Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches "Die Völkerwanderung hat vielleicht weniger Werte vernichtet als die Münch, der Pädagoge, Münch, der Lebensphilosoph, Münch, der Kultur¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Philosophie Zum vierten Male sind Windelbnnds Gedankens, daß des unglücklichen Dichters Maßgebliches und Unmaßgebliches „Die Völkerwanderung hat vielleicht weniger Werte vernichtet als die Münch, der Pädagoge, Münch, der Lebensphilosoph, Münch, der Kultur¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Philosophie Zum vierten Male sind Windelbnnds Gedankens, daß des unglücklichen Dichters <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0551" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321634"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2318"> „Die Völkerwanderung hat vielleicht weniger Werte vernichtet als die<lb/> gegenwärtige „Kultur" Werte zergehen läßt. seelisches Leben ist weithin<lb/> bloßem Nervenleben gewichen, Zentralität der Persönlichkeit wird kaum irgendwo<lb/> gesucht, Verantwortung. Pflicht, Selbstüberwindung usw. werden unbekannte<lb/> Begriffe. Das innere Elend des Großstadtlebens greift immer weiter. Gleich¬<lb/> wohl, wenn es unter diesen Verhältnissen schwerlich der Geisteskraft einer ein¬<lb/> zelnen Person möglich wird. Hemmung und Umkehr im Großen zu bewirken:<lb/> man darf auf die immanente Regenerationsfähigkeit der Menschheit hoffen; es<lb/> ist die einzige Möglichkeit, um überhaupt Hoffnung zu behalten."</p><lb/> <p xml:id="ID_2319"> Münch, der Pädagoge, Münch, der Lebensphilosoph, Münch, der Kultur¬<lb/> kritiker — hat uns noch etwas zu sagen. Seine stillen Worte werden<lb/> auch im Geräusch des heutigen Lebens hellhörige Ohren finden.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <cb type="start"/> <div n="2"> <head> Philosophie</head> <p xml:id="ID_2320" next="#ID_2321"> Zum vierten Male sind Windelbnnds<lb/> „Präludien" (Aufsätze und Reden zur Ein¬<lb/> leitung in die Philosophie. Verlag von I. C.<lb/> B. Mohr sPnul Siebecks, Tübingen) in die Welt<lb/> gegangen, auch jetzt wieder um einige wertvolle<lb/> Beiträge („Nach hundert Jahren" — zu Kants<lb/> hundertjährig ein Todestage —„Schillers trans-<lb/> cendentalerJdealismus", „Die Erneuerung des<lb/> Hegelianismus", „Pessimismus und Wissen¬<lb/> schaft", „WerWesen undWert der Tradition im<lb/> Kulturleben", „Bildungsschichten und Kultur¬<lb/> einheit", „Kulturphilosophie und transcenden¬<lb/> taler Idealismus") vermehrt, so daß eine Tei¬<lb/> lung in zwei Bände nötig wurde. Sie spiegeln<lb/> Gedanken eines der bedeutendsten Philosophen<lb/> der Gegenwart, die ihn ini Lause von fünf-<lb/> unddreißig Jahren bewegt haben. Die form¬<lb/> vollendeten Untersuchungen sind zum großen<lb/> Teil durch Ereignisse des akademischen Lebens,<lb/> durch geschichtliche Gedenktage usw. veranlaßt<lb/> worden. Deshalb sind ihre Gegenstände so<lb/> mannigfach. Der erste Band enthält Ab¬<lb/> handlungen historischen Charakters, während<lb/> der zweite Band mehr oder weniger syste¬<lb/> matische Untersuchungen vereinigt. Wo wir<lb/> hmgreifen, genießen wir die Frucht reifer und<lb/> tiefer Überlegung. Schlagen wir etwa den<lb/> Aufsatz über Hölderlin und sein Geschick auf,<lb/> so fesselt uns die geistvolle Durchführung des</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2321" prev="#ID_2320" next="#ID_2322"> Gedankens, daß des unglücklichen Dichters<lb/> Wahnsinn „das charakteristische Symptom<lb/> für eine soziale Krankheit ist, welche sich<lb/> aus den eigentümlichen Verhältnissen des<lb/> modernen Geisteslebens entwickelt hat und<lb/> immer gefährlichere und drohendere Ge¬<lb/> stalten annimmt". Die uns drohende<lb/> Gefahr liegt in dem widerspruchsvollen,<lb/> vielfältigen und verzweigten Charakter unsrer<lb/> Kultur, dem das einzelne Individuum hilflos<lb/> gegenübersteht Diese Notlage drangt auf<lb/> die Bahn des Dilettantismus, der heut¬<lb/> zutage auf allen Gebieten des geistigen und<lb/> öffentlichen Lebens, ja in den öffentlichen In¬<lb/> stitutionen (der Parlamentarismus!) sein Wesen<lb/> treibt. — Oder greifen wir zur Rede, die<lb/> Windelband aus Anlaß des Straßburger Denk¬<lb/> mals für den jungen Goethe gehalten hat:<lb/> wie fein sind da die Umrisse