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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zur Dardanellenfrage

Lösung der orientalischen Frage. Unter den verbündeten Mächten aber hatte
England den Hauptgewinn, denn unter den neugeschaffenen Verhältnissen, die
lediglich die wiederhergestellten alten waren, besaß es wieder das unbestrittene
Übergewicht*)."

Im Jahre 1853 hielt Kaiser Nikolaus der Erste von Rußland den Zeit¬
punkt sür gekommen, die orientalische Frage ihrer Lösung entgegenzuführen und mit
der Türkei, von der "man nicht wisse, ob sie schon gestorben sei, oder ob sie
erst im Begriffe stehe zu sterben", eine Art polnische Teilung vorzunehmen.
Die Verhandlungen des Fürsten Menschikow mit der Hohen Pforte hinsichtlich
der heiligen Stätten, die den gesuchten ca8us belli bilden mußten, gaben das
Signal zu einem europäischen Krieg, der seinen Anfang nahm, als am 2. Juli
1853 zwei russische Armeekorps in die Donaufürstentümer einmarschierten. Die
Türkei beantwortete diesen Friedensbruch nicht ohne weiteres mit einer Kriegs¬
erklärung, um zunächst das Ergebnis der Vermittlungsversuche der Mächte
abzuwarten. Unter diesen lehnten insbesondere England und Frankreich auf
das entschiedenste die Absicht Rußlands ab, das europäische Gleichgewicht, das
ohne eine lebensfähige Türkei nicht aufrecht zu erhalten sei, zu stören. Da die
Vermittlungsversuche scheiterten, traten England und Frankreich auf die Seite
der Türkei. Noch bevor der Krieg von türkischer Seite offiziell erklärt war,
bat diese die beiden Mächte, die ausdrücklich erklärten, daß ihnen selbstsüchtige
Zwecke fernlägen und sie lediglich deshalb in ein Schutz- und Trutzverhältnis
zur Türkei getreten seien, um zum Zweck der Erhaltung des europäischen Gleich¬
gewichts einen dauernden Frieden zwischen der Türkei und Rußland herbeizu¬
führen ihre Flotten vorrücken zu lassen. Um die Mitte des September 1853
fuhren sie in die Dardanellen ein. Rußland sah darin eine Verletzung des
Vertrages von 1841 und ließ durch den Baron Brünnow in London gegen
dieses Vorgehen Protest erheben, der jedoch von Lord Clarenton in einer Note
vom 1. Oktober 1853 mit dem Bemerken zurückgewiesen wurde, daß von dem
Augenblicke des Einrückens der russischen Heereskörper in die Donaufürstentümer
die Türkei aufgehört habe, in Frieden zu leben; sie sei daher berechtigt gewesen,
die englische Flotte in die Dardanellen einfahren zu lassen, und England habe
das Recht gehabt, seine Flotte in die Dardanellen zu schicken. Die einzelnen
Phasen des Krimkrieges interessieren hier nicht, sondern nur sein Ergebnis in
bezug auf die Dardanellenfrage, wie es in dem Vertrage zwischen Preußen,
Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien und der Türkei vom
30. März 1856 niedergelegt wurde.

Der Zweck dieses Vertrages war, das gestörte Gleichgewicht Europas
wiederherzustellen und es nach besten Kräften gegen eine neue Beeinträchtigung
möglichst lange zu schützen. Man glaubte dies am besten zu erreichen, indem
man nicht nur "die Hohe Pforte teilhaftig erklärte der Vorteile des öffentlichen




*) Herre, "Der Kampf um die Herrschaft im Mittelmeer". Leipzig 1909.
**) Vertrag zwischen England und Frankreich vom 10. Mai 1364.
Zur Dardanellenfrage

Lösung der orientalischen Frage. Unter den verbündeten Mächten aber hatte
England den Hauptgewinn, denn unter den neugeschaffenen Verhältnissen, die
lediglich die wiederhergestellten alten waren, besaß es wieder das unbestrittene
Übergewicht*)."

Im Jahre 1853 hielt Kaiser Nikolaus der Erste von Rußland den Zeit¬
punkt sür gekommen, die orientalische Frage ihrer Lösung entgegenzuführen und mit
der Türkei, von der „man nicht wisse, ob sie schon gestorben sei, oder ob sie
erst im Begriffe stehe zu sterben", eine Art polnische Teilung vorzunehmen.
Die Verhandlungen des Fürsten Menschikow mit der Hohen Pforte hinsichtlich
der heiligen Stätten, die den gesuchten ca8us belli bilden mußten, gaben das
Signal zu einem europäischen Krieg, der seinen Anfang nahm, als am 2. Juli
1853 zwei russische Armeekorps in die Donaufürstentümer einmarschierten. Die
Türkei beantwortete diesen Friedensbruch nicht ohne weiteres mit einer Kriegs¬
erklärung, um zunächst das Ergebnis der Vermittlungsversuche der Mächte
abzuwarten. Unter diesen lehnten insbesondere England und Frankreich auf
das entschiedenste die Absicht Rußlands ab, das europäische Gleichgewicht, das
ohne eine lebensfähige Türkei nicht aufrecht zu erhalten sei, zu stören. Da die
Vermittlungsversuche scheiterten, traten England und Frankreich auf die Seite
der Türkei. Noch bevor der Krieg von türkischer Seite offiziell erklärt war,
bat diese die beiden Mächte, die ausdrücklich erklärten, daß ihnen selbstsüchtige
Zwecke fernlägen und sie lediglich deshalb in ein Schutz- und Trutzverhältnis
zur Türkei getreten seien, um zum Zweck der Erhaltung des europäischen Gleich¬
gewichts einen dauernden Frieden zwischen der Türkei und Rußland herbeizu¬
führen ihre Flotten vorrücken zu lassen. Um die Mitte des September 1853
fuhren sie in die Dardanellen ein. Rußland sah darin eine Verletzung des
Vertrages von 1841 und ließ durch den Baron Brünnow in London gegen
dieses Vorgehen Protest erheben, der jedoch von Lord Clarenton in einer Note
vom 1. Oktober 1853 mit dem Bemerken zurückgewiesen wurde, daß von dem
Augenblicke des Einrückens der russischen Heereskörper in die Donaufürstentümer
die Türkei aufgehört habe, in Frieden zu leben; sie sei daher berechtigt gewesen,
die englische Flotte in die Dardanellen einfahren zu lassen, und England habe
das Recht gehabt, seine Flotte in die Dardanellen zu schicken. Die einzelnen
Phasen des Krimkrieges interessieren hier nicht, sondern nur sein Ergebnis in
bezug auf die Dardanellenfrage, wie es in dem Vertrage zwischen Preußen,
Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien und der Türkei vom
30. März 1856 niedergelegt wurde.

