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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Unser Ich

Oesterreichs Buch: "Die Phünomenologie des Ich in ihren Grundproblemen."
Man hat in diesen Krankheitserscheinungen den triftigsten Einwand gegen
jede Subjektspsychologie erblickt. Sprechen nun die Bewußtseinsstörungen,
die Doppelheitserscheinungen, so wie wir sie hier kennen lernen, tatsächlich
gegen die Einheit unseres seelischen Subjektes? Wir haben als Ursache dieser
Erscheinungen zunächst in allen Fällen starke Gedächtnisstörungen anzu¬
nehmen, die sich zuweilen so steigern, daß der Kranke seinen Namen und
sein ganzes bisheriges Leben vergißt. Dazu gesellen sich -- vor allem in
den Fällen simultaner Spaltung -- oft psychische Zwangsprozesse; sie können
zuweilen den beabsichtigten Betätigungen so stark entgegengesetzt sein, daß
die Kranken das Gefühl haben, als lebte in ihnen ein anderes Ich, das
z. B. Verwünschungen ausspricht, während sie beten wollen, oder das beständig
zwangsmäßig rechnet oder kritisiert. Die Besessenheitserscheinungen, die vor
allem in religiös-erregten und abergläubischen Zeiten häufig beobachtet werden,
sind psychologisch auf diesem Wege zu erklären. Auch unnormal starke Einfühlung
in das Seelenleben anderer Menschen kann zu der Illusion führen, als ob wir
ein Stück dieser anderen Persönlichkeit in uns trügen, und somit ein Doppeldasein
führten. In allen diesen Fällen also handelt es sich um eine Trübung des
gesunden Urteils, die durch Störungen im Seelenleben hervorgerufen wird.

Liegt nun aber dein scheinbaren Verlust oder der scheinbaren Verdoppelung
der Persönlichkeit eine wirkliche Verdoppelung oder eine entsprechende Veränderung
des seelischen Subjektes zugrunde? Ist der Gedanke auch nur faßbar, daß der
seelische Tatbestand wirklich der pathologischen Deutung, die die Kranken ihm
geben, entspreche? Fassen sie sich doch oft zu gleicher Zeit als verdoppelt und
als nicht mehr vorhanden auf! Wie will eine wörtliche Deutung diese wider¬
sprechenden Tatsachen reimen? Als elementarste Krankheitsursache müssen wir
in allen Fällen dieser Bewußtseinsstörungen krankhafte Veränderungen des
gesamten Lebensgefühls annehmen. Das Bewußtwerden einer solchen Veränderung
aber setzt voraus, daß der frühere Zustand -- wenn auch noch so unklar --
erinnert, mit dem jetzigen verglichen, und die Veränderung daraufhin gespürt
werde. Setzt aber nicht jedes, auch das unklarste Vergleichen und das schwächste
Bewußtsein einer Veränderung wiederum voraus, daß dasselbe Subjekt es ist,
das einst jenes und jetzt dieses erlebt, und das darum die Veränderung bemerkt?
So scheint also die pathologische Bewußtseinsstörung gerade das Vorhandensein
eines inmitten aller Veränderungen identischen Subjektes zu beweisen.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, daß bei aller Gedächtnisstörung
der Verlust des Gedächtnisses nirgends radikal ist. Sonst müßte ja das Sprechen,
das Erkennen, kurz jede Funktion und jedes Vorstellen und Denken neu erlernt
werden; denn für sie alle sind Gedächtnisspuren die Lonäitio sine qua non.
Wir müssen uns ferner klar machen, daß jede Möglichkeit eines Gedächtnisses



*) Bd. I Verlag von Johann Ambrosius Beirdd,
Grsnzbotm II 191278
Unser Ich

Oesterreichs Buch: „Die Phünomenologie des Ich in ihren Grundproblemen."
Man hat in diesen Krankheitserscheinungen den triftigsten Einwand gegen
jede Subjektspsychologie erblickt. Sprechen nun die Bewußtseinsstörungen,
die Doppelheitserscheinungen, so wie wir sie hier kennen lernen, tatsächlich
gegen die Einheit unseres seelischen Subjektes? Wir haben als Ursache dieser
Erscheinungen zunächst in allen Fällen starke Gedächtnisstörungen anzu¬
nehmen, die sich zuweilen so steigern, daß der Kranke seinen Namen und
sein ganzes bisheriges Leben vergißt. Dazu gesellen sich — vor allem in
den Fällen simultaner Spaltung — oft psychische Zwangsprozesse; sie können
zuweilen den beabsichtigten Betätigungen so stark entgegengesetzt sein, daß
die Kranken das Gefühl haben, als lebte in ihnen ein anderes Ich, das
z. B. Verwünschungen ausspricht, während sie beten wollen, oder das beständig
zwangsmäßig rechnet oder kritisiert. Die Besessenheitserscheinungen, die vor
allem in religiös-erregten und abergläubischen Zeiten häufig beobachtet werden,
sind psychologisch auf diesem Wege zu erklären. Auch unnormal starke Einfühlung
in das Seelenleben anderer Menschen kann zu der Illusion führen, als ob wir
ein Stück dieser anderen Persönlichkeit in uns trügen, und somit ein Doppeldasein
führten. In allen diesen Fällen also handelt es sich um eine Trübung des
gesunden Urteils, die durch Störungen im Seelenleben hervorgerufen wird.

