Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie?

Nach dem ersten Vorschlage würde sich bei Zugrundelegung der empfohlenen
Pauschalsumme von 50000 Mark für jeden Handwerkskammerbezirk eine jähr¬
liche Gesamtbelastung von 3,55 Millionen für die deutsche Industrie -- es
handelt sich um einundsiebzig Kammern ergeben. Wie wenig begründet diese
Forderung ist und wie sehr sie mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruche
steht, lassen am besten die Ausführungen des preußischen Handelsministers vom
1. Februar 1908 erkennen"), die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein mögen:
"Ich habe eine Umfrage veranstaltet, um festzustellen, welche Beträge denn
zunächst einmal die (preußischen) Handwerkskammern für die Lehrlingsansbildung
aufwenden, und da bin ich doch zu einigen nicht uninteressanter Ergebnissen
gekommen. Es hat eine kürzlich vorgenommene Umfrage über die Einnahmen
und Ausgaben der preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehr¬
lingswesens ergeben, daß im Jahre 1906 von den dreiunddreißig preußischen
Handwerkskammern zwanzig Handwerkskammern eine Mehrausgabe von ins¬
gesamt 60442,20 Mark auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrlinge zu
leisten hatten; dreizehn Handwerkskammern haben dagegen auf diesem Gebiete
20551,20 Mark mehr eingenommen, als sie aufgewendet haben. Alle dreiund¬
dreißig Handwerkskammern haben also zusammen 39891 Mark für das Lehrlings¬
wesen mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Dabei sind allerdings nur
von acht Kammern Verwaltungskosten in Ansatz gebracht. Aber selbst wenn
man hierfür auch für die übrigen fünfundzwanzig Kammern je 1500 Mark
37 600 Mark hinzurechnet, so würden die durch Einnahmen nicht gedeckten
Aufwendungen aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete der Lehr¬
lingsausbildung 77391 Mark betragen. Auch dieser Betrag wird sich noch
etwas ermäßigen, weil ein paar Kammern, die ich hier nicht nennen will,
zweifellos zu hohe Verwaltungskosten in Ansatz gebracht haben, so daß man
wohl rund 70000 Mark als Gesamtleistung aller preußischen Handwerkskammern
auf dem Gebiete des Lehrlingswesens berechnen kann. Wenn man aber berück¬
sichtigt, daß diese Aufwendungen nicht ausschließlich der Industrie zugute kommen,
sondern daß ein Teil der Lehrlinge -- ich will 60 Prozent annehmen -- im
Handwerk bleibt, so würde man zu dem Ergebnis kommen, daß die preußischen
Handwerkskammern überhaupt nur 35000 Mark verausgabt haben, die der
Großindustrie, die hier in Frage kommt, angerechnet werden können. Nun ist
ja zuzugeben, daß die Handwerkskammern nicht allein derartige Schulen unter¬
halten, sondern daß dies auch die Innungen tun, und für die Innungen fehlen
die Zahlen. Es bestehen aber in Preußen nur dreihundertfünfunddreißig Jnnungs-
fachschulen, und es ist nach der ganzen Art der Einrichtung und dem Umfange
dieser Schulen nicht anzunehmen, daß die hier aufgewandten Kosten sehr erheb-
lich sind."



") Stenographische Berichte der Verhandlunge" des preußischen Abgeordnetenhauses,
2", Legislaturperiode, IV. Session, II. Band, S, 1429M30,
Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie?

