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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

zu überstehen und dabei noch moralische Eroberungen zu machen durch die Offen¬
barung jungtürkischer Kräfte, die in diesem Grad und in dieser Art weite Kreise
weder geahnt noch gekannt haben.

Wohl hat schon die jungtürkische Revolution für die Augenzeugen ihrer
geschichtlichen Einzigartigkeit das Bismarcksche Wort bestätigt, daß der Türke der
Gentleman des Orients ist; jetzt trägt der Tripoliswind solche Wahrheit in die
weite Welt und weht europäische Vorurteile und Falschurteile hinweg. Wo hat
sich der sprichwörtliche "Fanatismus des Mohammedaners" in blutigen Christen¬
massakers ausgetobt? Der Verfolgungswahn des Tyrannen Abdul Hamid hat
solche Methode praktiziert, aus den gleichen Motiven und mit den gleichen
Tendenzen, wie das christliche Nußland seine jüdischen Pogroms veranstaltet.
Aber jetzt predigt der türkisch-mohammedanische Geistliche in der Moschee, keinen
Racheakt an schuldlosen Italienern auszuüben, und tatsächlich ist während dieser
ganzen acht Monate noch keinerlei Exzeß vorgekommen. Türkische Besonnenheit
und Beherrschtheit vergreift sich an keinen: der 60000 Italiener in der Türkei,
und türkische Humanität und Kultur hat dieser Masse bisher Gastrecht gewährt.
Der arabisch - mohammedanische Kriegsminister erläßt einen Armeebefehl, feind¬
licher Grausamkeit gegenüber nicht gleiches mit gleichem zu vergelten, und er
gibt der tripolitanischen Truppe in zwölf Geboten noch besonders detaillierte
Befehle, die durch ihren Kulturgeist selbst den Kenner der türkischen Toleranz
überraschen. Der Major Enver Bey schreibt in einem seiner letzten Briefe,
deren Original ich kenne, daß er das den Leichen italienischer Offiziere ab¬
genommene Geld wiederholt ans italienische Kriegsministerium geschickt habe zur
Weiterbeförderung an die Familien der Gefallenen, daß er aber, da er keinerlei
Empfangsbestätigung erhalten habe, neuerdings solche erbeutete Summen direkt
an die fraglichen Familien adressiere, deren Namen er bisher durch die Papiere
der Gefallenen habe feststellen können.

Und militärisch: das türkische Jmprovisations- und Organisationstalent
erzwingt unter den widerlichsten Verhältnissen Erfolge gegenüber einer numerisch
und technisch überlegenen Armee und erinnert an den Ruhmestitel, mit dem
schon Luther den Türken charakterisiert hat, als er ihn ein Vorbild der Organi¬
sationsfähigkeit für die Deutschen nannte. Neulich hat Enver Bey in einem
Privatbrief aus der Cyrenaika eine genaue Skizze der türkisch-arabischen
Stellungen und der italienischen Verschanzungen mitgeschickt: der Eindruck ist der
einer förmlichen Belagerung der italienischen Truppen an der Küste, wo sie sich
nur unter dem Schutz der Schiffsgeschütze halten können. Nie ttnoäus, nie
salta: in Tripolis ist "Rhodus". dort ist der Tanz der kriegerischen Entscheidung
M wagen. Mag Italien die Insel Rhodus und der Reihe nach die Sporaden
besetzen -- immer mit erdrückender Massenübermacht --, militärisch bedeuten
solche "Triumphe" nichts, noch weniger als der mißglückte Versuch einer Forcierung
der Dardanellen. Die Türkei ist und bleibt eine Landmacht und sie sehnt sich
danach, ihre militärischen Kräfte mit einer italienischen Armee messen zu können.


Türkische Richtlinien

zu überstehen und dabei noch moralische Eroberungen zu machen durch die Offen¬
barung jungtürkischer Kräfte, die in diesem Grad und in dieser Art weite Kreise
weder geahnt noch gekannt haben.

Wohl hat schon die jungtürkische Revolution für die Augenzeugen ihrer
geschichtlichen Einzigartigkeit das Bismarcksche Wort bestätigt, daß der Türke der
Gentleman des Orients ist; jetzt trägt der Tripoliswind solche Wahrheit in die
weite Welt und weht europäische Vorurteile und Falschurteile hinweg. Wo hat
sich der sprichwörtliche „Fanatismus des Mohammedaners" in blutigen Christen¬
massakers ausgetobt? Der Verfolgungswahn des Tyrannen Abdul Hamid hat
solche Methode praktiziert, aus den gleichen Motiven und mit den gleichen
Tendenzen, wie das christliche Nußland seine jüdischen Pogroms veranstaltet.
Aber jetzt predigt der türkisch-mohammedanische Geistliche in der Moschee, keinen
Racheakt an schuldlosen Italienern auszuüben, und tatsächlich ist während dieser
ganzen acht Monate noch keinerlei Exzeß vorgekommen. Türkische Besonnenheit
und Beherrschtheit vergreift sich an keinen: der 60000 Italiener in der Türkei,
und türkische Humanität und Kultur hat dieser Masse bisher Gastrecht gewährt.
Der arabisch - mohammedanische Kriegsminister erläßt einen Armeebefehl, feind¬
licher Grausamkeit gegenüber nicht gleiches mit gleichem zu vergelten, und er
gibt der tripolitanischen Truppe in zwölf Geboten noch besonders detaillierte
Befehle, die durch ihren Kulturgeist selbst den Kenner der türkischen Toleranz
überraschen. Der Major Enver Bey schreibt in einem seiner letzten Briefe,
deren Original ich kenne, daß er das den Leichen italienischer Offiziere ab¬
genommene Geld wiederholt ans italienische Kriegsministerium geschickt habe zur
Weiterbeförderung an die Familien der Gefallenen, daß er aber, da er keinerlei
Empfangsbestätigung erhalten habe, neuerdings solche erbeutete Summen direkt
an die fraglichen Familien adressiere, deren Namen er bisher durch die Papiere
der Gefallenen habe feststellen können.

