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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ich sah den Tod im Traum. . .
von Albert Sergel
Vier Lebensromane
von Dr. Heinrich Tpiero

heodor Fontane hat einmal die Berechtigung einer neuen Dichtung
wesentlich damit begründet, daß sie originell sei, und er klagte
damals über die Dublettenkrankheit, die unserer Literatur anhafte.
Wer wollte bezweifeln, daß dieser Zug zur ewigen Wiederholung
des Gleichen auch heute bei uns vorhanden ist und nirgends
stärker als im Roman. In dem naturalistischen Roman der achtziger und
neunziger Jahre so gut wie in dem späteren Heimatroman strotzte es nur so
von Wiederholungen, Abwandlungen desselben Themas, gewissermaßen nur in
anderer Verkleidung. Neben dem Wertvollen, dessen Zahl und Gewicht sicherlich
nicht gering ist, liegt überall die bloße Dublette. Auch in dem Entwicklungs¬
roman ist das der Fall, seitdem er einen neuen Aufschwung genommen und,
noch beeinflußt durch das naturalistische Streben nach Intimität, immer neue
Gebiete der Lebensdarstellung erobert hat. Es ist deshalb immerhin ein seltener
Fall, wenn eine Anzahl gleichzeitig erschienener Werke dasselbe Motiv ganz
verschiedenartig, ganz persönlich, ja, jedes in seiner Weise originell behandelt.
Verhältnismäßig am wenigsten ist das in Richard Sexaus ersten Roman "März¬
trieb" der Fall (Berlin, Axel Juncker). Denn äußerlich verläuft sich das Thema
wenig von der üblichen Heerstraße. Ein junger Mensch, stark künstlerisch bewegt,
aber kein Künstler, lernt im Hause des Freundes, wo er sich im Dienste des
kranken Vaters nützlich macht, die junge Schwester und Tochter lieben und reißt
sich schließlich aus freiem Willen los, da er sie aus äußeren Gründen noch nicht
heimführen kann und seiner eigenen Stärke dem reinen Mädchen gegenüber
nicht traut. Sie aber fühlt sich durch ein Mißverständnis getäuscht und entzieht
sich ihm für immer, so daß die beiden Menschen für ewig fern von einander
dahergehen, weil das einfache Wort der Wahrheit nach allem Gewesenen nicht
mehr von ihm zu ihr durchdringt. Diese Vorgänge aber behandelt Sexan in
einer knappen Sprache mit sehr glücklicher, nicht geschwätziger Ausmalung der
Umgebung und mit scharfer, eindringender Charakteristik. Das langsame Erwachen
der Empfindung in ihr, das jähe Auflodern dann, das ihn erschreckt und ihr
unschuldsvoll natürlich ist, sind vorzüglich und ohne Schielen gegeben.

Origineller, auch in dem Inhalt der Erzählung selbst, ist der Roman von
Leonore Frei: "Das leuchtende Reich" (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger). Der Held dieses Romans stammt väterlicherseits aus einem adligen




Ich sah den Tod im Traum. . .
von Albert Sergel
Vier Lebensromane
von Dr. Heinrich Tpiero

heodor Fontane hat einmal die Berechtigung einer neuen Dichtung
wesentlich damit begründet, daß sie originell sei, und er klagte
damals über die Dublettenkrankheit, die unserer Literatur anhafte.
Wer wollte bezweifeln, daß dieser Zug zur ewigen Wiederholung
des Gleichen auch heute bei uns vorhanden ist und nirgends
stärker als im Roman. In dem naturalistischen Roman der achtziger und
neunziger Jahre so gut wie in dem späteren Heimatroman strotzte es nur so
von Wiederholungen, Abwandlungen desselben Themas, gewissermaßen nur in
anderer Verkleidung. Neben dem Wertvollen, dessen Zahl und Gewicht sicherlich
nicht gering ist, liegt überall die bloße Dublette. Auch in dem Entwicklungs¬
roman ist das der Fall, seitdem er einen neuen Aufschwung genommen und,
noch beeinflußt durch das naturalistische Streben nach Intimität, immer neue
Gebiete der Lebensdarstellung erobert hat. Es ist deshalb immerhin ein seltener
Fall, wenn eine Anzahl gleichzeitig erschienener Werke dasselbe Motiv ganz
verschiedenartig, ganz persönlich, ja, jedes in seiner Weise originell behandelt.
Verhältnismäßig am wenigsten ist das in Richard Sexaus ersten Roman „März¬
trieb" der Fall (Berlin, Axel Juncker). Denn äußerlich verläuft sich das Thema
wenig von der üblichen Heerstraße. Ein junger Mensch, stark künstlerisch bewegt,
aber kein Künstler, lernt im Hause des Freundes, wo er sich im Dienste des
kranken Vaters nützlich macht, die junge Schwester und Tochter lieben und reißt
sich schließlich aus freiem Willen los, da er sie aus äußeren Gründen noch nicht
heimführen kann und seiner eigenen Stärke dem reinen Mädchen gegenüber
nicht traut. Sie aber fühlt sich durch ein Mißverständnis getäuscht und entzieht
sich ihm für immer, so daß die beiden Menschen für ewig fern von einander
dahergehen, weil das einfache Wort der Wahrheit nach allem Gewesenen nicht
mehr von ihm zu ihr durchdringt. Diese Vorgänge aber behandelt Sexan in
einer knappen Sprache mit sehr glücklicher, nicht geschwätziger Ausmalung der
Umgebung und mit scharfer, eindringender Charakteristik. Das langsame Erwachen
der Empfindung in ihr, das jähe Auflodern dann, das ihn erschreckt und ihr
unschuldsvoll natürlich ist, sind vorzüglich und ohne Schielen gegeben.