Der Zweck dieses Vertrages war, das gestörte Gleichgewicht Europas
wiederherzustellen und es nach besten Kräften gegen eine neue Beeinträchtigung
möglichst lange zu schützen. Man glaubte dies am besten zu erreichen, indem
man nicht nur „die Hohe Pforte teilhaftig erklärte der Vorteile des öffentlichen




*) Herre, „Der Kampf um die Herrschaft im Mittelmeer". Leipzig 1909.
**) Vertrag zwischen England und Frankreich vom 10. Mai 1364.
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[0428] Zur Dardanellenfrage Lösung der orientalischen Frage. Unter den verbündeten Mächten aber hatte England den Hauptgewinn, denn unter den neugeschaffenen Verhältnissen, die lediglich die wiederhergestellten alten waren, besaß es wieder das unbestrittene Übergewicht*)." Im Jahre 1853 hielt Kaiser Nikolaus der Erste von Rußland den Zeit¬ punkt sür gekommen, die orientalische Frage ihrer Lösung entgegenzuführen und mit der Türkei, von der „man nicht wisse, ob sie schon gestorben sei, oder ob sie erst im Begriffe stehe zu sterben", eine Art polnische Teilung vorzunehmen. Die Verhandlungen des Fürsten Menschikow mit der Hohen Pforte hinsichtlich der heiligen Stätten, die den gesuchten ca8us belli bilden mußten, gaben das Signal zu einem europäischen Krieg, der seinen Anfang nahm, als am 2. Juli 1853 zwei russische Armeekorps in die Donaufürstentümer einmarschierten. Die Türkei beantwortete diesen Friedensbruch nicht ohne weiteres mit einer Kriegs¬ erklärung, um zunächst das Ergebnis der Vermittlungsversuche der Mächte abzuwarten. Unter diesen lehnten insbesondere England und Frankreich auf das entschiedenste die Absicht Rußlands ab, das europäische Gleichgewicht, das ohne eine lebensfähige Türkei nicht aufrecht zu erhalten sei, zu stören. Da die Vermittlungsversuche scheiterten, traten England und Frankreich auf die Seite der Türkei. Noch bevor der Krieg von türkischer Seite offiziell erklärt war, bat diese die beiden Mächte, die ausdrücklich erklärten, daß ihnen selbstsüchtige Zwecke fernlägen und sie lediglich deshalb in ein Schutz- und Trutzverhältnis zur Türkei getreten seien, um zum Zweck der Erhaltung des europäischen Gleich¬ gewichts einen dauernden Frieden zwischen der Türkei und Rußland herbeizu¬ führen ihre Flotten vorrücken zu lassen. Um die Mitte des September 1853 fuhren sie in die Dardanellen ein. Rußland sah darin eine Verletzung des Vertrages von 1841 und ließ durch den Baron Brünnow in London gegen dieses Vorgehen Protest erheben, der jedoch von Lord Clarenton in einer Note vom 1. Oktober 1853 mit dem Bemerken zurückgewiesen wurde, daß von dem Augenblicke des Einrückens der russischen Heereskörper in die Donaufürstentümer die Türkei aufgehört habe, in Frieden zu leben; sie sei daher berechtigt gewesen, die englische Flotte in die Dardanellen einfahren zu lassen, und England habe das Recht gehabt, seine Flotte in die Dardanellen zu schicken. Die einzelnen Phasen des Krimkrieges interessieren hier nicht, sondern nur sein Ergebnis in bezug auf die Dardanellenfrage, wie es in dem Vertrage zwischen Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien und der Türkei vom 30. März 1856 niedergelegt wurde. Der Zweck dieses Vertrages war, das gestörte Gleichgewicht Europas wiederherzustellen und es nach besten Kräften gegen eine neue Beeinträchtigung möglichst lange zu schützen. Man glaubte dies am besten zu erreichen, indem man nicht nur „die Hohe Pforte teilhaftig erklärte der Vorteile des öffentlichen *) Herre, „Der Kampf um die Herrschaft im Mittelmeer". Leipzig 1909. **) Vertrag zwischen England und Frankreich vom 10. Mai 1364.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/428>, abgerufen am 25.08.2024.