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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wirtschaftliche Rüstung

Denn obwohl unser Fleischbedarf nur zu etwa 41/2 Prozent aus dein Auslande
kommt, so fällt bei der Einfuhr schwer ins Gewicht, daß ihre Möglichkeit durch
die verschiedensten Rücksichten, insbesondere solche veterinärer und sanitärer Art,
beengt ist. Die Mehrzahl der europäischen Länder scheidet als Bezugsquelle für
lebendes Vieh aus, weil sie entweder selbst einführen müssen, wie England,
oder noch weniger Viehstämme haben als wir, wie Schweden, vor allem aber,
weil sie verseucht sind, wie Rußland und die Balkanländer, und die Einfuhr von dort
unseren eigenen Viehbestand aufs schwerste gefährden würde. Es bleibt eigentlich
nur Dänemark und in geringerem Maße Österreich-Ungarn für unsere Aus¬
landsversorgung mit lebendem Vieh übrig, während ein Versuch mit der Einfuhr
französischen Schlachtviehs wieder fallen gelassen werden mußte. Der oben
erwähnte Dr. Mueller sagt darüber: "Die Einfuhr lebenden Schlachtviehs erweist
sich ebensowohl bezüglich der erforderten Menge, als auch für die Beeinflussung
der Preisbildung praktisch als unwirksam. . . . Unter allen Umständen ist sie
aber wegen der ständigen Gefahr der Seucheneinschleppung ... zu beanstanden
und am besten. . . überhaupt auszuschließen." Dieser Standpunkt darf nicht
als zu rigoros erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das freihäudlerische
England aus gleichen Gründen so ziemlich alle Länder außer Kanada und den
Vereinigten Staaten gegen die Einfuhr lebenden Schlachtviehs sperrt.

Es bleibt also für unsere Fleischversorgung die Einfuhr frischen oder
gefrorenen Fleisches übrig. Sie ist gegenwärtig nach zwei Richtungen
erschwert: erstens durch einen Zoll, der im Verhältnis zur Lebendeinfuhr sehr
hoch ist; zweitens durch die Bestimmung des Z 12 des Reichs - Fleischbeschau¬
gesetzes vom 3. Juni 1900, wonach behufs sanitärer Nachprüfung nur ganze
oder (bei Rindern und Schweinen) halbe Tierkörper eingeführt werden dürfen,
und die Mitlieferung von Brust- und Bauchfell, Lunge, Herz und Niere im
natürlichen Zusammenhange vorgeschrieben ist. Da das in dieser Gestalt gelieferte
Fleisch, auch wenn gefroren, einen längeren Transport nicht aushält, ohne den
Geruch der Eingeweide anzuziehen, so hat sich eine bedeutende Einfuhr von
Fleisch bei uns nicht entwickelt, und fast uur Dünemark und die Niederlande
kommen hierfür in Betracht.

Vom Standpunkt unserer wirtschaftlichen Rüstung muß diese geringe Ent¬
wicklung der Vieh- und Fleischeinfuhr unbedingt erwünscht erscheinen. Ja, wenn
auch anzunehmen ist, daß in einem Kriege zwischen europäischen Großmächten
Dänemark und die Niederlande neutral, und die Zufuhr aus ihnen nicht
gefährdet sein würde, so muß man doch die völlige Unabhängigkeit Deutschlands
von ausländischer Vieh- und Fleischeinfuhr als erstrebenswertes Ziel bezeichnen.
Und zwar selbst dann, wenn dieses Ziel nur unter Verringerung unseres
Getreidebaues zu erreichen wäre. Jedenfalls aber ist eine Parallele zwischen
unserer Tribuipflicht an das Ausland für Futtermittel und derjenigen für
Schlachtvieh verfehlt. Denn es ist eben ein großer Unterschied, ob man tote,
beliebig transportfähige und der Art nach untereinander meist ersetzbare Futter-


Wirtschaftliche Rüstung

Denn obwohl unser Fleischbedarf nur zu etwa 41/2 Prozent aus dein Auslande
kommt, so fällt bei der Einfuhr schwer ins Gewicht, daß ihre Möglichkeit durch
die verschiedensten Rücksichten, insbesondere solche veterinärer und sanitärer Art,
beengt ist. Die Mehrzahl der europäischen Länder scheidet als Bezugsquelle für
lebendes Vieh aus, weil sie entweder selbst einführen müssen, wie England,
oder noch weniger Viehstämme haben als wir, wie Schweden, vor allem aber,
weil sie verseucht sind, wie Rußland und die Balkanländer, und die Einfuhr von dort
unseren eigenen Viehbestand aufs schwerste gefährden würde. Es bleibt eigentlich
nur Dänemark und in geringerem Maße Österreich-Ungarn für unsere Aus¬
landsversorgung mit lebendem Vieh übrig, während ein Versuch mit der Einfuhr
französischen Schlachtviehs wieder fallen gelassen werden mußte. Der oben
erwähnte Dr. Mueller sagt darüber: „Die Einfuhr lebenden Schlachtviehs erweist
sich ebensowohl bezüglich der erforderten Menge, als auch für die Beeinflussung
der Preisbildung praktisch als unwirksam. . . . Unter allen Umständen ist sie
aber wegen der ständigen Gefahr der Seucheneinschleppung ... zu beanstanden
und am besten. . . überhaupt auszuschließen." Dieser Standpunkt darf nicht
als zu rigoros erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das freihäudlerische
England aus gleichen Gründen so ziemlich alle Länder außer Kanada und den
Vereinigten Staaten gegen die Einfuhr lebenden Schlachtviehs sperrt.

