Seele sich sehnte, aber jetzt weiß ich es."

„Wonach denn, Alter?"

„Nach Gott, Brüderchen."

„Was sprichst du da? Was hat Gott damit zu schaffen?"

„Sehr viel, meine lieben Freunde. Die Frühlingssluteu sind Gottes Tränen.
Er weint aus Liebe zur Erde. Und die Erde seufzt und sehnt sich nach ihm.
Lauscht auf die Stimmen des Frühlings, wenn wir weiterfahren! Die Erde ist
lebendig, Brüderchen. Sie hat eine Seele."

„Es ist möglich, daß die Erde lebendig ist," sagte Waßja und sah mit feucht¬
schimmernden Augen Sonja Kaürina an. „Was aber Gott betrifft, so ist das
noch eine große Frage. Die Erde sehen wir, sie ist hier, aber wer hat Gott
gesehen?"

„Sieh mal an, wie du fix. bist," erwiderte der Alte. „An die Erde glaubst
du, aber an Gott nicht. Und ich denke so; wenn es keinen Gott gibt, so gibt
es auch keine Erde. Dann gibt es nichts, nur einen ewigen Kreislauf,"

„Meinetwegen. Nicht ich habe ihn nusgedacht, ich pfeife darauf."

„Doch auch du wirst sterben."

„Ich genieße den Augenblick."



-) Tamntnsz ---- Reisewagen.
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[0090] Frühlingsfluten „Das Fräulein ist krank," sagte der Alte, „gebt ihr ein Kissen." „Es macht nichts," erwiderte Sonja, „es wird gleich vergehen." „Nach einer Stunde können wir fahren," bemerkte Waßja, indem er Sonja anblickte. „Wenn Sie wünschen, können Sie sich zu uns in den Tarcmtaß") setzen; wir werden Sie bis Grigorjewka bringen." „Ich danke Ihnen." Sonja fühlte sich fiebrig und wußte kaum mehr, was sie tun sollte; alles denn ihr phantastisch vor. „Nein, mein Lieber," sagte der Wirt jetzt und klopfte Waßja auf die Schulter, „solch einen Allerweltskerl gibt es im ganzen Umkreis nicht mehr; zur Nacht würde ich dich nicht unter einem Dache mit Olympiada lassen." Olympiada lachte laut auf: „Ich bin nicht dumm. Gott sei Dank habe ich selbst meinen Verstand." Der Alte mischte sich jetzt ins Gespräch; „Ich wundere mich über euch, meine Lieben. Immer lacht und scherzt ihr, aber euer Lachen ist nicht lustig. Woher kommt das?" „Was lügst du da, Alter," sagte der Wirt ärgerlich. „Wir sind schon lustig. Du selbst sitzest da wie eine Nachteule, aber wir sind lustig." „Gebe es Gott. In meiner Jugend war ich im Frühling immer sehr traurig gestimmt." „Warum denn das?" „Ich weiß kaum, wie ich es euch erklären soll, meine Brüderchen. Wenn im Frühling die Flüsse anschwollen und im Wasser die Balken, die Trümmer und die herrenlosen Boote umhertrieben, dann wurde mir das Herz so schwer in der Brust. Ich stand am Ufer, und rings um mich her das unübersehbare Wasser. Und über dem Wasser schrie ein Bogel. Damals wußte ich noch nicht, wonach meine Seele sich sehnte, aber jetzt weiß ich es." „Wonach denn, Alter?" „Nach Gott, Brüderchen." „Was sprichst du da? Was hat Gott damit zu schaffen?" „Sehr viel, meine lieben Freunde. Die Frühlingssluteu sind Gottes Tränen. Er weint aus Liebe zur Erde. Und die Erde seufzt und sehnt sich nach ihm. Lauscht auf die Stimmen des Frühlings, wenn wir weiterfahren! Die Erde ist lebendig, Brüderchen. Sie hat eine Seele." „Es ist möglich, daß die Erde lebendig ist," sagte Waßja und sah mit feucht¬ schimmernden Augen Sonja Kaürina an. „Was aber Gott betrifft, so ist das noch eine große Frage. Die Erde sehen wir, sie ist hier, aber wer hat Gott gesehen?" „Sieh mal an, wie du fix. bist," erwiderte der Alte. „An die Erde glaubst du, aber an Gott nicht. Und ich denke so; wenn es keinen Gott gibt, so gibt es auch keine Erde. Dann gibt es nichts, nur einen ewigen Kreislauf," „Meinetwegen. Nicht ich habe ihn nusgedacht, ich pfeife darauf." „Doch auch du wirst sterben." „Ich genieße den Augenblick." -) Tamntnsz ---- Reisewagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/90>, abgerufen am 23.07.2024.