der Philosophie<lb/> Goethes gezeichnet! Uns packt der Zusammen¬<lb/> klang von Goethes Individualismus und des<lb/> tief in ihm wurzelnden religiösen Gefühls,<lb/> daS in der Ehrfurcht vor den uns umgebenden<lb/> Geheimnissen seinen Ausdruck findet, in der<lb/> Ehrfurcht, die er als den sittlichen Kern aller<lb/> Erziehung bezeichnet hat. — Und dann mag<lb/> uns wieder ein Aufsatz fesseln, der die wissen¬<lb/> schaftliche UnbeweiSbarkeit der Geltung des<lb/> Pessimismus und Optimismus dartut oder<lb/> der die Betrachtung unseres Lebens sub specie<lb/> seternitstis lehrt. „Das Licht der Ewigkeit</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0551]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
„Die Völkerwanderung hat vielleicht weniger Werte vernichtet als die
gegenwärtige „Kultur" Werte zergehen läßt. seelisches Leben ist weithin
bloßem Nervenleben gewichen, Zentralität der Persönlichkeit wird kaum irgendwo
gesucht, Verantwortung. Pflicht, Selbstüberwindung usw. werden unbekannte
Begriffe. Das innere Elend des Großstadtlebens greift immer weiter. Gleich¬
wohl, wenn es unter diesen Verhältnissen schwerlich der Geisteskraft einer ein¬
zelnen Person möglich wird. Hemmung und Umkehr im Großen zu bewirken:
man darf auf die immanente Regenerationsfähigkeit der Menschheit hoffen; es
ist die einzige Möglichkeit, um überhaupt Hoffnung zu behalten."
Münch, der Pädagoge, Münch, der Lebensphilosoph, Münch, der Kultur¬
kritiker — hat uns noch etwas zu sagen. Seine stillen Worte werden
auch im Geräusch des heutigen Lebens hellhörige Ohren finden.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Philosophie Zum vierten Male sind Windelbnnds
„Präludien" (Aufsätze und Reden zur Ein¬
leitung in die Philosophie. Verlag von I. C.
B. Mohr sPnul Siebecks, Tübingen) in die Welt
gegangen, auch jetzt wieder um einige wertvolle
Beiträge („Nach hundert Jahren" — zu Kants
hundertjährig ein Todestage —„Schillers trans-
cendentalerJdealismus", „Die Erneuerung des
Hegelianismus", „Pessimismus und Wissen¬
schaft", „WerWesen undWert der Tradition im
Kulturleben", „Bildungsschichten und Kultur¬
einheit", „Kulturphilosophie und transcenden¬
taler Idealismus") vermehrt, so daß eine Tei¬
lung in zwei Bände nötig wurde. Sie spiegeln
Gedanken eines der bedeutendsten Philosophen
der Gegenwart, die ihn ini Lause von fünf-
unddreißig Jahren bewegt haben. Die form¬
vollendeten Untersuchungen sind zum großen
Teil durch Ereignisse des akademischen Lebens,
durch geschichtliche Gedenktage usw. veranlaßt
worden. Deshalb sind ihre Gegenstände so
mannigfach. Der erste Band enthält Ab¬
handlungen historischen Charakters, während
der zweite Band mehr oder weniger syste¬
matische Untersuchungen vereinigt. Wo wir
hmgreifen, genießen wir die Frucht reifer und
tiefer Überlegung. Schlagen wir etwa den
Aufsatz über Hölderlin und sein Geschick auf,
so fesselt uns die geistvolle Durchführung des
Gedankens, daß des unglücklichen Dichters
Wahnsinn „das charakteristische Symptom
für eine soziale Krankheit ist, welche sich
aus den eigentümlichen Verhältnissen des
modernen Geisteslebens entwickelt hat und
immer gefährlichere und drohendere Ge¬
stalten annimmt". Die uns drohende
Gefahr liegt in dem widerspruchsvollen,
vielfältigen und verzweigten Charakter unsrer
Kultur, dem das einzelne Individuum hilflos
gegenübersteht Diese Notlage drangt auf
die Bahn des Dilettantismus, der heut¬
zutage auf allen Gebieten des geistigen und
öffentlichen Lebens, ja in den öffentlichen In¬
stitutionen (der Parlamentarismus!) sein Wesen
treibt. — Oder greifen wir zur Rede, die
Windelband aus Anlaß des Straßburger Denk¬
mals für den jungen Goethe gehalten hat:
wie fein sind da die Umrisse der Philosophie
Goethes gezeichnet! Uns packt der Zusammen¬
klang von Goethes Individualismus und des
tief in ihm wurzelnden religiösen Gefühls,
daS in der Ehrfurcht vor den uns umgebenden
Geheimnissen seinen Ausdruck findet, in der
Ehrfurcht, die er als den sittlichen Kern aller
Erziehung bezeichnet hat. — Und dann mag
uns wieder ein Aufsatz fesseln, der die wissen¬
schaftliche UnbeweiSbarkeit der Geltung des
Pessimismus und Optimismus dartut oder
der die Betrachtung unseres Lebens sub specie
seternitstis lehrt. „Das Licht der Ewigkeit
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