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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Unser Ich

tümlicher Weise unseres eigenen Zustandes oder des Wertes, den irgendein
Erlebnis für uns hat, bewußt werden: die mannigfache, fein differenzierte Skala
der organisch oder intellektuell bedingten Gefühle, der Stimmungen, der Affekte und
Leidenschaften. Alle diese Momente aber werden in besonderem Maße für uns
wirksam, indem sie, im Verein mit unserem Vorstellen und Denken, als Wünsche,
als Triebe und Neigungen, als Ziele, Grundsätze und Ideale -- zu Beweg¬
gründen für unser Wollen und Handeln werden.

So kann man unser Seelenleben einem Strom vergleichen, in dem beständig
unzählige Wellen dahinfließen, einander bedingen und ablösen, entstehen und wieder
vergehen. Aber in diesem unendlichen Wechselspiel, in dem kein Moment dem vorigen
völlig gleicht -- wo sind wir selbst? Wir sind es, so werden wir antworten, unser
Ich, dem alle die wechselnden Erlebnisse gegeben sind, die Subjekte des Vor-
stellens. Denkens, Fühlens und Wollens. Gewiß; aber was ist dieses Ich?
Ist es etwas anderes als wiederum ein Erlebnis, das in jedem Augenblick zu
der Fülle der anderen Erlebnisse hinzugefügt wird? Die seelischen Erlebnisse sind
in der Tat so beschaffen, als ob ein Subjekt es wäre, das sie alle auf sich bezieht. Aber
was bürgt uns dafür, daß dieser Beziehung, die eben zu den seelischen Funktionen
gehört, ein tatsächliches Verhalten entspricht. -- daß der erlebten Einheit eine
wirkliche zugrunde liegt? Worin sollte auch die Identität eines innerhalb des bestän¬
digen Wechsels beharrenden seelischen Subjektes bestehen? Haben wir doch in der
gesamten übrigen Wirklichkeit kein Anologon für ein solches Verhalten. Ist
die erlebte Bewnßtseinseinheit nicht vollkommen erklärt, wenn wir sie -- mit
hervorragenden modernen Psychologen -- aus den Gedächtnistatsachen, ohne
Zuhilfenahme eines rätselhaften identischen Subjektes, abzuleiten versuchen?
Bleiben die Spuren des einmal Erfahrenen im Gedächtnis und beleben
sie sich bei neuen ähnlichen Erlebnissen wieder, dann entsteht eine Kontinuität
in unserem Bewußtsein, die die Erscheinung der Subjektseinheit hervorbringen
könnte.

Ist es schon schwer, im normalen Leben das Bestehen einer wirklichen
Subjektseinheit zu denken, so enthalten bestimmte psychopathologische Tatsachen,
wie es scheint, den wirklichen Beweis von der Uneinheitlichkeit unseres Seelen¬
lebens. Es sind die Fälle veränderten oder verdoppelten Bewußtseins, in denen
die Kranken sich tatsächlich in periodischem Wechsel als zwei oder mehrere
Persönlichkeiten vorkommen. Oft zeigt dabei das eine Persönlichkeitsbild einen
anderen Habitus als das andere; Erinnerungen reichen entweder überhaupt
nicht herüber und hinüber, oder es fehlt doch jedes Bewußtsein, daß die beiden
völlig verschiedenen Wesen etwas miteinander gemein haben. Anderseits gibt
es auch Fälle, in denen die Kranken sich zu gleicher Zeit als verdoppelt, als
gespalten vorkommen, wo z. B. die eine Seele beständig das tut, was die andere
quält, oder wo das eine Ich das andere als tot beklagt. Wir besitzen jetzt eine
zuverlässige, auch dem Laien zugängliche Darstellung und feinsinnige Analyse
dieser psychologisch höchst interessanten Krankheitserscheinungen in Konstantin


Unser Ich

tümlicher Weise unseres eigenen Zustandes oder des Wertes, den irgendein
Erlebnis für uns hat, bewußt werden: die mannigfache, fein differenzierte Skala
der organisch oder intellektuell bedingten Gefühle, der Stimmungen, der Affekte und
Leidenschaften. Alle diese Momente aber werden in besonderem Maße für uns
wirksam, indem sie, im Verein mit unserem Vorstellen und Denken, als Wünsche,
als Triebe und Neigungen, als Ziele, Grundsätze und Ideale — zu Beweg¬
gründen für unser Wollen und Handeln werden.

So kann man unser Seelenleben einem Strom vergleichen, in dem beständig
unzählige Wellen dahinfließen, einander bedingen und ablösen, entstehen und wieder
vergehen. Aber in diesem unendlichen Wechselspiel, in dem kein Moment dem vorigen
völlig gleicht — wo sind wir selbst? Wir sind es, so werden wir antworten, unser
Ich, dem alle die wechselnden Erlebnisse gegeben sind, die Subjekte des Vor-
stellens. Denkens, Fühlens und Wollens. Gewiß; aber was ist dieses Ich?
Ist es etwas anderes als wiederum ein Erlebnis, das in jedem Augenblick zu
der Fülle der anderen Erlebnisse hinzugefügt wird? Die seelischen Erlebnisse sind
in der Tat so beschaffen, als ob ein Subjekt es wäre, das sie alle auf sich bezieht. Aber
was bürgt uns dafür, daß dieser Beziehung, die eben zu den seelischen Funktionen
gehört, ein tatsächliches Verhalten entspricht. — daß der erlebten Einheit eine
wirkliche zugrunde liegt? Worin sollte auch die Identität eines innerhalb des bestän¬
digen Wechsels beharrenden seelischen Subjektes bestehen? Haben wir doch in der
gesamten übrigen Wirklichkeit kein Anologon für ein solches Verhalten. Ist
die erlebte Bewnßtseinseinheit nicht vollkommen erklärt, wenn wir sie — mit
hervorragenden modernen Psychologen — aus den Gedächtnistatsachen, ohne
Zuhilfenahme eines rätselhaften identischen Subjektes, abzuleiten versuchen?
Bleiben die Spuren des einmal Erfahrenen im Gedächtnis und beleben
sie sich bei neuen ähnlichen Erlebnissen wieder, dann entsteht eine Kontinuität
in unserem Bewußtsein, die die Erscheinung der Subjektseinheit hervorbringen
könnte.

