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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Münch
Dr. Wilhelm Martin Becker von

le alte Generation unserer Pädagogen von Bedeutung hat in den
letzten Jahren drei Männer vom ersten Rang eingebüßt: Friedrich
Paulsen, Oskar Jäger, Wilhelm Münch. Bedeutet auch jeder
dieser Namen in gewissem Sinne ein besonderes Programm, zeigt
jeder seine charakteristischen Züge, so ist doch ihre Gemeinsamkeit
nicht minder auffallend, wenn wir sie gegen diejenigen heutigen Erzieher halten,
die auf grundstürzend neuen, oft nur vom Reiz der Neuheit empfohlenen Bahnen
neue Ziele zu erreichen streben. Wenn die Erziehungslehre jeder Zeit dem
sittlichen wie dem sozialen und kulturellen Ideal dieser Zeit sich anpassen mußte,
so ist das gegenwärtige lebhafte Schwanken auf demi Gebiete der Schule und
Jugendbildung nicht verwunderlich. Denn keine Zeit war, soweit wir sehen,
ähnlich gespalten in den Anschauungen von dem erstrebenswerten Ziel der
Erziehung wie die heutige. Keine aber hat auch gleichzeitig so sehr die Erziehung
und speziell die Schule für alles verantwortlich gemacht, was an Gutem und
besonders an Bösem aus den Menschen wurde. So kommt es, daß der Streit
um Erziehungsfragen fortwährend im Vordergrund des öffentlichen Interesses
steht, daß die heftigsten Rufer im Streit die zahlreichsten Gefolgsleute haben
und von den außerhalb der Schranken stehenden Zuschauern am meisten Beifall
und Aneiferung erfahren.

In diese Atmosphäre des Kampfes, in diese Zeit der Teilnahme aller, auch
der Leichtestbewaffneten, am Streite um die Jugendbildung, passen jene Pädagogen
der älteren Generation nicht mehr recht hinein. Sie stellen dem heftigen An¬
sturm von heute sichere Überzeugungen entgegen. Und wenn bei ihnen ab und
zu das Konservative etwas mehr überwiegt, als es selbst den Gemäßigten in
der heutigen Pädagogenwelt berechtigt scheinen kann, so haben sie sich doch nie
den neu herantretenden Anforderungen und Anregungen geradezu verschlossen.
Denn keine Überzeugung ist engherzig, die, wie es hier der Fall ist, auf dem
Grunde einer durch Studium des Vergangenen, eigene Erfahrung und scharfen
Blick in das Gegenwärtige erwachsenen Weltanschauung ruht.




Wilhelm Münch
Dr. Wilhelm Martin Becker von

le alte Generation unserer Pädagogen von Bedeutung hat in den
letzten Jahren drei Männer vom ersten Rang eingebüßt: Friedrich
Paulsen, Oskar Jäger, Wilhelm Münch. Bedeutet auch jeder
dieser Namen in gewissem Sinne ein besonderes Programm, zeigt
jeder seine charakteristischen Züge, so ist doch ihre Gemeinsamkeit
nicht minder auffallend, wenn wir sie gegen diejenigen heutigen Erzieher halten,
die auf grundstürzend neuen, oft nur vom Reiz der Neuheit empfohlenen Bahnen
neue Ziele zu erreichen streben. Wenn die Erziehungslehre jeder Zeit dem
sittlichen wie dem sozialen und kulturellen Ideal dieser Zeit sich anpassen mußte,
so ist das gegenwärtige lebhafte Schwanken auf demi Gebiete der Schule und
Jugendbildung nicht verwunderlich. Denn keine Zeit war, soweit wir sehen,
ähnlich gespalten in den Anschauungen von dem erstrebenswerten Ziel der
Erziehung wie die heutige. Keine aber hat auch gleichzeitig so sehr die Erziehung
und speziell die Schule für alles verantwortlich gemacht, was an Gutem und
besonders an Bösem aus den Menschen wurde. So kommt es, daß der Streit
um Erziehungsfragen fortwährend im Vordergrund des öffentlichen Interesses
steht, daß die heftigsten Rufer im Streit die zahlreichsten Gefolgsleute haben
und von den außerhalb der Schranken stehenden Zuschauern am meisten Beifall
und Aneiferung erfahren.

In diese Atmosphäre des Kampfes, in diese Zeit der Teilnahme aller, auch
der Leichtestbewaffneten, am Streite um die Jugendbildung, passen jene Pädagogen
der älteren Generation nicht mehr recht hinein. Sie stellen dem heftigen An¬
sturm von heute sichere Überzeugungen entgegen. Und wenn bei ihnen ab und
zu das Konservative etwas mehr überwiegt, als es selbst den Gemäßigten in
der heutigen Pädagogenwelt berechtigt scheinen kann, so haben sie sich doch nie
den neu herantretenden Anforderungen und Anregungen geradezu verschlossen.
Denn keine Überzeugung ist engherzig, die, wie es hier der Fall ist, auf dem
Grunde einer durch Studium des Vergangenen, eigene Erfahrung und scharfen
Blick in das Gegenwärtige erwachsenen Weltanschauung ruht.


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[0546] [Abbildung] Wilhelm Münch Dr. Wilhelm Martin Becker von le alte Generation unserer Pädagogen von Bedeutung hat in den letzten Jahren drei Männer vom ersten Rang eingebüßt: Friedrich Paulsen, Oskar Jäger, Wilhelm Münch. Bedeutet auch jeder dieser Namen in gewissem Sinne ein besonderes Programm, zeigt jeder seine charakteristischen Züge, so ist doch ihre Gemeinsamkeit nicht minder auffallend, wenn wir sie gegen diejenigen heutigen Erzieher halten, die auf grundstürzend neuen, oft nur vom Reiz der Neuheit empfohlenen Bahnen neue Ziele zu erreichen streben. Wenn die Erziehungslehre jeder Zeit dem sittlichen wie dem sozialen und kulturellen Ideal dieser Zeit sich anpassen mußte, so ist das gegenwärtige lebhafte Schwanken auf demi Gebiete der Schule und Jugendbildung nicht verwunderlich. Denn keine Zeit war, soweit wir sehen, ähnlich gespalten in den Anschauungen von dem erstrebenswerten Ziel der Erziehung wie die heutige. Keine aber hat auch gleichzeitig so sehr die Erziehung und speziell die Schule für alles verantwortlich gemacht, was an Gutem und besonders an Bösem aus den Menschen wurde. So kommt es, daß der Streit um Erziehungsfragen fortwährend im Vordergrund des öffentlichen Interesses steht, daß die heftigsten Rufer im Streit die zahlreichsten Gefolgsleute haben und von den außerhalb der Schranken stehenden Zuschauern am meisten Beifall und Aneiferung erfahren. In diese Atmosphäre des Kampfes, in diese Zeit der Teilnahme aller, auch der Leichtestbewaffneten, am Streite um die Jugendbildung, passen jene Pädagogen der älteren Generation nicht mehr recht hinein. Sie stellen dem heftigen An¬ sturm von heute sichere Überzeugungen entgegen. Und wenn bei ihnen ab und zu das Konservative etwas mehr überwiegt, als es selbst den Gemäßigten in der heutigen Pädagogenwelt berechtigt scheinen kann, so haben sie sich doch nie den neu herantretenden Anforderungen und Anregungen geradezu verschlossen. Denn keine Überzeugung ist engherzig, die, wie es hier der Fall ist, auf dem Grunde einer durch Studium des Vergangenen, eigene Erfahrung und scharfen Blick in das Gegenwärtige erwachsenen Weltanschauung ruht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/546>, abgerufen am 22.07.2024.