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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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von alten Liedern
[Beginn Spaltensatz] Maria prach die ladin
woll jn ir Schos,
Joseph der selben weil
doch nit verdroß:
"Eselein, du holst fürbaß gan
wir haben noch dreißig meill zu gan,
es wird zu späte."
Da neiget sich der labt Pauni
zu gotes gnade. Da zogen sie für hin Pas
wol yn am stat,
Joseph gar treulich
umb am Herberg pat.
selbig Wirt lebt jn dem hauß,
er traibt die geht Wider umb aus,
sy waren jm ellende.
Maria die span das reine garen
rin jren senden. Sy giengen ein wenig hin für hin Pas
wol in am dorf,
Joseph gar trewlich
und ein Herberg warff:
"Wirtin, liebste Wirtin mein,
behaltet mir das Kindelein
und auch die frawe."
Sy sprach: "ich wil es gereu tun,
Welt jr jn nur strawe." Wolhin, wolhin gen abent spat,
Da wart es kalt,
Als Pakt sy in die Schelm ging
und Stadt trat.
Maria die nam jr Kindelein,
Joseph der nam sein eselein,
sy lagen besunder.
Da schauet Wirt und Wirtin
zu dem großen Wunder. [Spaltenumbruch] Wolhin, wol hin gen Mitternacht,
da was es kalt:
Der Wirt zu seiner frawen
gar treulich sprach:
"Frawe, liebste frawe mein,
sie auf und mach ein fewerlein
dnrch gotes willen:
das Kindlein seine kam rue gewillt,
es möcht erfroren sein." Die Fraw feuert aus gar Palte,
was mens sy hies,
Wie Pakt sy yn die kuchen liess,
um seur aufs puch.
"Freyelein, liebste freyelein,
trag herein dein Kindelein
Wol zu dem feure:
Dem Kindlein seine kam rue nit hat,
es möcht erfroren sein." Maria het ein Pfändelein
Und das war klein,
Dn kocht sie jrem Kind am auchl,
was lauter und rain.
Weil es vcrzert sein müselein
Maria saug iren Kindelein
gar und gar langue.
"So Pistu mir am spiegel klar
jn meinen äugen." Maria dy kund spinnen,
Des freit sy sich,
Joseph der kunt zimern,
des merken sy sich,
Jesus der kunt Haspen garn.
Der reich Wirt der wirst arm,
Der arm der ward reich:
So die wir got von dienet
Das er uns helf jn sein ewigs reich. [Ende Spaltensatz]

Osterlieder, voll schlichter Trauer über das Leiden des lieben Herrn, voll
Herzeleid über sein Sterben, überquellend von Dank für seine Liebe -- viele
gibt es, die uns noch heilte lieb und teuer sein müßten. Ein sehr schönes und
sehr altes ist auf einem fliegenden Blatt des Klosters Meil erhalten. Es ist
wie ein Aufschrei.

Ein clag zu gott von seinen lydcn

1601.
von alten Liedern
[Beginn Spaltensatz] Maria prach die ladin
woll jn ir Schos,
Joseph der selben weil
doch nit verdroß:
„Eselein, du holst fürbaß gan
wir haben noch dreißig meill zu gan,
es wird zu späte."
Da neiget sich der labt Pauni
zu gotes gnade. Da zogen sie für hin Pas
wol yn am stat,
Joseph gar treulich
umb am Herberg pat.
selbig Wirt lebt jn dem hauß,
er traibt die geht Wider umb aus,
sy waren jm ellende.
Maria die span das reine garen
rin jren senden. Sy giengen ein wenig hin für hin Pas
wol in am dorf,
Joseph gar trewlich
und ein Herberg warff:
„Wirtin, liebste Wirtin mein,
behaltet mir das Kindelein
und auch die frawe."
Sy sprach: „ich wil es gereu tun,
Welt jr jn nur strawe." Wolhin, wolhin gen abent spat,
Da wart es kalt,
Als Pakt sy in die Schelm ging
und Stadt trat.
Maria die nam jr Kindelein,
Joseph der nam sein eselein,
sy lagen besunder.
Da schauet Wirt und Wirtin
zu dem großen Wunder. [Spaltenumbruch] Wolhin, wol hin gen Mitternacht,
da was es kalt:
Der Wirt zu seiner frawen
gar treulich sprach:
„Frawe, liebste frawe mein,
sie auf und mach ein fewerlein
dnrch gotes willen:
das Kindlein seine kam rue gewillt,
es möcht erfroren sein." Die Fraw feuert aus gar Palte,
was mens sy hies,
Wie Pakt sy yn die kuchen liess,
um seur aufs puch.
„Freyelein, liebste freyelein,
trag herein dein Kindelein
Wol zu dem feure:
Dem Kindlein seine kam rue nit hat,
es möcht erfroren sein." Maria het ein Pfändelein
Und das war klein,
Dn kocht sie jrem Kind am auchl,
was lauter und rain.
Weil es vcrzert sein müselein
Maria saug iren Kindelein
gar und gar langue.
„So Pistu mir am spiegel klar
jn meinen äugen." Maria dy kund spinnen,
Des freit sy sich,
Joseph der kunt zimern,
des merken sy sich,
Jesus der kunt Haspen garn.
Der reich Wirt der wirst arm,
Der arm der ward reich:
So die wir got von dienet
Das er uns helf jn sein ewigs reich. [Ende Spaltensatz]

