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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Lhina, Rußland und Europa

Nach Semipalatinsk laufen von Süden wichtige Karawanenstraßen aus
Russisch-Zentralasien, anderseits von Nordosten her Wege aus dem dicht¬
besiedelten, fruchtbaren nördlichen Steppenvorland des Altai. Große Dampf¬
mühlen in Semipalatinsk vermahlen schon heute 50000 Tonnen Getreide aus
diesem Gebiet und manche Getreidebarke wird von hier auf den Jrtisch ver¬
frachtet. Andere Wege führen aus dem gewaltigen Bergland des Altai mit
seinen noch vielfach ungehobener Mineralschätzen, seinen Weiden und Wäldern,
zum Jrtisch hinunter; endlich lausen wichtige Karawanenstraßen aus der Süd¬
westecke des chinesischen Reichs nach Scnssan und Semipalatinsk.

Zusammenfassend wird man sagen können, daß die geplante Bahn in dein
Gebiet zwischen Semipalatinsk und, der chinesischen Grenze eine Art Stützpunkt
erhält, der ihrer Rentabilität ein recht erfreuliches Prognostikon sein möchte.
Einmal dem Verkehr erschlossen und den Welthandelsstraßen angegliedert, muß
das Gebiet des oberen oder Schwarzen Jrtisch für Zentralasien ein neues
Handels- und Kulturzentrum werden, das seinen Einfluß weit nach Süden und
Osten geltend machen würde.-




Je mehr wir uns der chinesisch-russischen Grenzzone nähern, um so mehr
wird die Überzeugung lebendig, daß wir zu der Stelle gelangen, an die sich
die meisten Schwierigkeiten für den Bahnbau Moskau--Peking knüpfen. Es
sind das keine natürlichen Schwierigkeiten, obwohl auch deren genügend zu über¬
winden sein dürsten. Größer sind aber doch die politischen.

Die Linie der russisch-chinesischen Grenze, die etwa vom Saissangebiet über
das Tarbagatai-Gebirge südlich zum Barlik, zum dschungarischen Ala-Tam und
zum Tal des Ili, in dem Kultscha gelegen ist, läuft, gehört zu den hei߬
umstrittensten Gebieten der russischen und chinesischen Politik in Mittelasien.
Dort leben noch zahlreiche Nomadenstämme, die je nach der Jahreszeit und den
Regenverhältnissen ihre Standorte wechseln und die heute von den Russen als
Untertanen des Zaren, morgen von den Chinesen als Söhne des Reiches der
Mitte in Anspruch genommen werden. Meist sind diese sogenannten Nomaden
gar nicht mehr selbständige Volksstämme, sondern Hirten im Dienste chinesischer
Kapitalisten, denen die Herden, die Kamele, Pferde und Rinder gehören.
Anderseits aber ist der russische Handel aus dem Gebiete des Sieben-Ströme-
Landes sowohl wie aus dem Gebiete des Schwarzen Jrtisch von Semipalatinsk
aus auf das Hochland gestiegen und Kaufleute russischer Staatsangehörigkeit,
vielfach mohammedanische Armenier, vereinzelt auch echte Moskowiter, halten
ihn in ihren Händen. Diese Verhältnisse im Verein mit Wegelosigkeit bringen
es mit sich, daß die Grenzen dort nicht feststehen. Je nach der Lage der Weide¬
plätze in verschiedenen Jahreszeiten und klimatischen Perioden geben sie zugunsten
der Russen oder Chinesen nach und gewöhnlich benutzen die russischen Militär¬
behörden als die stärkeren solche Verschiebungen, um sich des einen oder anderen
besonders günstig gelegenen strategischen Punktes zu bemächtigen, woran sich


Lhina, Rußland und Europa

Nach Semipalatinsk laufen von Süden wichtige Karawanenstraßen aus
Russisch-Zentralasien, anderseits von Nordosten her Wege aus dem dicht¬
besiedelten, fruchtbaren nördlichen Steppenvorland des Altai. Große Dampf¬
mühlen in Semipalatinsk vermahlen schon heute 50000 Tonnen Getreide aus
diesem Gebiet und manche Getreidebarke wird von hier auf den Jrtisch ver¬
frachtet. Andere Wege führen aus dem gewaltigen Bergland des Altai mit
seinen noch vielfach ungehobener Mineralschätzen, seinen Weiden und Wäldern,
zum Jrtisch hinunter; endlich lausen wichtige Karawanenstraßen aus der Süd¬
westecke des chinesischen Reichs nach Scnssan und Semipalatinsk.

Zusammenfassend wird man sagen können, daß die geplante Bahn in dein
Gebiet zwischen Semipalatinsk und, der chinesischen Grenze eine Art Stützpunkt
erhält, der ihrer Rentabilität ein recht erfreuliches Prognostikon sein möchte.
Einmal dem Verkehr erschlossen und den Welthandelsstraßen angegliedert, muß
das Gebiet des oberen oder Schwarzen Jrtisch für Zentralasien ein neues
Handels- und Kulturzentrum werden, das seinen Einfluß weit nach Süden und
Osten geltend machen würde.-




Je mehr wir uns der chinesisch-russischen Grenzzone nähern, um so mehr
wird die Überzeugung lebendig, daß wir zu der Stelle gelangen, an die sich
die meisten Schwierigkeiten für den Bahnbau Moskau—Peking knüpfen. Es
sind das keine natürlichen Schwierigkeiten, obwohl auch deren genügend zu über¬
winden sein dürsten. Größer sind aber doch die politischen.

