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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ans dein Reiche der moderne" Musik

entgegensetzen. Ein großer Teil auch des gebildeten Dilettantentums kommt
über eine gewisse Grenze nicht hinaus, daher die ablehnende Haltung gegen
Bach und die älteren Meister, ingleichen gegen die Etude, die den meisten wohl
als eine Art Kinderschrecken gilt. Und gerade in dieser Gattung verbirgt sich
so unendlich viel Stimmungsmusik, angefangen von den technisch und musikalisch
gleich wertvollen Etüden Cramers, die ein Hans von Bülow der Mühe einer
Neuausgabe für wert hielt, bis zu den von wahrhaft poetischem Dufte erfüllten
Chopins und den Riesenetüden Liszts. Dazwischen liegt nun unendlich viel:
die gehaltvollen, charakteristischen Etüden von Moscheles, die Chopin ähnlichen,
teilweise sehr schönen Novakowskis (Kistner) und Jensens, der etwas hausbackene
aber außerordentlich instruktive Keßler, die Poeten Hans Seeling und Ad. Henselt.
Charles Mayer (Kistner) und viele andere, wer zählt sie alle auf? Eine gute
Zusammenstellung wertvollen Etüdenmaterials ist neuerdings bei Andre erschienen.
Da fast jeder Klavierkomponist von Bedeutung gelegentlich auch Studienwerke
geschrieben hat, so bietet auch die neueste Klavierliteratur hier noch vieles Wert¬
volle, zum Teil hervorragende und für den Vortrag überaus dankbare Stücke,
es sei hier nur auf Mac Dowells Virtuosenetüden (Breitkopf u. Härtel), Ruthardts
edle Pedalstudien (Forberg), Sapellnikows Konzertetüden (Andre) hingewiesen.
Mit dieser, wie man steht, umfangreichen Literatur mögen aber wohl nur ver¬
hältnismäßig wenige vertraut sein, zumal die Anforderungen die sie stellt,
durchweg hoch sind, ja zum Teil virtuoses Können voraussetzen. Die hohen
Anforderungen -- das ist das Leidige in der Musik. Eine in der Jugend
vernachlässigte Technik wird sich später nur sehr schwer wieder einbringen lassen,
und so bleibt dem größten Teile selbst des gebildeten Dilettantentums das
Höchste der Kunst verschlossen. Zu dem letzten Beethoven, zu Brahms und
Chopin dringen doch wohl die weitaus meisten niemals vor; man nascht hier
und da an den leichteren Sachen derselben, ein bißchen "Träumerei", ein paar
Chopinsche Walzer -- und ahnt nicht, was man alles sich entgehen lassen mag.
Chopin! Die Schönheit seiner Musik ist mit Worten nicht auszusagen. Diese
süßen Klänge voll exotischen Reizes, diese schwebenden Stimmungen, diese
"Wogen auf phosphornen Schwingen -- sehnende Wogen",

Man muß die Poesie zu Hilfe rufen, um einen schwachen Begriff davon
zu geben, und die eben zitierten Verse Max Dauthendeys dürsten sich wohl
dazu eignen -- die Subjektivität solcher Assoziation natürlich zugegeben.

Unwillkürlich ist die Darstellung somit bereits von allgemeiner Betrachtung
auf das Gebiet des Ästhetischen und Literarischen hinübergeglitten. Nicht ohne
Absicht. Denn nicht für die ewig Blinden, deren Ergötzung die Schundfabrik¬
ware bildet, sind diese Blätter geschrieben, sie würden ja doch nichts daran


Ans dein Reiche der moderne» Musik

entgegensetzen. Ein großer Teil auch des gebildeten Dilettantentums kommt
über eine gewisse Grenze nicht hinaus, daher die ablehnende Haltung gegen
Bach und die älteren Meister, ingleichen gegen die Etude, die den meisten wohl
als eine Art Kinderschrecken gilt. Und gerade in dieser Gattung verbirgt sich
so unendlich viel Stimmungsmusik, angefangen von den technisch und musikalisch
gleich wertvollen Etüden Cramers, die ein Hans von Bülow der Mühe einer
Neuausgabe für wert hielt, bis zu den von wahrhaft poetischem Dufte erfüllten
Chopins und den Riesenetüden Liszts. Dazwischen liegt nun unendlich viel:
die gehaltvollen, charakteristischen Etüden von Moscheles, die Chopin ähnlichen,
teilweise sehr schönen Novakowskis (Kistner) und Jensens, der etwas hausbackene
aber außerordentlich instruktive Keßler, die Poeten Hans Seeling und Ad. Henselt.
Charles Mayer (Kistner) und viele andere, wer zählt sie alle auf? Eine gute
Zusammenstellung wertvollen Etüdenmaterials ist neuerdings bei Andre erschienen.
Da fast jeder Klavierkomponist von Bedeutung gelegentlich auch Studienwerke
geschrieben hat, so bietet auch die neueste Klavierliteratur hier noch vieles Wert¬
volle, zum Teil hervorragende und für den Vortrag überaus dankbare Stücke,
es sei hier nur auf Mac Dowells Virtuosenetüden (Breitkopf u. Härtel), Ruthardts
edle Pedalstudien (Forberg), Sapellnikows Konzertetüden (Andre) hingewiesen.
Mit dieser, wie man steht, umfangreichen Literatur mögen aber wohl nur ver¬
hältnismäßig wenige vertraut sein, zumal die Anforderungen die sie stellt,
durchweg hoch sind, ja zum Teil virtuoses Können voraussetzen. Die hohen
Anforderungen — das ist das Leidige in der Musik. Eine in der Jugend
vernachlässigte Technik wird sich später nur sehr schwer wieder einbringen lassen,
und so bleibt dem größten Teile selbst des gebildeten Dilettantentums das
Höchste der Kunst verschlossen. Zu dem letzten Beethoven, zu Brahms und
Chopin dringen doch wohl die weitaus meisten niemals vor; man nascht hier
und da an den leichteren Sachen derselben, ein bißchen „Träumerei", ein paar
Chopinsche Walzer — und ahnt nicht, was man alles sich entgehen lassen mag.
Chopin! Die Schönheit seiner Musik ist mit Worten nicht auszusagen. Diese
süßen Klänge voll exotischen Reizes, diese schwebenden Stimmungen, diese
„Wogen auf phosphornen Schwingen — sehnende Wogen",

