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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Unser Ich Lise !vontscher von

Auras alles, was wir erleben und erfahren, geht ein tief ein-
^ schneidender Gegensatz: eine Scheidung, die jeder Mensch in der-
5 selben Weise erlebt, obgleich ein jeder die Grenze an anderer
Z! Stelle zieht: es ist der Unterschied zwischen dem, was zu unserem
-^Selbst und dem, was zur Außenwelt gehört, zwischen unserem
Ich und dem, was man im philosophischen Sprachgebrauche als Nicht-Ich
bezeichnet. Es gehört keine hohe Intelligenz dazu, um sich dieses Unterschiedes
bewußt zu sein; auch das niedrigste Geschöpf fühlt ihn unmittelbar^ "Der
getretene Wurm, der sich im Schmerze krümmt, unterscheidet sein eigenes Leiden
gewiß von der übrigen Welt, obgleich er weder das Ich noch die Natur der
Außenwelt begreifen mag." Nicht verstandesmäßiges Erkennen also, sondern
ein unmittelbares Selbstgefühl ist die Grundlage unseres Selbstbewußtseins; --
durch dieses Selbstgefühl verspüren wir die unser eigenes Wesen treffenden
Einwirkungen als eigenes Leid oder eigene Lust, im Gegensatz zu allem anderen,
was uns nicht unmittelbar trifft.

Fragen wir nun aber: "was ist dieses unser Selbst, unser Ich, das
wir so unmittelbar zu empfinden glauben?" so gibt uns die wissenschaftliche
Psychologie keine eindeutige Antwort auf dieses grundlegende Problem.
Die älteste philosophische Auffassung, die sich die Frage nach der Natur unseres
Ich, nach dem Wesen unserer Seele, ernsthaft vorlegte, erblickte darin eine
unzerstörbare, unveränderliche (denkende) Substanz. An dieser, auf Aristoteles
zurückgehenden, dogmatischen Auffassung hat zuerst der englische Empirismus
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts (Locke, Hume) Kritik geübt: wir
finden in unseren: Geiste überall nur Inhalte und deren Verknüpfungen; einen
Träger dieser Inhalte, ein seelisches Subjekt aber finden wir nirgends.

Diesen beiden extremen Auffassungen stellt Kant eine dritte gegenüber:
Die grundlegendsten seelischen Tatsachen zwingen uus zwar, ein alle Bewußtseins¬
momente in sich hegendes Ich anzunehmen; aber die wahre Natur dieses unseres
Wesens muß unserem menschlichen Erkennen dauernd verschlossen bleiben. --
Durch diese typisch-verschiedenen Auffassungen ist auch die moderne Problem¬
lage im Grunde noch bestimmt. Die auch heut noch vorhandenen Versuche,




Unser Ich Lise !vontscher von

Auras alles, was wir erleben und erfahren, geht ein tief ein-
^ schneidender Gegensatz: eine Scheidung, die jeder Mensch in der-
5 selben Weise erlebt, obgleich ein jeder die Grenze an anderer
Z! Stelle zieht: es ist der Unterschied zwischen dem, was zu unserem
-^Selbst und dem, was zur Außenwelt gehört, zwischen unserem
Ich und dem, was man im philosophischen Sprachgebrauche als Nicht-Ich
bezeichnet. Es gehört keine hohe Intelligenz dazu, um sich dieses Unterschiedes
bewußt zu sein; auch das niedrigste Geschöpf fühlt ihn unmittelbar^ „Der
getretene Wurm, der sich im Schmerze krümmt, unterscheidet sein eigenes Leiden
gewiß von der übrigen Welt, obgleich er weder das Ich noch die Natur der
Außenwelt begreifen mag." Nicht verstandesmäßiges Erkennen also, sondern
ein unmittelbares Selbstgefühl ist die Grundlage unseres Selbstbewußtseins; —
durch dieses Selbstgefühl verspüren wir die unser eigenes Wesen treffenden
Einwirkungen als eigenes Leid oder eigene Lust, im Gegensatz zu allem anderen,
was uns nicht unmittelbar trifft.