Die Linie der russisch-chinesischen Grenze, die etwa vom Saissangebiet über
das Tarbagatai-Gebirge südlich zum Barlik, zum dschungarischen Ala-Tam und
zum Tal des Ili, in dem Kultscha gelegen ist, läuft, gehört zu den hei߬
umstrittensten Gebieten der russischen und chinesischen Politik in Mittelasien.
Dort leben noch zahlreiche Nomadenstämme, die je nach der Jahreszeit und den
Regenverhältnissen ihre Standorte wechseln und die heute von den Russen als
Untertanen des Zaren, morgen von den Chinesen als Söhne des Reiches der
Mitte in Anspruch genommen werden. Meist sind diese sogenannten Nomaden
gar nicht mehr selbständige Volksstämme, sondern Hirten im Dienste chinesischer
Kapitalisten, denen die Herden, die Kamele, Pferde und Rinder gehören.
Anderseits aber ist der russische Handel aus dem Gebiete des Sieben-Ströme-
Landes sowohl wie aus dem Gebiete des Schwarzen Jrtisch von Semipalatinsk
aus auf das Hochland gestiegen und Kaufleute russischer Staatsangehörigkeit,
vielfach mohammedanische Armenier, vereinzelt auch echte Moskowiter, halten
ihn in ihren Händen. Diese Verhältnisse im Verein mit Wegelosigkeit bringen
es mit sich, daß die Grenzen dort nicht feststehen. Je nach der Lage der Weide¬
plätze in verschiedenen Jahreszeiten und klimatischen Perioden geben sie zugunsten
der Russen oder Chinesen nach und gewöhnlich benutzen die russischen Militär¬
behörden als die stärkeren solche Verschiebungen, um sich des einen oder anderen
besonders günstig gelegenen strategischen Punktes zu bemächtigen, woran sich


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[0471] Lhina, Rußland und Europa Nach Semipalatinsk laufen von Süden wichtige Karawanenstraßen aus Russisch-Zentralasien, anderseits von Nordosten her Wege aus dem dicht¬ besiedelten, fruchtbaren nördlichen Steppenvorland des Altai. Große Dampf¬ mühlen in Semipalatinsk vermahlen schon heute 50000 Tonnen Getreide aus diesem Gebiet und manche Getreidebarke wird von hier auf den Jrtisch ver¬ frachtet. Andere Wege führen aus dem gewaltigen Bergland des Altai mit seinen noch vielfach ungehobener Mineralschätzen, seinen Weiden und Wäldern, zum Jrtisch hinunter; endlich lausen wichtige Karawanenstraßen aus der Süd¬ westecke des chinesischen Reichs nach Scnssan und Semipalatinsk. Zusammenfassend wird man sagen können, daß die geplante Bahn in dein Gebiet zwischen Semipalatinsk und, der chinesischen Grenze eine Art Stützpunkt erhält, der ihrer Rentabilität ein recht erfreuliches Prognostikon sein möchte. Einmal dem Verkehr erschlossen und den Welthandelsstraßen angegliedert, muß das Gebiet des oberen oder Schwarzen Jrtisch für Zentralasien ein neues Handels- und Kulturzentrum werden, das seinen Einfluß weit nach Süden und Osten geltend machen würde.- Je mehr wir uns der chinesisch-russischen Grenzzone nähern, um so mehr wird die Überzeugung lebendig, daß wir zu der Stelle gelangen, an die sich die meisten Schwierigkeiten für den Bahnbau Moskau—Peking knüpfen. Es sind das keine natürlichen Schwierigkeiten, obwohl auch deren genügend zu über¬ winden sein dürsten. Größer sind aber doch die politischen. Die Linie der russisch-chinesischen Grenze, die etwa vom Saissangebiet über das Tarbagatai-Gebirge südlich zum Barlik, zum dschungarischen Ala-Tam und zum Tal des Ili, in dem Kultscha gelegen ist, läuft, gehört zu den hei߬ umstrittensten Gebieten der russischen und chinesischen Politik in Mittelasien. Dort leben noch zahlreiche Nomadenstämme, die je nach der Jahreszeit und den Regenverhältnissen ihre Standorte wechseln und die heute von den Russen als Untertanen des Zaren, morgen von den Chinesen als Söhne des Reiches der Mitte in Anspruch genommen werden. Meist sind diese sogenannten Nomaden gar nicht mehr selbständige Volksstämme, sondern Hirten im Dienste chinesischer Kapitalisten, denen die Herden, die Kamele, Pferde und Rinder gehören. Anderseits aber ist der russische Handel aus dem Gebiete des Sieben-Ströme- Landes sowohl wie aus dem Gebiete des Schwarzen Jrtisch von Semipalatinsk aus auf das Hochland gestiegen und Kaufleute russischer Staatsangehörigkeit, vielfach mohammedanische Armenier, vereinzelt auch echte Moskowiter, halten ihn in ihren Händen. Diese Verhältnisse im Verein mit Wegelosigkeit bringen es mit sich, daß die Grenzen dort nicht feststehen. Je nach der Lage der Weide¬ plätze in verschiedenen Jahreszeiten und klimatischen Perioden geben sie zugunsten der Russen oder Chinesen nach und gewöhnlich benutzen die russischen Militär¬ behörden als die stärkeren solche Verschiebungen, um sich des einen oder anderen besonders günstig gelegenen strategischen Punktes zu bemächtigen, woran sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/471>, abgerufen am 25.08.2024.