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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

Agitatoren, in die revolutionäre Bewegung hineingetragen worden. Die süd¬
chinesischen Reformer, die aus China oft hatten flüchten müssen, wurden erst in
Japan darauf hingewiesen, daß die ihnen verhaßte Regierung der berühmten
Kaiserin-Witwe eine Fremdherrschaft bedeute. Namentlich betonte die japanische
Presse, daß die volksfremden Mandschu als ein den Chinesen geistig und
kulturell weit nachstehendes Volk die chinesische Zivilisation elend verkommen
ließen und jeden Fortschritt, jedes Streben nach besseren Staatseinrichtungen
hemmten. Die Mandschu seien noch halbe Barbaren und Reaktionäre, die
kulturstolze chinesische Nation dürfe ihre Herrschaft nicht dulden. Eine Volks¬
vertretung allein, eine parlamentarische Regierung, werde alle Wünsche Chinas
befriedigen. Neben die japanische Agitation trat der Einfluß einzelner in
Europa und Amerika gebildeter Chinesen. Seit alters ist der Literatenstand
in China die geistig führende Macht. Er hat diese modernen, besonders die
japanischen Anregungen in sich aufgenommen und sich damit zum Stimm¬
führer der Revolution gemacht, während sie den weiteren Kreisen des Volkes
fremd geblieben sind. Der nüchterne und praktische Chinese erkennt aber, nach
altchinesischer Auffassung, den Willen des Himmels am Erfolg. Verfalle der
Staat, so ist seine Dynastie nicht mehr zur Herrschaft berechtigt und muß einer
besseren weichen.

Wie ist nun heute die Lage der Mandschu in Anbetracht dieser Denkweise
der Chinesen? -- Zweifellos sehr schlecht. Es läßt sich nicht leugnen, daß das
Herrscherhaus an denselben Schäden erkrankt ist, an denen viele chinesische
Dynastien gestorben sind: Verweichlichung der Männer, Genußsucht, oft Trunk¬
sucht in argem Grade, Verschwendung in unerhörtem Luxus, Weiber- und
Beamtenintrigen am Hofe. Das alles aber würde noch nichts schaden, wenn
nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte auch ein arger Verfall des Reichs ein¬
getreten wäre: die Verwaltung ist verwahrlost, das Volk in weitesten Kreisen
verelendet. Das war für den Chinesen schon um 1840 das untrügliche Zeichen,
daß diese Dynastie ihr vom Himmel zugewiesenes "Mandat" verloren hatte.
Man durfte sie also nach chinesischer Auffassung mit vollem Rechte beseitigen.
Der ungeheure Taipingaufstand hätte das auch bewirkt, wenn das Ausland
damals nicht eingegriffen hätte.

Um der Gerechtigkeit willen muß betont werden, daß die Mißstände in
China zum größten Teil nicht die Schuld der Dynastie, sondern darauf
zurückzuführen sind, daß der in ganz altertümlichen Formen lebende Staat mit
dem Ausland in Verbindung trat und ihm gegenüber völlig hilflos war.
Namentlich traten im Handel und Verkehrswesen ganz neue Ansprüche aus,
denen sich China nicht so rasch anpassen konnte. Vor allem fehlte eine Orga¬
nisation des Finanzwesens, das den neuen Ansprüchen gerecht wurde. Die
Europäer aber haben China oft nicht mit der nötigen Vorsicht und Schonung
behandelt, so daß die Stellung dieses auf seiue uralte Kultur stolzen Volkes
in der Welt recht schmählich erschien. Das empfanden die gebildeten Chinesen


Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

Agitatoren, in die revolutionäre Bewegung hineingetragen worden. Die süd¬
chinesischen Reformer, die aus China oft hatten flüchten müssen, wurden erst in
Japan darauf hingewiesen, daß die ihnen verhaßte Regierung der berühmten
Kaiserin-Witwe eine Fremdherrschaft bedeute. Namentlich betonte die japanische
Presse, daß die volksfremden Mandschu als ein den Chinesen geistig und
kulturell weit nachstehendes Volk die chinesische Zivilisation elend verkommen
ließen und jeden Fortschritt, jedes Streben nach besseren Staatseinrichtungen
hemmten. Die Mandschu seien noch halbe Barbaren und Reaktionäre, die
kulturstolze chinesische Nation dürfe ihre Herrschaft nicht dulden. Eine Volks¬
vertretung allein, eine parlamentarische Regierung, werde alle Wünsche Chinas
befriedigen. Neben die japanische Agitation trat der Einfluß einzelner in
Europa und Amerika gebildeter Chinesen. Seit alters ist der Literatenstand
in China die geistig führende Macht. Er hat diese modernen, besonders die
japanischen Anregungen in sich aufgenommen und sich damit zum Stimm¬
führer der Revolution gemacht, während sie den weiteren Kreisen des Volkes
fremd geblieben sind. Der nüchterne und praktische Chinese erkennt aber, nach
altchinesischer Auffassung, den Willen des Himmels am Erfolg. Verfalle der
Staat, so ist seine Dynastie nicht mehr zur Herrschaft berechtigt und muß einer
besseren weichen.