Man muß die Poesie zu Hilfe rufen, um einen schwachen Begriff davon
zu geben, und die eben zitierten Verse Max Dauthendeys dürsten sich wohl
dazu eignen — die Subjektivität solcher Assoziation natürlich zugegeben.

Unwillkürlich ist die Darstellung somit bereits von allgemeiner Betrachtung
auf das Gebiet des Ästhetischen und Literarischen hinübergeglitten. Nicht ohne
Absicht. Denn nicht für die ewig Blinden, deren Ergötzung die Schundfabrik¬
ware bildet, sind diese Blätter geschrieben, sie würden ja doch nichts daran


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[0329] Ans dein Reiche der moderne» Musik entgegensetzen. Ein großer Teil auch des gebildeten Dilettantentums kommt über eine gewisse Grenze nicht hinaus, daher die ablehnende Haltung gegen Bach und die älteren Meister, ingleichen gegen die Etude, die den meisten wohl als eine Art Kinderschrecken gilt. Und gerade in dieser Gattung verbirgt sich so unendlich viel Stimmungsmusik, angefangen von den technisch und musikalisch gleich wertvollen Etüden Cramers, die ein Hans von Bülow der Mühe einer Neuausgabe für wert hielt, bis zu den von wahrhaft poetischem Dufte erfüllten Chopins und den Riesenetüden Liszts. Dazwischen liegt nun unendlich viel: die gehaltvollen, charakteristischen Etüden von Moscheles, die Chopin ähnlichen, teilweise sehr schönen Novakowskis (Kistner) und Jensens, der etwas hausbackene aber außerordentlich instruktive Keßler, die Poeten Hans Seeling und Ad. Henselt. Charles Mayer (Kistner) und viele andere, wer zählt sie alle auf? Eine gute Zusammenstellung wertvollen Etüdenmaterials ist neuerdings bei Andre erschienen. Da fast jeder Klavierkomponist von Bedeutung gelegentlich auch Studienwerke geschrieben hat, so bietet auch die neueste Klavierliteratur hier noch vieles Wert¬ volle, zum Teil hervorragende und für den Vortrag überaus dankbare Stücke, es sei hier nur auf Mac Dowells Virtuosenetüden (Breitkopf u. Härtel), Ruthardts edle Pedalstudien (Forberg), Sapellnikows Konzertetüden (Andre) hingewiesen. Mit dieser, wie man steht, umfangreichen Literatur mögen aber wohl nur ver¬ hältnismäßig wenige vertraut sein, zumal die Anforderungen die sie stellt, durchweg hoch sind, ja zum Teil virtuoses Können voraussetzen. Die hohen Anforderungen — das ist das Leidige in der Musik. Eine in der Jugend vernachlässigte Technik wird sich später nur sehr schwer wieder einbringen lassen, und so bleibt dem größten Teile selbst des gebildeten Dilettantentums das Höchste der Kunst verschlossen. Zu dem letzten Beethoven, zu Brahms und Chopin dringen doch wohl die weitaus meisten niemals vor; man nascht hier und da an den leichteren Sachen derselben, ein bißchen „Träumerei", ein paar Chopinsche Walzer — und ahnt nicht, was man alles sich entgehen lassen mag. Chopin! Die Schönheit seiner Musik ist mit Worten nicht auszusagen. Diese süßen Klänge voll exotischen Reizes, diese schwebenden Stimmungen, diese „Wogen auf phosphornen Schwingen — sehnende Wogen", Man muß die Poesie zu Hilfe rufen, um einen schwachen Begriff davon zu geben, und die eben zitierten Verse Max Dauthendeys dürsten sich wohl dazu eignen — die Subjektivität solcher Assoziation natürlich zugegeben. Unwillkürlich ist die Darstellung somit bereits von allgemeiner Betrachtung auf das Gebiet des Ästhetischen und Literarischen hinübergeglitten. Nicht ohne Absicht. Denn nicht für die ewig Blinden, deren Ergötzung die Schundfabrik¬ ware bildet, sind diese Blätter geschrieben, sie würden ja doch nichts daran

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/329>, abgerufen am 23.07.2024.