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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus dem Reiche der modernen lNusik

Streletzkis (Hainauer) und ganz modern die P. Ertels (Forberg). Da "Suite"
nicht eigentlich eine bestimmte Form, sondern nur eine Folge von Stücken bedeutet,
so bieten sich hier dem Komponisten die verschiedensten Möglichkeiten für die Wahl
der Formen und des Inhalts der Stücke, die er in einer Suite zusammenfassen will;
man vergleiche dazu Ruthardts "Militärische Suite" (Forberg) und Napoleäo
"psle ensis" (Andre).

Während also die Suite sich immer noch einer gewissen Beliebtheit erfreut,
ist die große Sonate heute allgemach verklungen. Von allen späteren Meistern
hat die lapidare Größe der klassischen Kunst eines Beethoven doch wohl nur
Brahms erreicht, namentlich mit seiner gewaltigen l^-moll-Sonate, die uns
anmutet wie der Lebensroman einer trotzig-herben Kraftnatur, die sich aus dem
Schmerz über die Zertrümmerung ihres Einzelglücks zur Befreiung ringt im
Dienst einer hohen sittlichen Idee. Die Sonate der Romantiker ist im Bau
lockerer, mosaikartiger zusammengefügt, aber es sind herrliche Sachen darunter,
wie z. B. die viel zu wenig gespickte Phantasie-Sonate Felix Dräsekes und die
romantischen Sonaten des feinsinnigen, hochpoetischen Amerikaners Mac Dowell,
der in seinem Sinnen und Dichten Schumann nahe steht. Es liegt ein geheimnis¬
voller Zauber über seiner Musik, die uns tief in das Wunderland der Romantik
führt, wo Nixen und Elfen ihr Wesen treiben und seltsame Blumen blühen
und die Sehnsucht heimlich lauscht auf den Ton, der "durch alle Töne donet".
(Das Andante der L-aur-Suite!) Ob wir ihm in sein amerikanisches Waldidyll
folgen oder ans Meer oder in nordisches Nebelgewölk, immer spüren wir den
Herzschlag einer von tiefstem Empfinden beseelten, von eigenem Feuer durch¬
glühten Persönlichkeit. (Werke bei Schott und Breitkopf u. Härtel.) Eine wenig
gekannte Sonate von edler, fast klassischer Haltung schrieb auch E. E. Taubert
(Simrock). Der erste Satz ist etwas spröde und reflektorisch, dafür entschädigen
reichlich die anderen Sätze, besonders der zweite. Auch die schönen Sonaten
von R. Fuchs (Kistner) und R. Niemann (Schweers u. Haacke; dort auch die
übrigen Kompositionen des leider fast verschollenen Tondichters) brauchen nicht
vergessen zu werden, es ist edle Musik. Wer auf diesem Gebiet noch weiter
suchen will, wird noch manch gehaltvolles Stück dieser Gattung finden. In der
Hauptsache aber folgte die moderne Klaviermusik dem besonders von Schumann
angebahnten Zuge zum Genrehaften: das "Charakterstück", das echte Kind der
Romantik, fand die weitestgehende Pflege bei den jüngeren Tondichtern, die sich
in näherem oder fernerem Abstände um Schumann und Chopin gruppieren;
und eine überaus reizvolle und gediegene Literatur entstand durch die Ver¬
mählung dichterischer Vorstellungen mit musikalischen im Augenblick der künst¬
lerischen Konzeption, z. B. die Stimmungsdichtungen des gemütvollen Th. Kirchner
(Simrock u. a.), A. Jensens wundervolle "Idyllen", das "Erotikon", das man
sehr lieben muß, die sinnigen "Sommermärchen" und "Herbstblätter" von R.
Fuchs (Simrock, die anderen Kompositionen des Meisters bei Kistner), die
reizenden "Genrebilder" von Hermann Goetz (Kistner), A. Krugs hochpoetische


Aus dem Reiche der modernen lNusik

Streletzkis (Hainauer) und ganz modern die P. Ertels (Forberg). Da „Suite"
nicht eigentlich eine bestimmte Form, sondern nur eine Folge von Stücken bedeutet,
so bieten sich hier dem Komponisten die verschiedensten Möglichkeiten für die Wahl
der Formen und des Inhalts der Stücke, die er in einer Suite zusammenfassen will;
man vergleiche dazu Ruthardts „Militärische Suite" (Forberg) und Napoleäo
„psle ensis" (Andre).

