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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Unser Ich

eine bloße Mannigfaltigkeit von Erlebnissen aufzulösen ist. Wir wollen ver¬
suchen, diese Frage kurz zu erwägen.

Was ist zunächst unser Wesen, wie es sich unserer Erfahrung unmittelbar
darbietet, unser Ich, das wir von allein andern uns Fremden unterscheiden?

Wir werden bereit sein, zu antworten: unser Leib und unsere Seele. Aber
unser Körper -- gehört er nicht zur Außenwelt? Steht er nicht unter denselben
Gesetzen wie die übrige Natur, und ist er nicht in allen Lebensbedingungen so
von ihr abhängig, daß wir ihn notwendig als ein Glied der Außenwelt auf¬
fassen müssen? Ja, empfinden wir nicht oft genug selbst unseren Körper als
etwas unserem eigentlichen Wesen Fremdes?

Aber wir kennen kein geistiges Leben ohne zugeordnetes körperliches; unser
.Körper mit seinen Sinnesorganen ist das Mittel, durch das die Außenwelt zu
unserem Bewußtsein gelangt; er ist das Instrument, das intakt sein muß, wenn unser
Geistesleben normal verlaufen soll. Die Einwirkungen und Funktionen, die sich
in ihm abspielen, empfinden wir als unsere Zustände; er ist das Werkzeug, an
das unsere Einwirkung auf die Außenwelt gebunden ist. So sind also Leib und
Seele mit tausend Fäden aneinander geknüpft. Aber nicht dieses Wechsel¬
verhältnis soll uns heut beschäftigen, sondern nur eine Seite unseres Seins, die
seelische. Worin besteht unser geistiges Selbst, unser Ich?

Unser Seelenleben offenbart sich uns in der Fülle der Bewußtseinsdaten, die
wir in uns rege finden. Auf die physikalischen Vorgänge der Lust- und Äther¬
schwingungen, auf Stoß oder Druck und die daran geknüpften physiologischen Vor¬
gänge im Nervensystem antwortet unsere Seele, indem sie etwas in diesen äußeren
Rcizprozessen ganz Unvergleichliches hervorbringt: Töne oder Farben, Geruchs- oder
Geschmacksempfindungen, die Wahrnehmung von Wärme, Kälte oder körperlichem
Schmerz. Aus diesen durch Sinneswahrnehmung vermittelten seelischen Elementen
baut sie kraft der ihr eigentümlichen Funktionen das Bild der Außenwelt auf:
die Spuren des einst Wahrgenommenen bleiben im Gedächtnis und verschmelzen
mit neuen ähnlichen Erfahrungen zu Vorstellungen, die sich nach bestimmten
Gesetzen im Bewußtsein verknüpfen und einordnen und fo die Grundlage für
ein Erkennen, Vergleichen und Unterscheiden, also für unser Denken schaffen.
So vermögen wir, der Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten, die in dem Gegebenen
walten, inne zu werden, denkend darüber zu urteilen, und aus dem Gegen¬
wärtigen Schlüsse auf die Vergangenheit oder Zukunft zu ziehen. Dieses ganze
seelische Erleben kann sich unwillkürlich, ohne unser Zutun in unserem Geiste
abspielen; es kann aber auch das Produkt aufmerksamer, zielbewußter geistiger
Arbeit sein. Konzentriertes, zweckbewußtes Arbeiten und Denken, unaufmerksame,
halbunbewußte Hingabe an das zufällig Dargebotene. -- sie fließen, ebenso wie
die wechselnden Inhalte, in unserem Geiste beständig durcheinander, in mannig¬
fachsten, feiner- Übergängen.

Aber unser Seelenleben ist viel reicher: es birgt im Wechselspiel mit diesen
intellektuellen Momenten die Fülle der Regungen, in denen wir uns in eigen ^


Unser Ich

eine bloße Mannigfaltigkeit von Erlebnissen aufzulösen ist. Wir wollen ver¬
suchen, diese Frage kurz zu erwägen.

Was ist zunächst unser Wesen, wie es sich unserer Erfahrung unmittelbar
darbietet, unser Ich, das wir von allein andern uns Fremden unterscheiden?

Wir werden bereit sein, zu antworten: unser Leib und unsere Seele. Aber
unser Körper — gehört er nicht zur Außenwelt? Steht er nicht unter denselben
Gesetzen wie die übrige Natur, und ist er nicht in allen Lebensbedingungen so
von ihr abhängig, daß wir ihn notwendig als ein Glied der Außenwelt auf¬
fassen müssen? Ja, empfinden wir nicht oft genug selbst unseren Körper als
etwas unserem eigentlichen Wesen Fremdes?

Aber wir kennen kein geistiges Leben ohne zugeordnetes körperliches; unser
.Körper mit seinen Sinnesorganen ist das Mittel, durch das die Außenwelt zu
unserem Bewußtsein gelangt; er ist das Instrument, das intakt sein muß, wenn unser
Geistesleben normal verlaufen soll. Die Einwirkungen und Funktionen, die sich
in ihm abspielen, empfinden wir als unsere Zustände; er ist das Werkzeug, an
das unsere Einwirkung auf die Außenwelt gebunden ist. So sind also Leib und
Seele mit tausend Fäden aneinander geknüpft. Aber nicht dieses Wechsel¬
verhältnis soll uns heut beschäftigen, sondern nur eine Seite unseres Seins, die
seelische. Worin besteht unser geistiges Selbst, unser Ich?