Wie ist nun heute die Lage der Mandschu in Anbetracht dieser Denkweise
der Chinesen? — Zweifellos sehr schlecht. Es läßt sich nicht leugnen, daß das
Herrscherhaus an denselben Schäden erkrankt ist, an denen viele chinesische
Dynastien gestorben sind: Verweichlichung der Männer, Genußsucht, oft Trunk¬
sucht in argem Grade, Verschwendung in unerhörtem Luxus, Weiber- und
Beamtenintrigen am Hofe. Das alles aber würde noch nichts schaden, wenn
nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte auch ein arger Verfall des Reichs ein¬
getreten wäre: die Verwaltung ist verwahrlost, das Volk in weitesten Kreisen
verelendet. Das war für den Chinesen schon um 1840 das untrügliche Zeichen,
daß diese Dynastie ihr vom Himmel zugewiesenes „Mandat" verloren hatte.
Man durfte sie also nach chinesischer Auffassung mit vollem Rechte beseitigen.
Der ungeheure Taipingaufstand hätte das auch bewirkt, wenn das Ausland
damals nicht eingegriffen hätte.

Um der Gerechtigkeit willen muß betont werden, daß die Mißstände in
China zum größten Teil nicht die Schuld der Dynastie, sondern darauf
zurückzuführen sind, daß der in ganz altertümlichen Formen lebende Staat mit
dem Ausland in Verbindung trat und ihm gegenüber völlig hilflos war.
Namentlich traten im Handel und Verkehrswesen ganz neue Ansprüche aus,
denen sich China nicht so rasch anpassen konnte. Vor allem fehlte eine Orga¬
nisation des Finanzwesens, das den neuen Ansprüchen gerecht wurde. Die
Europäer aber haben China oft nicht mit der nötigen Vorsicht und Schonung
behandelt, so daß die Stellung dieses auf seiue uralte Kultur stolzen Volkes
in der Welt recht schmählich erschien. Das empfanden die gebildeten Chinesen


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[0637] Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution Agitatoren, in die revolutionäre Bewegung hineingetragen worden. Die süd¬ chinesischen Reformer, die aus China oft hatten flüchten müssen, wurden erst in Japan darauf hingewiesen, daß die ihnen verhaßte Regierung der berühmten Kaiserin-Witwe eine Fremdherrschaft bedeute. Namentlich betonte die japanische Presse, daß die volksfremden Mandschu als ein den Chinesen geistig und kulturell weit nachstehendes Volk die chinesische Zivilisation elend verkommen ließen und jeden Fortschritt, jedes Streben nach besseren Staatseinrichtungen hemmten. Die Mandschu seien noch halbe Barbaren und Reaktionäre, die kulturstolze chinesische Nation dürfe ihre Herrschaft nicht dulden. Eine Volks¬ vertretung allein, eine parlamentarische Regierung, werde alle Wünsche Chinas befriedigen. Neben die japanische Agitation trat der Einfluß einzelner in Europa und Amerika gebildeter Chinesen. Seit alters ist der Literatenstand in China die geistig führende Macht. Er hat diese modernen, besonders die japanischen Anregungen in sich aufgenommen und sich damit zum Stimm¬ führer der Revolution gemacht, während sie den weiteren Kreisen des Volkes fremd geblieben sind. Der nüchterne und praktische Chinese erkennt aber, nach altchinesischer Auffassung, den Willen des Himmels am Erfolg. Verfalle der Staat, so ist seine Dynastie nicht mehr zur Herrschaft berechtigt und muß einer besseren weichen. Wie ist nun heute die Lage der Mandschu in Anbetracht dieser Denkweise der Chinesen? — Zweifellos sehr schlecht. Es läßt sich nicht leugnen, daß das Herrscherhaus an denselben Schäden erkrankt ist, an denen viele chinesische Dynastien gestorben sind: Verweichlichung der Männer, Genußsucht, oft Trunk¬ sucht in argem Grade, Verschwendung in unerhörtem Luxus, Weiber- und Beamtenintrigen am Hofe. Das alles aber würde noch nichts schaden, wenn nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte auch ein arger Verfall des Reichs ein¬ getreten wäre: die Verwaltung ist verwahrlost, das Volk in weitesten Kreisen verelendet. Das war für den Chinesen schon um 1840 das untrügliche Zeichen, daß diese Dynastie ihr vom Himmel zugewiesenes „Mandat" verloren hatte. Man durfte sie also nach chinesischer Auffassung mit vollem Rechte beseitigen. Der ungeheure Taipingaufstand hätte das auch bewirkt, wenn das Ausland damals nicht eingegriffen hätte. Um der Gerechtigkeit willen muß betont werden, daß die Mißstände in China zum größten Teil nicht die Schuld der Dynastie, sondern darauf zurückzuführen sind, daß der in ganz altertümlichen Formen lebende Staat mit dem Ausland in Verbindung trat und ihm gegenüber völlig hilflos war. Namentlich traten im Handel und Verkehrswesen ganz neue Ansprüche aus, denen sich China nicht so rasch anpassen konnte. Vor allem fehlte eine Orga¬ nisation des Finanzwesens, das den neuen Ansprüchen gerecht wurde. Die Europäer aber haben China oft nicht mit der nötigen Vorsicht und Schonung behandelt, so daß die Stellung dieses auf seiue uralte Kultur stolzen Volkes in der Welt recht schmählich erschien. Das empfanden die gebildeten Chinesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/637>, abgerufen am 23.07.2024.