Origineller, auch in dem Inhalt der Erzählung selbst, ist der Roman von
Leonore Frei: „Das leuchtende Reich" (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger). Der Held dieses Romans stammt väterlicherseits aus einem adligen


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[0302] [Abbildung] Ich sah den Tod im Traum. . . von Albert Sergel Vier Lebensromane von Dr. Heinrich Tpiero heodor Fontane hat einmal die Berechtigung einer neuen Dichtung wesentlich damit begründet, daß sie originell sei, und er klagte damals über die Dublettenkrankheit, die unserer Literatur anhafte. Wer wollte bezweifeln, daß dieser Zug zur ewigen Wiederholung des Gleichen auch heute bei uns vorhanden ist und nirgends stärker als im Roman. In dem naturalistischen Roman der achtziger und neunziger Jahre so gut wie in dem späteren Heimatroman strotzte es nur so von Wiederholungen, Abwandlungen desselben Themas, gewissermaßen nur in anderer Verkleidung. Neben dem Wertvollen, dessen Zahl und Gewicht sicherlich nicht gering ist, liegt überall die bloße Dublette. Auch in dem Entwicklungs¬ roman ist das der Fall, seitdem er einen neuen Aufschwung genommen und, noch beeinflußt durch das naturalistische Streben nach Intimität, immer neue Gebiete der Lebensdarstellung erobert hat. Es ist deshalb immerhin ein seltener Fall, wenn eine Anzahl gleichzeitig erschienener Werke dasselbe Motiv ganz verschiedenartig, ganz persönlich, ja, jedes in seiner Weise originell behandelt. Verhältnismäßig am wenigsten ist das in Richard Sexaus ersten Roman „März¬ trieb" der Fall (Berlin, Axel Juncker). Denn äußerlich verläuft sich das Thema wenig von der üblichen Heerstraße. Ein junger Mensch, stark künstlerisch bewegt, aber kein Künstler, lernt im Hause des Freundes, wo er sich im Dienste des kranken Vaters nützlich macht, die junge Schwester und Tochter lieben und reißt sich schließlich aus freiem Willen los, da er sie aus äußeren Gründen noch nicht heimführen kann und seiner eigenen Stärke dem reinen Mädchen gegenüber nicht traut. Sie aber fühlt sich durch ein Mißverständnis getäuscht und entzieht sich ihm für immer, so daß die beiden Menschen für ewig fern von einander dahergehen, weil das einfache Wort der Wahrheit nach allem Gewesenen nicht mehr von ihm zu ihr durchdringt. Diese Vorgänge aber behandelt Sexan in einer knappen Sprache mit sehr glücklicher, nicht geschwätziger Ausmalung der Umgebung und mit scharfer, eindringender Charakteristik. Das langsame Erwachen der Empfindung in ihr, das jähe Auflodern dann, das ihn erschreckt und ihr unschuldsvoll natürlich ist, sind vorzüglich und ohne Schielen gegeben. Origineller, auch in dem Inhalt der Erzählung selbst, ist der Roman von Leonore Frei: „Das leuchtende Reich" (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger). Der Held dieses Romans stammt väterlicherseits aus einem adligen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/302>, abgerufen am 22.07.2024.