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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zur Dardanellenfrage

versteht sich danach von selbst, auch ohne daß ein Vertrag es ausspricht/ daß
die Handelsschiffahrt durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bos¬
porus grundsätzlich frei ist. Besondere Verhältnisse bestehen in Kriegszeiten.
Das vornehmste Recht des Staates ist das der Selbsterhaltung. Keine Macht
auf Erden, keine internationale Vereinbarung wäre in der Lage, einem Staat
die Verpflichtung aufzuerlegen, seine Selbsterhaltung hinter die Interessen anderer
Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zurückzusetzen. Wenn die Türkei die Darda¬
nellen sperrte und damit keine Rücksicht auf den neutralen Mächten dadurch
entstehenden Schaden nahm, so handelte sie lediglich nach diesem Prinzip, da
sie unter allen Umstünden eine etwaige Einfahrt der italienischen Flotte in die
Dardanellen und die daraus sich ergebenden unabsehbaren Folgen verhindern
mußte. Das Recht der Türkei, unter den gegebenen Verhältnissen die Meerenge
zu sperren, kann schlechthin nicht bestritten werden, woraus folgt, daß aus
der Tatsache der Sperre als solcher ein Schadenersatz nicht abgeleitet werden
kann.

Die weitere Frage aber ist: hat die Sperre etwa über die zur Abwehr
der italienischen Kriegsoperationen notwendige Zeit hinaus bestanden, bestand
sie ungerechtfertigt lange und ist daraus gegebenenfalls eine Schadenersatz¬
forderung abzuleiten? Grundsätzlich ist die Türkei, da die Dardanellen eine
für den Handelsverkehr freie Meerstraße sind, verpflichtet, sie solange offen zu
halten und so bald wieder zu öffnen, als keine unmittelbare Gefahr die
Sperrung erfordert. Es ist lediglich czuae8die> taeti wann eine solche Gefahr
beginnt, wann sie aufhört. Im vorliegenden Falle hat meines Erachtens die
Türkei ihre Verpflichtungen nicht verletzt, da die Operationen der italienischen
Flotte, die Besetzung einer Reihe von Inseln im Ägäischen Meere usw. in der
Türkei wohl die Überzeugung rechtfertigen konnten, daß die Gefahr eines An¬
griffes auf die Dardanellen und letzten Endes auch auf Konstantinopel nicht
beseitigt war. Anders würde der Fall zu beurteilen sein, falls Italien den
Mächten und durch diese der Türkei eine bindende Erklärung abgegeben hätte,
einen weiteren Angriff auf die Dardanellen unterlassen zu wollen. Hätte die
Türkei nach Eingang dieser Erklärung, der natürlich ein entsprechendes Ver¬
halten Italiens hätte folgen müssen, die Sperre aufrecht erhalten, so wäre
allerdings eine etwaige Schadenersatzforderung nicht unberechtigt gewesen. Eine
derartige bindende Erklärung ist aber, soweit bekannt, von keiner Seite von
Italien erbeten und von ihm auch nicht gegeben worden. Danach ist meines
Erachtens das Verhalten der Türkei durchaus korrekt gewesen, wenngleich nicht
verkannt werden kann, daß zwischen dem Zeitpunkt, in dem sie ihre Bereit¬
willigkeit zur Öffnung der Dardanellen erklärte, in dem also nach ihrer
Überzeugung eine unmittelbare Gefahr nicht bestand, und dem Zeitpunkt
der effektiven Öffnung ein recht langer Zwischenraum lag. Allein, wie es scheint
kann die Pforte die Verantwortung dafür mit Recht unter Hinweis auf die
Witterungsverhältnisse ablehnen, die es ihr nicht ermöglichten, die ausgelegten


Zur Dardanellenfrage

versteht sich danach von selbst, auch ohne daß ein Vertrag es ausspricht/ daß
die Handelsschiffahrt durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bos¬
porus grundsätzlich frei ist. Besondere Verhältnisse bestehen in Kriegszeiten.
Das vornehmste Recht des Staates ist das der Selbsterhaltung. Keine Macht
auf Erden, keine internationale Vereinbarung wäre in der Lage, einem Staat
die Verpflichtung aufzuerlegen, seine Selbsterhaltung hinter die Interessen anderer
Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zurückzusetzen. Wenn die Türkei die Darda¬
nellen sperrte und damit keine Rücksicht auf den neutralen Mächten dadurch
entstehenden Schaden nahm, so handelte sie lediglich nach diesem Prinzip, da
sie unter allen Umstünden eine etwaige Einfahrt der italienischen Flotte in die
Dardanellen und die daraus sich ergebenden unabsehbaren Folgen verhindern
mußte. Das Recht der Türkei, unter den gegebenen Verhältnissen die Meerenge
zu sperren, kann schlechthin nicht bestritten werden, woraus folgt, daß aus
der Tatsache der Sperre als solcher ein Schadenersatz nicht abgeleitet werden
kann.