Während also die Suite sich immer noch einer gewissen Beliebtheit erfreut,
ist die große Sonate heute allgemach verklungen. Von allen späteren Meistern
hat die lapidare Größe der klassischen Kunst eines Beethoven doch wohl nur
Brahms erreicht, namentlich mit seiner gewaltigen l^-moll-Sonate, die uns
anmutet wie der Lebensroman einer trotzig-herben Kraftnatur, die sich aus dem
Schmerz über die Zertrümmerung ihres Einzelglücks zur Befreiung ringt im
Dienst einer hohen sittlichen Idee. Die Sonate der Romantiker ist im Bau
lockerer, mosaikartiger zusammengefügt, aber es sind herrliche Sachen darunter,
wie z. B. die viel zu wenig gespickte Phantasie-Sonate Felix Dräsekes und die
romantischen Sonaten des feinsinnigen, hochpoetischen Amerikaners Mac Dowell,
der in seinem Sinnen und Dichten Schumann nahe steht. Es liegt ein geheimnis¬
voller Zauber über seiner Musik, die uns tief in das Wunderland der Romantik
führt, wo Nixen und Elfen ihr Wesen treiben und seltsame Blumen blühen
und die Sehnsucht heimlich lauscht auf den Ton, der „durch alle Töne donet".
(Das Andante der L-aur-Suite!) Ob wir ihm in sein amerikanisches Waldidyll
folgen oder ans Meer oder in nordisches Nebelgewölk, immer spüren wir den
Herzschlag einer von tiefstem Empfinden beseelten, von eigenem Feuer durch¬
glühten Persönlichkeit. (Werke bei Schott und Breitkopf u. Härtel.) Eine wenig
gekannte Sonate von edler, fast klassischer Haltung schrieb auch E. E. Taubert
(Simrock). Der erste Satz ist etwas spröde und reflektorisch, dafür entschädigen
reichlich die anderen Sätze, besonders der zweite. Auch die schönen Sonaten
von R. Fuchs (Kistner) und R. Niemann (Schweers u. Haacke; dort auch die
übrigen Kompositionen des leider fast verschollenen Tondichters) brauchen nicht
vergessen zu werden, es ist edle Musik. Wer auf diesem Gebiet noch weiter
suchen will, wird noch manch gehaltvolles Stück dieser Gattung finden. In der
Hauptsache aber folgte die moderne Klaviermusik dem besonders von Schumann
angebahnten Zuge zum Genrehaften: das „Charakterstück", das echte Kind der
Romantik, fand die weitestgehende Pflege bei den jüngeren Tondichtern, die sich
in näherem oder fernerem Abstände um Schumann und Chopin gruppieren;
und eine überaus reizvolle und gediegene Literatur entstand durch die Ver¬
mählung dichterischer Vorstellungen mit musikalischen im Augenblick der künst¬
lerischen Konzeption, z. B. die Stimmungsdichtungen des gemütvollen Th. Kirchner
(Simrock u. a.), A. Jensens wundervolle „Idyllen", das „Erotikon", das man
sehr lieben muß, die sinnigen „Sommermärchen" und „Herbstblätter" von R.
Fuchs (Simrock, die anderen Kompositionen des Meisters bei Kistner), die
reizenden „Genrebilder" von Hermann Goetz (Kistner), A. Krugs hochpoetische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/331>, abgerufen am 25.08.2024.