Liegt nun aber dein scheinbaren Verlust oder der scheinbaren Verdoppelung
der Persönlichkeit eine wirkliche Verdoppelung oder eine entsprechende Veränderung
des seelischen Subjektes zugrunde? Ist der Gedanke auch nur faßbar, daß der
seelische Tatbestand wirklich der pathologischen Deutung, die die Kranken ihm
geben, entspreche? Fassen sie sich doch oft zu gleicher Zeit als verdoppelt und
als nicht mehr vorhanden auf! Wie will eine wörtliche Deutung diese wider¬
sprechenden Tatsachen reimen? Als elementarste Krankheitsursache müssen wir
in allen Fällen dieser Bewußtseinsstörungen krankhafte Veränderungen des
gesamten Lebensgefühls annehmen. Das Bewußtwerden einer solchen Veränderung
aber setzt voraus, daß der frühere Zustand — wenn auch noch so unklar —
erinnert, mit dem jetzigen verglichen, und die Veränderung daraufhin gespürt
werde. Setzt aber nicht jedes, auch das unklarste Vergleichen und das schwächste
Bewußtsein einer Veränderung wiederum voraus, daß dasselbe Subjekt es ist,
das einst jenes und jetzt dieses erlebt, und das darum die Veränderung bemerkt?
So scheint also die pathologische Bewußtseinsstörung gerade das Vorhandensein
eines inmitten aller Veränderungen identischen Subjektes zu beweisen.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, daß bei aller Gedächtnisstörung
der Verlust des Gedächtnisses nirgends radikal ist. Sonst müßte ja das Sprechen,
das Erkennen, kurz jede Funktion und jedes Vorstellen und Denken neu erlernt
werden; denn für sie alle sind Gedächtnisspuren die Lonäitio sine qua non.
Wir müssen uns ferner klar machen, daß jede Möglichkeit eines Gedächtnisses



*) Bd. I Verlag von Johann Ambrosius Beirdd,
Grsnzbotm II 191278
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[0585] Unser Ich Oesterreichs Buch: „Die Phünomenologie des Ich in ihren Grundproblemen." Man hat in diesen Krankheitserscheinungen den triftigsten Einwand gegen jede Subjektspsychologie erblickt. Sprechen nun die Bewußtseinsstörungen, die Doppelheitserscheinungen, so wie wir sie hier kennen lernen, tatsächlich gegen die Einheit unseres seelischen Subjektes? Wir haben als Ursache dieser Erscheinungen zunächst in allen Fällen starke Gedächtnisstörungen anzu¬ nehmen, die sich zuweilen so steigern, daß der Kranke seinen Namen und sein ganzes bisheriges Leben vergißt. Dazu gesellen sich — vor allem in den Fällen simultaner Spaltung — oft psychische Zwangsprozesse; sie können zuweilen den beabsichtigten Betätigungen so stark entgegengesetzt sein, daß die Kranken das Gefühl haben, als lebte in ihnen ein anderes Ich, das z. B. Verwünschungen ausspricht, während sie beten wollen, oder das beständig zwangsmäßig rechnet oder kritisiert. Die Besessenheitserscheinungen, die vor allem in religiös-erregten und abergläubischen Zeiten häufig beobachtet werden, sind psychologisch auf diesem Wege zu erklären. Auch unnormal starke Einfühlung in das Seelenleben anderer Menschen kann zu der Illusion führen, als ob wir ein Stück dieser anderen Persönlichkeit in uns trügen, und somit ein Doppeldasein führten. In allen diesen Fällen also handelt es sich um eine Trübung des gesunden Urteils, die durch Störungen im Seelenleben hervorgerufen wird. Liegt nun aber dein scheinbaren Verlust oder der scheinbaren Verdoppelung der Persönlichkeit eine wirkliche Verdoppelung oder eine entsprechende Veränderung des seelischen Subjektes zugrunde? Ist der Gedanke auch nur faßbar, daß der seelische Tatbestand wirklich der pathologischen Deutung, die die Kranken ihm geben, entspreche? Fassen sie sich doch oft zu gleicher Zeit als verdoppelt und als nicht mehr vorhanden auf! Wie will eine wörtliche Deutung diese wider¬ sprechenden Tatsachen reimen? Als elementarste Krankheitsursache müssen wir in allen Fällen dieser Bewußtseinsstörungen krankhafte Veränderungen des gesamten Lebensgefühls annehmen. Das Bewußtwerden einer solchen Veränderung aber setzt voraus, daß der frühere Zustand — wenn auch noch so unklar — erinnert, mit dem jetzigen verglichen, und die Veränderung daraufhin gespürt werde. Setzt aber nicht jedes, auch das unklarste Vergleichen und das schwächste Bewußtsein einer Veränderung wiederum voraus, daß dasselbe Subjekt es ist, das einst jenes und jetzt dieses erlebt, und das darum die Veränderung bemerkt? So scheint also die pathologische Bewußtseinsstörung gerade das Vorhandensein eines inmitten aller Veränderungen identischen Subjektes zu beweisen. Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, daß bei aller Gedächtnisstörung der Verlust des Gedächtnisses nirgends radikal ist. Sonst müßte ja das Sprechen, das Erkennen, kurz jede Funktion und jedes Vorstellen und Denken neu erlernt werden; denn für sie alle sind Gedächtnisspuren die Lonäitio sine qua non. Wir müssen uns ferner klar machen, daß jede Möglichkeit eines Gedächtnisses *) Bd. I Verlag von Johann Ambrosius Beirdd, Grsnzbotm II 191278

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/585>, abgerufen am 23.07.2024.