Die weitere Frage aber ist: hat die Sperre etwa über die zur Abwehr
der italienischen Kriegsoperationen notwendige Zeit hinaus bestanden, bestand
sie ungerechtfertigt lange und ist daraus gegebenenfalls eine Schadenersatz¬
forderung abzuleiten? Grundsätzlich ist die Türkei, da die Dardanellen eine
für den Handelsverkehr freie Meerstraße sind, verpflichtet, sie solange offen zu
halten und so bald wieder zu öffnen, als keine unmittelbare Gefahr die
Sperrung erfordert. Es ist lediglich czuae8die> taeti wann eine solche Gefahr
beginnt, wann sie aufhört. Im vorliegenden Falle hat meines Erachtens die
Türkei ihre Verpflichtungen nicht verletzt, da die Operationen der italienischen
Flotte, die Besetzung einer Reihe von Inseln im Ägäischen Meere usw. in der
Türkei wohl die Überzeugung rechtfertigen konnten, daß die Gefahr eines An¬
griffes auf die Dardanellen und letzten Endes auch auf Konstantinopel nicht
beseitigt war. Anders würde der Fall zu beurteilen sein, falls Italien den
Mächten und durch diese der Türkei eine bindende Erklärung abgegeben hätte,
einen weiteren Angriff auf die Dardanellen unterlassen zu wollen. Hätte die
Türkei nach Eingang dieser Erklärung, der natürlich ein entsprechendes Ver¬
halten Italiens hätte folgen müssen, die Sperre aufrecht erhalten, so wäre
allerdings eine etwaige Schadenersatzforderung nicht unberechtigt gewesen. Eine
derartige bindende Erklärung ist aber, soweit bekannt, von keiner Seite von
Italien erbeten und von ihm auch nicht gegeben worden. Danach ist meines
Erachtens das Verhalten der Türkei durchaus korrekt gewesen, wenngleich nicht
verkannt werden kann, daß zwischen dem Zeitpunkt, in dem sie ihre Bereit¬
willigkeit zur Öffnung der Dardanellen erklärte, in dem also nach ihrer
Überzeugung eine unmittelbare Gefahr nicht bestand, und dem Zeitpunkt
der effektiven Öffnung ein recht langer Zwischenraum lag. Allein, wie es scheint
kann die Pforte die Verantwortung dafür mit Recht unter Hinweis auf die
Witterungsverhältnisse ablehnen, die es ihr nicht ermöglichten, die ausgelegten


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[0432] Zur Dardanellenfrage versteht sich danach von selbst, auch ohne daß ein Vertrag es ausspricht/ daß die Handelsschiffahrt durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bos¬ porus grundsätzlich frei ist. Besondere Verhältnisse bestehen in Kriegszeiten. Das vornehmste Recht des Staates ist das der Selbsterhaltung. Keine Macht auf Erden, keine internationale Vereinbarung wäre in der Lage, einem Staat die Verpflichtung aufzuerlegen, seine Selbsterhaltung hinter die Interessen anderer Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft zurückzusetzen. Wenn die Türkei die Darda¬ nellen sperrte und damit keine Rücksicht auf den neutralen Mächten dadurch entstehenden Schaden nahm, so handelte sie lediglich nach diesem Prinzip, da sie unter allen Umstünden eine etwaige Einfahrt der italienischen Flotte in die Dardanellen und die daraus sich ergebenden unabsehbaren Folgen verhindern mußte. Das Recht der Türkei, unter den gegebenen Verhältnissen die Meerenge zu sperren, kann schlechthin nicht bestritten werden, woraus folgt, daß aus der Tatsache der Sperre als solcher ein Schadenersatz nicht abgeleitet werden kann. Die weitere Frage aber ist: hat die Sperre etwa über die zur Abwehr der italienischen Kriegsoperationen notwendige Zeit hinaus bestanden, bestand sie ungerechtfertigt lange und ist daraus gegebenenfalls eine Schadenersatz¬ forderung abzuleiten? Grundsätzlich ist die Türkei, da die Dardanellen eine für den Handelsverkehr freie Meerstraße sind, verpflichtet, sie solange offen zu halten und so bald wieder zu öffnen, als keine unmittelbare Gefahr die Sperrung erfordert. Es ist lediglich czuae8die> taeti wann eine solche Gefahr beginnt, wann sie aufhört. Im vorliegenden Falle hat meines Erachtens die Türkei ihre Verpflichtungen nicht verletzt, da die Operationen der italienischen Flotte, die Besetzung einer Reihe von Inseln im Ägäischen Meere usw. in der Türkei wohl die Überzeugung rechtfertigen konnten, daß die Gefahr eines An¬ griffes auf die Dardanellen und letzten Endes auch auf Konstantinopel nicht beseitigt war. Anders würde der Fall zu beurteilen sein, falls Italien den Mächten und durch diese der Türkei eine bindende Erklärung abgegeben hätte, einen weiteren Angriff auf die Dardanellen unterlassen zu wollen. Hätte die Türkei nach Eingang dieser Erklärung, der natürlich ein entsprechendes Ver¬ halten Italiens hätte folgen müssen, die Sperre aufrecht erhalten, so wäre allerdings eine etwaige Schadenersatzforderung nicht unberechtigt gewesen. Eine derartige bindende Erklärung ist aber, soweit bekannt, von keiner Seite von Italien erbeten und von ihm auch nicht gegeben worden. Danach ist meines Erachtens das Verhalten der Türkei durchaus korrekt gewesen, wenngleich nicht verkannt werden kann, daß zwischen dem Zeitpunkt, in dem sie ihre Bereit¬ willigkeit zur Öffnung der Dardanellen erklärte, in dem also nach ihrer Überzeugung eine unmittelbare Gefahr nicht bestand, und dem Zeitpunkt der effektiven Öffnung ein recht langer Zwischenraum lag. Allein, wie es scheint kann die Pforte die Verantwortung dafür mit Recht unter Hinweis auf die Witterungsverhältnisse ablehnen, die es ihr nicht ermöglichten, die ausgelegten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/432>, abgerufen am 23.07.2024.