Es bleibt also für unsere Fleischversorgung die Einfuhr frischen oder
gefrorenen Fleisches übrig. Sie ist gegenwärtig nach zwei Richtungen
erschwert: erstens durch einen Zoll, der im Verhältnis zur Lebendeinfuhr sehr
hoch ist; zweitens durch die Bestimmung des Z 12 des Reichs - Fleischbeschau¬
gesetzes vom 3. Juni 1900, wonach behufs sanitärer Nachprüfung nur ganze
oder (bei Rindern und Schweinen) halbe Tierkörper eingeführt werden dürfen,
und die Mitlieferung von Brust- und Bauchfell, Lunge, Herz und Niere im
natürlichen Zusammenhange vorgeschrieben ist. Da das in dieser Gestalt gelieferte
Fleisch, auch wenn gefroren, einen längeren Transport nicht aushält, ohne den
Geruch der Eingeweide anzuziehen, so hat sich eine bedeutende Einfuhr von
Fleisch bei uns nicht entwickelt, und fast uur Dünemark und die Niederlande
kommen hierfür in Betracht.

Vom Standpunkt unserer wirtschaftlichen Rüstung muß diese geringe Ent¬
wicklung der Vieh- und Fleischeinfuhr unbedingt erwünscht erscheinen. Ja, wenn
auch anzunehmen ist, daß in einem Kriege zwischen europäischen Großmächten
Dänemark und die Niederlande neutral, und die Zufuhr aus ihnen nicht
gefährdet sein würde, so muß man doch die völlige Unabhängigkeit Deutschlands
von ausländischer Vieh- und Fleischeinfuhr als erstrebenswertes Ziel bezeichnen.
Und zwar selbst dann, wenn dieses Ziel nur unter Verringerung unseres
Getreidebaues zu erreichen wäre. Jedenfalls aber ist eine Parallele zwischen
unserer Tribuipflicht an das Ausland für Futtermittel und derjenigen für
Schlachtvieh verfehlt. Denn es ist eben ein großer Unterschied, ob man tote,
beliebig transportfähige und der Art nach untereinander meist ersetzbare Futter-


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[0288] Wirtschaftliche Rüstung Denn obwohl unser Fleischbedarf nur zu etwa 41/2 Prozent aus dein Auslande kommt, so fällt bei der Einfuhr schwer ins Gewicht, daß ihre Möglichkeit durch die verschiedensten Rücksichten, insbesondere solche veterinärer und sanitärer Art, beengt ist. Die Mehrzahl der europäischen Länder scheidet als Bezugsquelle für lebendes Vieh aus, weil sie entweder selbst einführen müssen, wie England, oder noch weniger Viehstämme haben als wir, wie Schweden, vor allem aber, weil sie verseucht sind, wie Rußland und die Balkanländer, und die Einfuhr von dort unseren eigenen Viehbestand aufs schwerste gefährden würde. Es bleibt eigentlich nur Dänemark und in geringerem Maße Österreich-Ungarn für unsere Aus¬ landsversorgung mit lebendem Vieh übrig, während ein Versuch mit der Einfuhr französischen Schlachtviehs wieder fallen gelassen werden mußte. Der oben erwähnte Dr. Mueller sagt darüber: „Die Einfuhr lebenden Schlachtviehs erweist sich ebensowohl bezüglich der erforderten Menge, als auch für die Beeinflussung der Preisbildung praktisch als unwirksam. . . . Unter allen Umständen ist sie aber wegen der ständigen Gefahr der Seucheneinschleppung ... zu beanstanden und am besten. . . überhaupt auszuschließen." Dieser Standpunkt darf nicht als zu rigoros erscheinen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das freihäudlerische England aus gleichen Gründen so ziemlich alle Länder außer Kanada und den Vereinigten Staaten gegen die Einfuhr lebenden Schlachtviehs sperrt. Es bleibt also für unsere Fleischversorgung die Einfuhr frischen oder gefrorenen Fleisches übrig. Sie ist gegenwärtig nach zwei Richtungen erschwert: erstens durch einen Zoll, der im Verhältnis zur Lebendeinfuhr sehr hoch ist; zweitens durch die Bestimmung des Z 12 des Reichs - Fleischbeschau¬ gesetzes vom 3. Juni 1900, wonach behufs sanitärer Nachprüfung nur ganze oder (bei Rindern und Schweinen) halbe Tierkörper eingeführt werden dürfen, und die Mitlieferung von Brust- und Bauchfell, Lunge, Herz und Niere im natürlichen Zusammenhange vorgeschrieben ist. Da das in dieser Gestalt gelieferte Fleisch, auch wenn gefroren, einen längeren Transport nicht aushält, ohne den Geruch der Eingeweide anzuziehen, so hat sich eine bedeutende Einfuhr von Fleisch bei uns nicht entwickelt, und fast uur Dünemark und die Niederlande kommen hierfür in Betracht. Vom Standpunkt unserer wirtschaftlichen Rüstung muß diese geringe Ent¬ wicklung der Vieh- und Fleischeinfuhr unbedingt erwünscht erscheinen. Ja, wenn auch anzunehmen ist, daß in einem Kriege zwischen europäischen Großmächten Dänemark und die Niederlande neutral, und die Zufuhr aus ihnen nicht gefährdet sein würde, so muß man doch die völlige Unabhängigkeit Deutschlands von ausländischer Vieh- und Fleischeinfuhr als erstrebenswertes Ziel bezeichnen. Und zwar selbst dann, wenn dieses Ziel nur unter Verringerung unseres Getreidebaues zu erreichen wäre. Jedenfalls aber ist eine Parallele zwischen unserer Tribuipflicht an das Ausland für Futtermittel und derjenigen für Schlachtvieh verfehlt. Denn es ist eben ein großer Unterschied, ob man tote, beliebig transportfähige und der Art nach untereinander meist ersetzbare Futter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/288>, abgerufen am 23.07.2024.