Osterlieder, voll schlichter Trauer über das Leiden des lieben Herrn, voll
Herzeleid über sein Sterben, überquellend von Dank für seine Liebe — viele
gibt es, die uns noch heilte lieb und teuer sein müßten. Ein sehr schönes und
sehr altes ist auf einem fliegenden Blatt des Klosters Meil erhalten. Es ist
wie ein Aufschrei.

Ein clag zu gott von seinen lydcn

1601.
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[0044] von alten Liedern Maria prach die ladin woll jn ir Schos, Joseph der selben weil doch nit verdroß: „Eselein, du holst fürbaß gan wir haben noch dreißig meill zu gan, es wird zu späte." Da neiget sich der labt Pauni zu gotes gnade. Da zogen sie für hin Pas wol yn am stat, Joseph gar treulich umb am Herberg pat. selbig Wirt lebt jn dem hauß, er traibt die geht Wider umb aus, sy waren jm ellende. Maria die span das reine garen rin jren senden. Sy giengen ein wenig hin für hin Pas wol in am dorf, Joseph gar trewlich und ein Herberg warff: „Wirtin, liebste Wirtin mein, behaltet mir das Kindelein und auch die frawe." Sy sprach: „ich wil es gereu tun, Welt jr jn nur strawe." Wolhin, wolhin gen abent spat, Da wart es kalt, Als Pakt sy in die Schelm ging und Stadt trat. Maria die nam jr Kindelein, Joseph der nam sein eselein, sy lagen besunder. Da schauet Wirt und Wirtin zu dem großen Wunder. Wolhin, wol hin gen Mitternacht, da was es kalt: Der Wirt zu seiner frawen gar treulich sprach: „Frawe, liebste frawe mein, sie auf und mach ein fewerlein dnrch gotes willen: das Kindlein seine kam rue gewillt, es möcht erfroren sein." Die Fraw feuert aus gar Palte, was mens sy hies, Wie Pakt sy yn die kuchen liess, um seur aufs puch. „Freyelein, liebste freyelein, trag herein dein Kindelein Wol zu dem feure: Dem Kindlein seine kam rue nit hat, es möcht erfroren sein." Maria het ein Pfändelein Und das war klein, Dn kocht sie jrem Kind am auchl, was lauter und rain. Weil es vcrzert sein müselein Maria saug iren Kindelein gar und gar langue. „So Pistu mir am spiegel klar jn meinen äugen." Maria dy kund spinnen, Des freit sy sich, Joseph der kunt zimern, des merken sy sich, Jesus der kunt Haspen garn. Der reich Wirt der wirst arm, Der arm der ward reich: So die wir got von dienet Das er uns helf jn sein ewigs reich. Osterlieder, voll schlichter Trauer über das Leiden des lieben Herrn, voll Herzeleid über sein Sterben, überquellend von Dank für seine Liebe — viele gibt es, die uns noch heilte lieb und teuer sein müßten. Ein sehr schönes und sehr altes ist auf einem fliegenden Blatt des Klosters Meil erhalten. Es ist wie ein Aufschrei. Ein clag zu gott von seinen lydcn 1601.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/44>, abgerufen am 25.08.2024.