Ist es schon schwer, im normalen Leben das Bestehen einer wirklichen
Subjektseinheit zu denken, so enthalten bestimmte psychopathologische Tatsachen,
wie es scheint, den wirklichen Beweis von der Uneinheitlichkeit unseres Seelen¬
lebens. Es sind die Fälle veränderten oder verdoppelten Bewußtseins, in denen
die Kranken sich tatsächlich in periodischem Wechsel als zwei oder mehrere
Persönlichkeiten vorkommen. Oft zeigt dabei das eine Persönlichkeitsbild einen
anderen Habitus als das andere; Erinnerungen reichen entweder überhaupt
nicht herüber und hinüber, oder es fehlt doch jedes Bewußtsein, daß die beiden
völlig verschiedenen Wesen etwas miteinander gemein haben. Anderseits gibt
es auch Fälle, in denen die Kranken sich zu gleicher Zeit als verdoppelt, als
gespalten vorkommen, wo z. B. die eine Seele beständig das tut, was die andere
quält, oder wo das eine Ich das andere als tot beklagt. Wir besitzen jetzt eine
zuverlässige, auch dem Laien zugängliche Darstellung und feinsinnige Analyse
dieser psychologisch höchst interessanten Krankheitserscheinungen in Konstantin


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[0584] Unser Ich tümlicher Weise unseres eigenen Zustandes oder des Wertes, den irgendein Erlebnis für uns hat, bewußt werden: die mannigfache, fein differenzierte Skala der organisch oder intellektuell bedingten Gefühle, der Stimmungen, der Affekte und Leidenschaften. Alle diese Momente aber werden in besonderem Maße für uns wirksam, indem sie, im Verein mit unserem Vorstellen und Denken, als Wünsche, als Triebe und Neigungen, als Ziele, Grundsätze und Ideale — zu Beweg¬ gründen für unser Wollen und Handeln werden. So kann man unser Seelenleben einem Strom vergleichen, in dem beständig unzählige Wellen dahinfließen, einander bedingen und ablösen, entstehen und wieder vergehen. Aber in diesem unendlichen Wechselspiel, in dem kein Moment dem vorigen völlig gleicht — wo sind wir selbst? Wir sind es, so werden wir antworten, unser Ich, dem alle die wechselnden Erlebnisse gegeben sind, die Subjekte des Vor- stellens. Denkens, Fühlens und Wollens. Gewiß; aber was ist dieses Ich? Ist es etwas anderes als wiederum ein Erlebnis, das in jedem Augenblick zu der Fülle der anderen Erlebnisse hinzugefügt wird? Die seelischen Erlebnisse sind in der Tat so beschaffen, als ob ein Subjekt es wäre, das sie alle auf sich bezieht. Aber was bürgt uns dafür, daß dieser Beziehung, die eben zu den seelischen Funktionen gehört, ein tatsächliches Verhalten entspricht. — daß der erlebten Einheit eine wirkliche zugrunde liegt? Worin sollte auch die Identität eines innerhalb des bestän¬ digen Wechsels beharrenden seelischen Subjektes bestehen? Haben wir doch in der gesamten übrigen Wirklichkeit kein Anologon für ein solches Verhalten. Ist die erlebte Bewnßtseinseinheit nicht vollkommen erklärt, wenn wir sie — mit hervorragenden modernen Psychologen — aus den Gedächtnistatsachen, ohne Zuhilfenahme eines rätselhaften identischen Subjektes, abzuleiten versuchen? Bleiben die Spuren des einmal Erfahrenen im Gedächtnis und beleben sie sich bei neuen ähnlichen Erlebnissen wieder, dann entsteht eine Kontinuität in unserem Bewußtsein, die die Erscheinung der Subjektseinheit hervorbringen könnte. Ist es schon schwer, im normalen Leben das Bestehen einer wirklichen Subjektseinheit zu denken, so enthalten bestimmte psychopathologische Tatsachen, wie es scheint, den wirklichen Beweis von der Uneinheitlichkeit unseres Seelen¬ lebens. Es sind die Fälle veränderten oder verdoppelten Bewußtseins, in denen die Kranken sich tatsächlich in periodischem Wechsel als zwei oder mehrere Persönlichkeiten vorkommen. Oft zeigt dabei das eine Persönlichkeitsbild einen anderen Habitus als das andere; Erinnerungen reichen entweder überhaupt nicht herüber und hinüber, oder es fehlt doch jedes Bewußtsein, daß die beiden völlig verschiedenen Wesen etwas miteinander gemein haben. Anderseits gibt es auch Fälle, in denen die Kranken sich zu gleicher Zeit als verdoppelt, als gespalten vorkommen, wo z. B. die eine Seele beständig das tut, was die andere quält, oder wo das eine Ich das andere als tot beklagt. Wir besitzen jetzt eine zuverlässige, auch dem Laien zugängliche Darstellung und feinsinnige Analyse dieser psychologisch höchst interessanten Krankheitserscheinungen in Konstantin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/584>, abgerufen am 25.08.2024.