Fragen wir nun aber: „was ist dieses unser Selbst, unser Ich, das
wir so unmittelbar zu empfinden glauben?" so gibt uns die wissenschaftliche
Psychologie keine eindeutige Antwort auf dieses grundlegende Problem.
Die älteste philosophische Auffassung, die sich die Frage nach der Natur unseres
Ich, nach dem Wesen unserer Seele, ernsthaft vorlegte, erblickte darin eine
unzerstörbare, unveränderliche (denkende) Substanz. An dieser, auf Aristoteles
zurückgehenden, dogmatischen Auffassung hat zuerst der englische Empirismus
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts (Locke, Hume) Kritik geübt: wir
finden in unseren: Geiste überall nur Inhalte und deren Verknüpfungen; einen
Träger dieser Inhalte, ein seelisches Subjekt aber finden wir nirgends.

Diesen beiden extremen Auffassungen stellt Kant eine dritte gegenüber:
Die grundlegendsten seelischen Tatsachen zwingen uus zwar, ein alle Bewußtseins¬
momente in sich hegendes Ich anzunehmen; aber die wahre Natur dieses unseres
Wesens muß unserem menschlichen Erkennen dauernd verschlossen bleiben. —
Durch diese typisch-verschiedenen Auffassungen ist auch die moderne Problem¬
lage im Grunde noch bestimmt. Die auch heut noch vorhandenen Versuche,


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[0581] [Abbildung] Unser Ich Lise !vontscher von Auras alles, was wir erleben und erfahren, geht ein tief ein- ^ schneidender Gegensatz: eine Scheidung, die jeder Mensch in der- 5 selben Weise erlebt, obgleich ein jeder die Grenze an anderer Z! Stelle zieht: es ist der Unterschied zwischen dem, was zu unserem -^Selbst und dem, was zur Außenwelt gehört, zwischen unserem Ich und dem, was man im philosophischen Sprachgebrauche als Nicht-Ich bezeichnet. Es gehört keine hohe Intelligenz dazu, um sich dieses Unterschiedes bewußt zu sein; auch das niedrigste Geschöpf fühlt ihn unmittelbar^ „Der getretene Wurm, der sich im Schmerze krümmt, unterscheidet sein eigenes Leiden gewiß von der übrigen Welt, obgleich er weder das Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen mag." Nicht verstandesmäßiges Erkennen also, sondern ein unmittelbares Selbstgefühl ist die Grundlage unseres Selbstbewußtseins; — durch dieses Selbstgefühl verspüren wir die unser eigenes Wesen treffenden Einwirkungen als eigenes Leid oder eigene Lust, im Gegensatz zu allem anderen, was uns nicht unmittelbar trifft. Fragen wir nun aber: „was ist dieses unser Selbst, unser Ich, das wir so unmittelbar zu empfinden glauben?" so gibt uns die wissenschaftliche Psychologie keine eindeutige Antwort auf dieses grundlegende Problem. Die älteste philosophische Auffassung, die sich die Frage nach der Natur unseres Ich, nach dem Wesen unserer Seele, ernsthaft vorlegte, erblickte darin eine unzerstörbare, unveränderliche (denkende) Substanz. An dieser, auf Aristoteles zurückgehenden, dogmatischen Auffassung hat zuerst der englische Empirismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts (Locke, Hume) Kritik geübt: wir finden in unseren: Geiste überall nur Inhalte und deren Verknüpfungen; einen Träger dieser Inhalte, ein seelisches Subjekt aber finden wir nirgends. Diesen beiden extremen Auffassungen stellt Kant eine dritte gegenüber: Die grundlegendsten seelischen Tatsachen zwingen uus zwar, ein alle Bewußtseins¬ momente in sich hegendes Ich anzunehmen; aber die wahre Natur dieses unseres Wesens muß unserem menschlichen Erkennen dauernd verschlossen bleiben. — Durch diese typisch-verschiedenen Auffassungen ist auch die moderne Problem¬ lage im Grunde noch bestimmt. Die auch heut noch vorhandenen Versuche,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/581>, abgerufen am 22.07.2024.