Und militärisch: das türkische Jmprovisations- und Organisationstalent
erzwingt unter den widerlichsten Verhältnissen Erfolge gegenüber einer numerisch
und technisch überlegenen Armee und erinnert an den Ruhmestitel, mit dem
schon Luther den Türken charakterisiert hat, als er ihn ein Vorbild der Organi¬
sationsfähigkeit für die Deutschen nannte. Neulich hat Enver Bey in einem
Privatbrief aus der Cyrenaika eine genaue Skizze der türkisch-arabischen
Stellungen und der italienischen Verschanzungen mitgeschickt: der Eindruck ist der
einer förmlichen Belagerung der italienischen Truppen an der Küste, wo sie sich
nur unter dem Schutz der Schiffsgeschütze halten können. Nie ttnoäus, nie
salta: in Tripolis ist „Rhodus". dort ist der Tanz der kriegerischen Entscheidung
M wagen. Mag Italien die Insel Rhodus und der Reihe nach die Sporaden
besetzen — immer mit erdrückender Massenübermacht —, militärisch bedeuten
solche „Triumphe" nichts, noch weniger als der mißglückte Versuch einer Forcierung
der Dardanellen. Die Türkei ist und bleibt eine Landmacht und sie sehnt sich
danach, ihre militärischen Kräfte mit einer italienischen Armee messen zu können.


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[0515] Türkische Richtlinien zu überstehen und dabei noch moralische Eroberungen zu machen durch die Offen¬ barung jungtürkischer Kräfte, die in diesem Grad und in dieser Art weite Kreise weder geahnt noch gekannt haben. Wohl hat schon die jungtürkische Revolution für die Augenzeugen ihrer geschichtlichen Einzigartigkeit das Bismarcksche Wort bestätigt, daß der Türke der Gentleman des Orients ist; jetzt trägt der Tripoliswind solche Wahrheit in die weite Welt und weht europäische Vorurteile und Falschurteile hinweg. Wo hat sich der sprichwörtliche „Fanatismus des Mohammedaners" in blutigen Christen¬ massakers ausgetobt? Der Verfolgungswahn des Tyrannen Abdul Hamid hat solche Methode praktiziert, aus den gleichen Motiven und mit den gleichen Tendenzen, wie das christliche Nußland seine jüdischen Pogroms veranstaltet. Aber jetzt predigt der türkisch-mohammedanische Geistliche in der Moschee, keinen Racheakt an schuldlosen Italienern auszuüben, und tatsächlich ist während dieser ganzen acht Monate noch keinerlei Exzeß vorgekommen. Türkische Besonnenheit und Beherrschtheit vergreift sich an keinen: der 60000 Italiener in der Türkei, und türkische Humanität und Kultur hat dieser Masse bisher Gastrecht gewährt. Der arabisch - mohammedanische Kriegsminister erläßt einen Armeebefehl, feind¬ licher Grausamkeit gegenüber nicht gleiches mit gleichem zu vergelten, und er gibt der tripolitanischen Truppe in zwölf Geboten noch besonders detaillierte Befehle, die durch ihren Kulturgeist selbst den Kenner der türkischen Toleranz überraschen. Der Major Enver Bey schreibt in einem seiner letzten Briefe, deren Original ich kenne, daß er das den Leichen italienischer Offiziere ab¬ genommene Geld wiederholt ans italienische Kriegsministerium geschickt habe zur Weiterbeförderung an die Familien der Gefallenen, daß er aber, da er keinerlei Empfangsbestätigung erhalten habe, neuerdings solche erbeutete Summen direkt an die fraglichen Familien adressiere, deren Namen er bisher durch die Papiere der Gefallenen habe feststellen können. Und militärisch: das türkische Jmprovisations- und Organisationstalent erzwingt unter den widerlichsten Verhältnissen Erfolge gegenüber einer numerisch und technisch überlegenen Armee und erinnert an den Ruhmestitel, mit dem schon Luther den Türken charakterisiert hat, als er ihn ein Vorbild der Organi¬ sationsfähigkeit für die Deutschen nannte. Neulich hat Enver Bey in einem Privatbrief aus der Cyrenaika eine genaue Skizze der türkisch-arabischen Stellungen und der italienischen Verschanzungen mitgeschickt: der Eindruck ist der einer förmlichen Belagerung der italienischen Truppen an der Küste, wo sie sich nur unter dem Schutz der Schiffsgeschütze halten können. Nie ttnoäus, nie salta: in Tripolis ist „Rhodus". dort ist der Tanz der kriegerischen Entscheidung M wagen. Mag Italien die Insel Rhodus und der Reihe nach die Sporaden besetzen — immer mit erdrückender Massenübermacht —, militärisch bedeuten solche „Triumphe" nichts, noch weniger als der mißglückte Versuch einer Forcierung der Dardanellen. Die Türkei ist und bleibt eine Landmacht und sie sehnt sich danach, ihre militärischen Kräfte mit einer italienischen Armee messen zu können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/515>, abgerufen am 25.08.2024.