Unser Seelenleben offenbart sich uns in der Fülle der Bewußtseinsdaten, die
wir in uns rege finden. Auf die physikalischen Vorgänge der Lust- und Äther¬
schwingungen, auf Stoß oder Druck und die daran geknüpften physiologischen Vor¬
gänge im Nervensystem antwortet unsere Seele, indem sie etwas in diesen äußeren
Rcizprozessen ganz Unvergleichliches hervorbringt: Töne oder Farben, Geruchs- oder
Geschmacksempfindungen, die Wahrnehmung von Wärme, Kälte oder körperlichem
Schmerz. Aus diesen durch Sinneswahrnehmung vermittelten seelischen Elementen
baut sie kraft der ihr eigentümlichen Funktionen das Bild der Außenwelt auf:
die Spuren des einst Wahrgenommenen bleiben im Gedächtnis und verschmelzen
mit neuen ähnlichen Erfahrungen zu Vorstellungen, die sich nach bestimmten
Gesetzen im Bewußtsein verknüpfen und einordnen und fo die Grundlage für
ein Erkennen, Vergleichen und Unterscheiden, also für unser Denken schaffen.
So vermögen wir, der Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten, die in dem Gegebenen
walten, inne zu werden, denkend darüber zu urteilen, und aus dem Gegen¬
wärtigen Schlüsse auf die Vergangenheit oder Zukunft zu ziehen. Dieses ganze
seelische Erleben kann sich unwillkürlich, ohne unser Zutun in unserem Geiste
abspielen; es kann aber auch das Produkt aufmerksamer, zielbewußter geistiger
Arbeit sein. Konzentriertes, zweckbewußtes Arbeiten und Denken, unaufmerksame,
halbunbewußte Hingabe an das zufällig Dargebotene. — sie fließen, ebenso wie
die wechselnden Inhalte, in unserem Geiste beständig durcheinander, in mannig¬
fachsten, feiner- Übergängen.

Aber unser Seelenleben ist viel reicher: es birgt im Wechselspiel mit diesen
intellektuellen Momenten die Fülle der Regungen, in denen wir uns in eigen ^


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[0583] Unser Ich eine bloße Mannigfaltigkeit von Erlebnissen aufzulösen ist. Wir wollen ver¬ suchen, diese Frage kurz zu erwägen. Was ist zunächst unser Wesen, wie es sich unserer Erfahrung unmittelbar darbietet, unser Ich, das wir von allein andern uns Fremden unterscheiden? Wir werden bereit sein, zu antworten: unser Leib und unsere Seele. Aber unser Körper — gehört er nicht zur Außenwelt? Steht er nicht unter denselben Gesetzen wie die übrige Natur, und ist er nicht in allen Lebensbedingungen so von ihr abhängig, daß wir ihn notwendig als ein Glied der Außenwelt auf¬ fassen müssen? Ja, empfinden wir nicht oft genug selbst unseren Körper als etwas unserem eigentlichen Wesen Fremdes? Aber wir kennen kein geistiges Leben ohne zugeordnetes körperliches; unser .Körper mit seinen Sinnesorganen ist das Mittel, durch das die Außenwelt zu unserem Bewußtsein gelangt; er ist das Instrument, das intakt sein muß, wenn unser Geistesleben normal verlaufen soll. Die Einwirkungen und Funktionen, die sich in ihm abspielen, empfinden wir als unsere Zustände; er ist das Werkzeug, an das unsere Einwirkung auf die Außenwelt gebunden ist. So sind also Leib und Seele mit tausend Fäden aneinander geknüpft. Aber nicht dieses Wechsel¬ verhältnis soll uns heut beschäftigen, sondern nur eine Seite unseres Seins, die seelische. Worin besteht unser geistiges Selbst, unser Ich? Unser Seelenleben offenbart sich uns in der Fülle der Bewußtseinsdaten, die wir in uns rege finden. Auf die physikalischen Vorgänge der Lust- und Äther¬ schwingungen, auf Stoß oder Druck und die daran geknüpften physiologischen Vor¬ gänge im Nervensystem antwortet unsere Seele, indem sie etwas in diesen äußeren Rcizprozessen ganz Unvergleichliches hervorbringt: Töne oder Farben, Geruchs- oder Geschmacksempfindungen, die Wahrnehmung von Wärme, Kälte oder körperlichem Schmerz. Aus diesen durch Sinneswahrnehmung vermittelten seelischen Elementen baut sie kraft der ihr eigentümlichen Funktionen das Bild der Außenwelt auf: die Spuren des einst Wahrgenommenen bleiben im Gedächtnis und verschmelzen mit neuen ähnlichen Erfahrungen zu Vorstellungen, die sich nach bestimmten Gesetzen im Bewußtsein verknüpfen und einordnen und fo die Grundlage für ein Erkennen, Vergleichen und Unterscheiden, also für unser Denken schaffen. So vermögen wir, der Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten, die in dem Gegebenen walten, inne zu werden, denkend darüber zu urteilen, und aus dem Gegen¬ wärtigen Schlüsse auf die Vergangenheit oder Zukunft zu ziehen. Dieses ganze seelische Erleben kann sich unwillkürlich, ohne unser Zutun in unserem Geiste abspielen; es kann aber auch das Produkt aufmerksamer, zielbewußter geistiger Arbeit sein. Konzentriertes, zweckbewußtes Arbeiten und Denken, unaufmerksame, halbunbewußte Hingabe an das zufällig Dargebotene. — sie fließen, ebenso wie die wechselnden Inhalte, in unserem Geiste beständig durcheinander, in mannig¬ fachsten, feiner- Übergängen. Aber unser Seelenleben ist viel reicher: es birgt im Wechselspiel mit diesen intellektuellen Momenten die Fülle der Regungen, in denen wir uns in eigen ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/583>, abgerufen am 23.07.2024.