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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

zuletzt noch ein Besonderes. Die Verfassung und Verwaltung des chinesischen
Reiches ruht seit ältester Zeit bis heute auf dem Grundgedanken, daß die
menschliche Gemeinschaft von einer höchsten Weisheit, von einer göttlichen Macht
gelenkt werde. Die menschliche Gemeinschaft ist der Staat, die göttliche Welt¬
leitung tritt im Herrscher hervor, dem Vermittler zwischen Himmel und Erde,
dem die Gottheit den Auftrag gegeben hat, das Wohl der Gesamtheit sowohl
in materieller als auch in sittlicher Beziehung zu fördern und zu sichern. Dieses
Wohl der Gesamtheit ist geknüpft an die staatliche Ordnung; sie zu wahren ist
die Pflicht vor allem der Beamten. Der oft und mit Recht gerühmte soziale
Ordnungssinn der Chinesen und ihr Pietätsgefühl beruhen auf diesem politischen
Gedanken. Vor allem hat die Regierung, um dem Wohl des Ganzen zu dienen,
die Pflicht, die Untertanen zu belehren, sie sittlich zu erziehen, sie in ihrer
Arbeit zu fördern und zu schützen. Auch ein sozialistisches Element ist somit
im chinesischen Staatsgedanken eingeschlossen und ist gerade von den bedeutendsten
politischen und philosophischen Denkern Chinas -- vor allem von Lao-the -- oft
zum Ausdruck gebracht worden.

Der chinesische Staatsgedanke kennt ferner von vornherein keine nationalen
Grenzen. Wie die göttliche Weisheit die das Weltganze beherrschende Macht
ist, so kann sie auch nur in einem politischen Gebilde zum Ausdruck kommen,
das keine Schranken kennt, d. h. der chinesische Staat ist in der Theorie ein
Universalstaat, er umfaßt im Prinzip die ganze Menschheit. Da die chinesische
Regierung keine gleichberechtigten selbständigen Mächte neben sich kennen konnte,
sondern nur Vasallen oder Barbaren, die der Herrschaft des Himmels noch nicht
gewonnen waren, sind ihre Vertreter in China oft auf so große Schwierigkeiten
gestoßen.

Der chinesische Staat ist somit in seinem Wesen die Darstellung des höchsten
Weltgesetzes in der Form eines religiösen Weltstaates, an dessen Spitze der
absolute Herrscher, der "Himmelssohn", steht. Wir können also China --
freilich in einem besonderen Sinne -- als eine "Theokratie" bezeichnen. Von
seinen höchsten Beamten umgeben bildet der Herrscher die Zentralgewalt; er
überweist die Teilgebiete des Reiches an seine Vasallen, um sie in seinem Namen
und nach seinen Weisungen zu regieren. Und diese höchste Vollmacht, die der
Himmel dem Kaiser verleiht, wird weiter geteilt und ausgebreitet durch die
Beamtenschaft. Jeder Beamte hat an dieser vom Himmel stammenden Macht
Anteil und soll sie im Bereich seiner Tätigkeit anwenden, um den Staatszweck,
das Wohl der menschlichen Gemeinschaft, zu erfüllen.

So sieht der chinesische Staat im politischen Denken der Chinesen aus.
Wir müssen darin ihr politisches Ideal erkennen; ob es freilich jemals in dieser
Gestalt Wirklichkeit gewesen ist, ist eine andere Frage. Die konfuzianische
Literatur behauptet zwar, daß von den ersten Herrschern im chinesischen Altertum
dieser Idealstaat als Vorbild für alle Zeit geschaffen sei. Die geschichtlichen
Urkunden aber, die aus der alten Zeit erhalten sind, beweisen, daß Herrscher


Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

zuletzt noch ein Besonderes. Die Verfassung und Verwaltung des chinesischen
Reiches ruht seit ältester Zeit bis heute auf dem Grundgedanken, daß die
menschliche Gemeinschaft von einer höchsten Weisheit, von einer göttlichen Macht
gelenkt werde. Die menschliche Gemeinschaft ist der Staat, die göttliche Welt¬
leitung tritt im Herrscher hervor, dem Vermittler zwischen Himmel und Erde,
dem die Gottheit den Auftrag gegeben hat, das Wohl der Gesamtheit sowohl
in materieller als auch in sittlicher Beziehung zu fördern und zu sichern. Dieses
Wohl der Gesamtheit ist geknüpft an die staatliche Ordnung; sie zu wahren ist
die Pflicht vor allem der Beamten. Der oft und mit Recht gerühmte soziale
Ordnungssinn der Chinesen und ihr Pietätsgefühl beruhen auf diesem politischen
Gedanken. Vor allem hat die Regierung, um dem Wohl des Ganzen zu dienen,
die Pflicht, die Untertanen zu belehren, sie sittlich zu erziehen, sie in ihrer
Arbeit zu fördern und zu schützen. Auch ein sozialistisches Element ist somit
im chinesischen Staatsgedanken eingeschlossen und ist gerade von den bedeutendsten
politischen und philosophischen Denkern Chinas — vor allem von Lao-the — oft
zum Ausdruck gebracht worden.

Der chinesische Staatsgedanke kennt ferner von vornherein keine nationalen
Grenzen. Wie die göttliche Weisheit die das Weltganze beherrschende Macht
ist, so kann sie auch nur in einem politischen Gebilde zum Ausdruck kommen,
das keine Schranken kennt, d. h. der chinesische Staat ist in der Theorie ein
Universalstaat, er umfaßt im Prinzip die ganze Menschheit. Da die chinesische
Regierung keine gleichberechtigten selbständigen Mächte neben sich kennen konnte,
sondern nur Vasallen oder Barbaren, die der Herrschaft des Himmels noch nicht
gewonnen waren, sind ihre Vertreter in China oft auf so große Schwierigkeiten
gestoßen.

