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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I. I. Rousseau als Erzieher

nur in einer Halbheit geführt wird, daß e? schließlich zu einer Art Farce wird.
Und das war bei Rousseau der Fall. Es wurde oben auf eine Zwiespältigkeit
der ganzen Zeit hingedeutet, Rousseau ist nun aber selbst ein Abbild dieser
Zwiespältigkeit: er hungert nach Einfachheit und Schlichtheit des natürlichen
Lebens und macht in seiner wirklichen Lebensführung denselben unreinen Eindruck
wie die Gesellschaft, die er fliehen möchte; er nennt sich einen Freund der
natürlichen Einfalt und gibt in den Salons gern einfältige Dinge zum besten,
um den übersättigten Seelen einen billigen Spott zu verschaffen, auch auf Kosten
seiner eigenen Frau; er fordert eine vernunftgemäße Erziehung durch die Mütter
und schickt seine Kinder ins Findelhaus. Man braucht die Gründe, die er
hierfür findet, noch nicht als bloße Sophismen anzusehen, und man wird doch
eine grenzenlose Gefühlsroheit darin erkennen müssen; der natürlich-objektive
Standpunkt, den der Mann vielleicht seinem Kinde bis zur Geburt gegenüber
einnimmt, weicht in diesem Augenblicke sicher in jedem Falle dem persönlich-
gefühlsbetonten. So aber hatten seine Gegner wenigstens den Schein eines
Rechts für sich, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Übrigens macht einiges in
seiner Lebensführung einen direkt pathologischen Eindruck.

Die zweite Abhandlung "Über die Ungleichheit unter den Menschen" hat
merkwürdigerweise nicht den Erfolg der ersten gehabt, obwohl Rousseau mit
ganz anderem Rüstzeuge ausgestattet an sie heranging. Sie verleugnet ihren
Urheber, der zuerst mit dem Herzen schreibt und überhaupt kein realistischer
Denker ist, nicht. Er tritt mit seinen Ideen an den Stoff heran und verfolgt
nun diese mit wunderbarer Ruhe bis in die letzten Konsequenzen; denn er ist eine
völlig sreie, subjektive Persönlichkeit, freier und vorurteilsloser als sogar ein
Voltaire, und stellt auch in dieser Beziehung etwas von einem Propheten einer
neuen Zeit dar. Aus seiner Art zu denken erklären sich auch die vielen Irrtümer,
die heute leicht als solche nachzuweisen sind. Unrichtig ist aber, aus seinem
Nachweise, daß "die Ungleichheit erst durch die Entwicklung der menschlichen
Anlagen und den Fortschritt der geistigen Bildung Leben und Wachstum gewinnt
und mit der Gründung des Eigentums und der Gesetze festen Bestand erhält",
zu schließen, er habe den Menschen tatsächlich in einen Naturzustand zurückführen
wollen, wenn auch aus seinen Schlußfolgerungen sicher ein gewisser Pessimismus
spricht, wie er immer die Kehrseite einer auf eudämonistischer Grundlage
ruhenden Ethik ist.

Was er unter dem Begriff "Natur" versteht, wird uns völlig deutlich erst
durch seinen "Emil".') Natur ist ihm immer das Ursprüngliche, dasjenige in
allen Erscheinungen, was nur aus den ewigen Grundgesetzen unmittelbar folgt,
und der Urheber der Dinge, Gott, ist zunächst nichts anderes, als diese Grund¬
gesetze insgesamt, die Vereinigung von Intelligenz und Wille, aus der alle



") Soeben ist eine Volksausgabe des "Emil" (Alfred Kröner Verlag, Leipzig) in zwei
hübschen Bänden zu 1 M. erschienen. Sie ist von Dr. Heinrich Schmidt, Assistent von
D. Schriftltg. Prof. Haeckel in Jena, nach der Übersetzung von Große herausgegeben.
I. I. Rousseau als Erzieher

nur in einer Halbheit geführt wird, daß e? schließlich zu einer Art Farce wird.
Und das war bei Rousseau der Fall. Es wurde oben auf eine Zwiespältigkeit
der ganzen Zeit hingedeutet, Rousseau ist nun aber selbst ein Abbild dieser
Zwiespältigkeit: er hungert nach Einfachheit und Schlichtheit des natürlichen
Lebens und macht in seiner wirklichen Lebensführung denselben unreinen Eindruck
wie die Gesellschaft, die er fliehen möchte; er nennt sich einen Freund der
natürlichen Einfalt und gibt in den Salons gern einfältige Dinge zum besten,
um den übersättigten Seelen einen billigen Spott zu verschaffen, auch auf Kosten
seiner eigenen Frau; er fordert eine vernunftgemäße Erziehung durch die Mütter
und schickt seine Kinder ins Findelhaus. Man braucht die Gründe, die er
hierfür findet, noch nicht als bloße Sophismen anzusehen, und man wird doch
eine grenzenlose Gefühlsroheit darin erkennen müssen; der natürlich-objektive
Standpunkt, den der Mann vielleicht seinem Kinde bis zur Geburt gegenüber
einnimmt, weicht in diesem Augenblicke sicher in jedem Falle dem persönlich-
gefühlsbetonten. So aber hatten seine Gegner wenigstens den Schein eines
Rechts für sich, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Übrigens macht einiges in
seiner Lebensführung einen direkt pathologischen Eindruck.