Der chinesische Staat ist somit in seinem Wesen die Darstellung des höchsten
Weltgesetzes in der Form eines religiösen Weltstaates, an dessen Spitze der
absolute Herrscher, der „Himmelssohn", steht. Wir können also China —
freilich in einem besonderen Sinne — als eine „Theokratie" bezeichnen. Von
seinen höchsten Beamten umgeben bildet der Herrscher die Zentralgewalt; er
überweist die Teilgebiete des Reiches an seine Vasallen, um sie in seinem Namen
und nach seinen Weisungen zu regieren. Und diese höchste Vollmacht, die der
Himmel dem Kaiser verleiht, wird weiter geteilt und ausgebreitet durch die
Beamtenschaft. Jeder Beamte hat an dieser vom Himmel stammenden Macht
Anteil und soll sie im Bereich seiner Tätigkeit anwenden, um den Staatszweck,
das Wohl der menschlichen Gemeinschaft, zu erfüllen.

So sieht der chinesische Staat im politischen Denken der Chinesen aus.
Wir müssen darin ihr politisches Ideal erkennen; ob es freilich jemals in dieser
Gestalt Wirklichkeit gewesen ist, ist eine andere Frage. Die konfuzianische
Literatur behauptet zwar, daß von den ersten Herrschern im chinesischen Altertum
dieser Idealstaat als Vorbild für alle Zeit geschaffen sei. Die geschichtlichen
Urkunden aber, die aus der alten Zeit erhalten sind, beweisen, daß Herrscher


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[0634] Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution zuletzt noch ein Besonderes. Die Verfassung und Verwaltung des chinesischen Reiches ruht seit ältester Zeit bis heute auf dem Grundgedanken, daß die menschliche Gemeinschaft von einer höchsten Weisheit, von einer göttlichen Macht gelenkt werde. Die menschliche Gemeinschaft ist der Staat, die göttliche Welt¬ leitung tritt im Herrscher hervor, dem Vermittler zwischen Himmel und Erde, dem die Gottheit den Auftrag gegeben hat, das Wohl der Gesamtheit sowohl in materieller als auch in sittlicher Beziehung zu fördern und zu sichern. Dieses Wohl der Gesamtheit ist geknüpft an die staatliche Ordnung; sie zu wahren ist die Pflicht vor allem der Beamten. Der oft und mit Recht gerühmte soziale Ordnungssinn der Chinesen und ihr Pietätsgefühl beruhen auf diesem politischen Gedanken. Vor allem hat die Regierung, um dem Wohl des Ganzen zu dienen, die Pflicht, die Untertanen zu belehren, sie sittlich zu erziehen, sie in ihrer Arbeit zu fördern und zu schützen. Auch ein sozialistisches Element ist somit im chinesischen Staatsgedanken eingeschlossen und ist gerade von den bedeutendsten politischen und philosophischen Denkern Chinas — vor allem von Lao-the — oft zum Ausdruck gebracht worden. Der chinesische Staatsgedanke kennt ferner von vornherein keine nationalen Grenzen. Wie die göttliche Weisheit die das Weltganze beherrschende Macht ist, so kann sie auch nur in einem politischen Gebilde zum Ausdruck kommen, das keine Schranken kennt, d. h. der chinesische Staat ist in der Theorie ein Universalstaat, er umfaßt im Prinzip die ganze Menschheit. Da die chinesische Regierung keine gleichberechtigten selbständigen Mächte neben sich kennen konnte, sondern nur Vasallen oder Barbaren, die der Herrschaft des Himmels noch nicht gewonnen waren, sind ihre Vertreter in China oft auf so große Schwierigkeiten gestoßen. Der chinesische Staat ist somit in seinem Wesen die Darstellung des höchsten Weltgesetzes in der Form eines religiösen Weltstaates, an dessen Spitze der absolute Herrscher, der „Himmelssohn", steht. Wir können also China — freilich in einem besonderen Sinne — als eine „Theokratie" bezeichnen. Von seinen höchsten Beamten umgeben bildet der Herrscher die Zentralgewalt; er überweist die Teilgebiete des Reiches an seine Vasallen, um sie in seinem Namen und nach seinen Weisungen zu regieren. Und diese höchste Vollmacht, die der Himmel dem Kaiser verleiht, wird weiter geteilt und ausgebreitet durch die Beamtenschaft. Jeder Beamte hat an dieser vom Himmel stammenden Macht Anteil und soll sie im Bereich seiner Tätigkeit anwenden, um den Staatszweck, das Wohl der menschlichen Gemeinschaft, zu erfüllen. So sieht der chinesische Staat im politischen Denken der Chinesen aus. Wir müssen darin ihr politisches Ideal erkennen; ob es freilich jemals in dieser Gestalt Wirklichkeit gewesen ist, ist eine andere Frage. Die konfuzianische Literatur behauptet zwar, daß von den ersten Herrschern im chinesischen Altertum dieser Idealstaat als Vorbild für alle Zeit geschaffen sei. Die geschichtlichen Urkunden aber, die aus der alten Zeit erhalten sind, beweisen, daß Herrscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/634>, abgerufen am 23.07.2024.