Die zweite Abhandlung „Über die Ungleichheit unter den Menschen" hat
merkwürdigerweise nicht den Erfolg der ersten gehabt, obwohl Rousseau mit
ganz anderem Rüstzeuge ausgestattet an sie heranging. Sie verleugnet ihren
Urheber, der zuerst mit dem Herzen schreibt und überhaupt kein realistischer
Denker ist, nicht. Er tritt mit seinen Ideen an den Stoff heran und verfolgt
nun diese mit wunderbarer Ruhe bis in die letzten Konsequenzen; denn er ist eine
völlig sreie, subjektive Persönlichkeit, freier und vorurteilsloser als sogar ein
Voltaire, und stellt auch in dieser Beziehung etwas von einem Propheten einer
neuen Zeit dar. Aus seiner Art zu denken erklären sich auch die vielen Irrtümer,
die heute leicht als solche nachzuweisen sind. Unrichtig ist aber, aus seinem
Nachweise, daß „die Ungleichheit erst durch die Entwicklung der menschlichen
Anlagen und den Fortschritt der geistigen Bildung Leben und Wachstum gewinnt
und mit der Gründung des Eigentums und der Gesetze festen Bestand erhält",
zu schließen, er habe den Menschen tatsächlich in einen Naturzustand zurückführen
wollen, wenn auch aus seinen Schlußfolgerungen sicher ein gewisser Pessimismus
spricht, wie er immer die Kehrseite einer auf eudämonistischer Grundlage
ruhenden Ethik ist.

Was er unter dem Begriff „Natur" versteht, wird uns völlig deutlich erst
durch seinen „Emil".') Natur ist ihm immer das Ursprüngliche, dasjenige in
allen Erscheinungen, was nur aus den ewigen Grundgesetzen unmittelbar folgt,
und der Urheber der Dinge, Gott, ist zunächst nichts anderes, als diese Grund¬
gesetze insgesamt, die Vereinigung von Intelligenz und Wille, aus der alle



") Soeben ist eine Volksausgabe des „Emil" (Alfred Kröner Verlag, Leipzig) in zwei
hübschen Bänden zu 1 M. erschienen. Sie ist von Dr. Heinrich Schmidt, Assistent von
D. Schriftltg. Prof. Haeckel in Jena, nach der Übersetzung von Große herausgegeben.
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[0619] I. I. Rousseau als Erzieher nur in einer Halbheit geführt wird, daß e? schließlich zu einer Art Farce wird. Und das war bei Rousseau der Fall. Es wurde oben auf eine Zwiespältigkeit der ganzen Zeit hingedeutet, Rousseau ist nun aber selbst ein Abbild dieser Zwiespältigkeit: er hungert nach Einfachheit und Schlichtheit des natürlichen Lebens und macht in seiner wirklichen Lebensführung denselben unreinen Eindruck wie die Gesellschaft, die er fliehen möchte; er nennt sich einen Freund der natürlichen Einfalt und gibt in den Salons gern einfältige Dinge zum besten, um den übersättigten Seelen einen billigen Spott zu verschaffen, auch auf Kosten seiner eigenen Frau; er fordert eine vernunftgemäße Erziehung durch die Mütter und schickt seine Kinder ins Findelhaus. Man braucht die Gründe, die er hierfür findet, noch nicht als bloße Sophismen anzusehen, und man wird doch eine grenzenlose Gefühlsroheit darin erkennen müssen; der natürlich-objektive Standpunkt, den der Mann vielleicht seinem Kinde bis zur Geburt gegenüber einnimmt, weicht in diesem Augenblicke sicher in jedem Falle dem persönlich- gefühlsbetonten. So aber hatten seine Gegner wenigstens den Schein eines Rechts für sich, an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Übrigens macht einiges in seiner Lebensführung einen direkt pathologischen Eindruck. Die zweite Abhandlung „Über die Ungleichheit unter den Menschen" hat merkwürdigerweise nicht den Erfolg der ersten gehabt, obwohl Rousseau mit ganz anderem Rüstzeuge ausgestattet an sie heranging. Sie verleugnet ihren Urheber, der zuerst mit dem Herzen schreibt und überhaupt kein realistischer Denker ist, nicht. Er tritt mit seinen Ideen an den Stoff heran und verfolgt nun diese mit wunderbarer Ruhe bis in die letzten Konsequenzen; denn er ist eine völlig sreie, subjektive Persönlichkeit, freier und vorurteilsloser als sogar ein Voltaire, und stellt auch in dieser Beziehung etwas von einem Propheten einer neuen Zeit dar. Aus seiner Art zu denken erklären sich auch die vielen Irrtümer, die heute leicht als solche nachzuweisen sind. Unrichtig ist aber, aus seinem Nachweise, daß „die Ungleichheit erst durch die Entwicklung der menschlichen Anlagen und den Fortschritt der geistigen Bildung Leben und Wachstum gewinnt und mit der Gründung des Eigentums und der Gesetze festen Bestand erhält", zu schließen, er habe den Menschen tatsächlich in einen Naturzustand zurückführen wollen, wenn auch aus seinen Schlußfolgerungen sicher ein gewisser Pessimismus spricht, wie er immer die Kehrseite einer auf eudämonistischer Grundlage ruhenden Ethik ist. Was er unter dem Begriff „Natur" versteht, wird uns völlig deutlich erst durch seinen „Emil".') Natur ist ihm immer das Ursprüngliche, dasjenige in allen Erscheinungen, was nur aus den ewigen Grundgesetzen unmittelbar folgt, und der Urheber der Dinge, Gott, ist zunächst nichts anderes, als diese Grund¬ gesetze insgesamt, die Vereinigung von Intelligenz und Wille, aus der alle ") Soeben ist eine Volksausgabe des „Emil" (Alfred Kröner Verlag, Leipzig) in zwei hübschen Bänden zu 1 M. erschienen. Sie ist von Dr. Heinrich Schmidt, Assistent von D. Schriftltg. Prof. Haeckel in Jena, nach der Übersetzung von Große herausgegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/619>, abgerufen am 22.07.2024.