Nach dem ersten Vorschlage würde sich bei Zugrundelegung der empfohlenen
Pauschalsumme von 50000 Mark für jeden Handwerkskammerbezirk eine jähr¬
liche Gesamtbelastung von 3,55 Millionen für die deutsche Industrie — es
handelt sich um einundsiebzig Kammern ergeben. Wie wenig begründet diese
Forderung ist und wie sehr sie mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruche
steht, lassen am besten die Ausführungen des preußischen Handelsministers vom
1. Februar 1908 erkennen"), die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein mögen:
„Ich habe eine Umfrage veranstaltet, um festzustellen, welche Beträge denn
zunächst einmal die (preußischen) Handwerkskammern für die Lehrlingsansbildung
aufwenden, und da bin ich doch zu einigen nicht uninteressanter Ergebnissen
gekommen. Es hat eine kürzlich vorgenommene Umfrage über die Einnahmen
und Ausgaben der preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehr¬
lingswesens ergeben, daß im Jahre 1906 von den dreiunddreißig preußischen
Handwerkskammern zwanzig Handwerkskammern eine Mehrausgabe von ins¬
gesamt 60442,20 Mark auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrlinge zu
leisten hatten; dreizehn Handwerkskammern haben dagegen auf diesem Gebiete
20551,20 Mark mehr eingenommen, als sie aufgewendet haben. Alle dreiund¬
dreißig Handwerkskammern haben also zusammen 39891 Mark für das Lehrlings¬
wesen mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Dabei sind allerdings nur
von acht Kammern Verwaltungskosten in Ansatz gebracht. Aber selbst wenn
man hierfür auch für die übrigen fünfundzwanzig Kammern je 1500 Mark
37 600 Mark hinzurechnet, so würden die durch Einnahmen nicht gedeckten
Aufwendungen aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete der Lehr¬
lingsausbildung 77391 Mark betragen. Auch dieser Betrag wird sich noch
etwas ermäßigen, weil ein paar Kammern, die ich hier nicht nennen will,
zweifellos zu hohe Verwaltungskosten in Ansatz gebracht haben, so daß man
wohl rund 70000 Mark als Gesamtleistung aller preußischen Handwerkskammern
auf dem Gebiete des Lehrlingswesens berechnen kann. Wenn man aber berück¬
sichtigt, daß diese Aufwendungen nicht ausschließlich der Industrie zugute kommen,
sondern daß ein Teil der Lehrlinge — ich will 60 Prozent annehmen — im
Handwerk bleibt, so würde man zu dem Ergebnis kommen, daß die preußischen
Handwerkskammern überhaupt nur 35000 Mark verausgabt haben, die der
Großindustrie, die hier in Frage kommt, angerechnet werden können. Nun ist
ja zuzugeben, daß die Handwerkskammern nicht allein derartige Schulen unter¬
halten, sondern daß dies auch die Innungen tun, und für die Innungen fehlen
die Zahlen. Es bestehen aber in Preußen nur dreihundertfünfunddreißig Jnnungs-
fachschulen, und es ist nach der ganzen Art der Einrichtung und dem Umfange
dieser Schulen nicht anzunehmen, daß die hier aufgewandten Kosten sehr erheb-
lich sind."



") Stenographische Berichte der Verhandlunge» des preußischen Abgeordnetenhauses,
2«, Legislaturperiode, IV. Session, II. Band, S, 1429M30,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321316"/>
          <fw type="header" place="top"> Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_920"> Nach dem ersten Vorschlage würde sich bei Zugrundelegung der empfohlenen<lb/>
Pauschalsumme von 50000 Mark für jeden Handwerkskammerbezirk eine jähr¬<lb/>
liche Gesamtbelastung von 3,55 Millionen für die deutsche Industrie &#x2014; es<lb/>
handelt sich um einundsiebzig Kammern ergeben. Wie wenig begründet diese<lb/>
Forderung ist und wie sehr sie mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruche<lb/>
steht, lassen am besten die Ausführungen des preußischen Handelsministers vom<lb/>
1. Februar 1908 erkennen"), die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein mögen:<lb/>
&#x201E;Ich habe eine Umfrage veranstaltet, um festzustellen, welche Beträge denn<lb/>
zunächst einmal die (preußischen) Handwerkskammern für die Lehrlingsansbildung<lb/>
aufwenden, und da bin ich doch zu einigen nicht uninteressanter Ergebnissen<lb/>
gekommen. Es hat eine kürzlich vorgenommene Umfrage über die Einnahmen<lb/>
und Ausgaben der preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehr¬<lb/>
lingswesens ergeben, daß im Jahre 1906 von den dreiunddreißig preußischen<lb/>
Handwerkskammern zwanzig Handwerkskammern eine Mehrausgabe von ins¬<lb/>
gesamt 60442,20 Mark auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrlinge zu<lb/>
leisten hatten; dreizehn Handwerkskammern haben dagegen auf diesem Gebiete<lb/>
20551,20 Mark mehr eingenommen, als sie aufgewendet haben. Alle dreiund¬<lb/>
dreißig Handwerkskammern haben also zusammen 39891 Mark für das Lehrlings¬<lb/>
wesen mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Dabei sind allerdings nur<lb/>
von acht Kammern Verwaltungskosten in Ansatz gebracht. Aber selbst wenn<lb/>
man hierfür auch für die übrigen fünfundzwanzig Kammern je 1500 Mark<lb/>
37 600 Mark hinzurechnet, so würden die durch Einnahmen nicht gedeckten<lb/>
Aufwendungen aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete der Lehr¬<lb/>
lingsausbildung 77391 Mark betragen. Auch dieser Betrag wird sich noch<lb/>
etwas ermäßigen, weil ein paar Kammern, die ich hier nicht nennen will,<lb/>
zweifellos zu hohe Verwaltungskosten in Ansatz gebracht haben, so daß man<lb/>
wohl rund 70000 Mark als Gesamtleistung aller preußischen Handwerkskammern<lb/>
auf dem Gebiete des Lehrlingswesens berechnen kann. Wenn man aber berück¬<lb/>
sichtigt, daß diese Aufwendungen nicht ausschließlich der Industrie zugute kommen,<lb/>
sondern daß ein Teil der Lehrlinge &#x2014; ich will 60 Prozent annehmen &#x2014; im<lb/>
Handwerk bleibt, so würde man zu dem Ergebnis kommen, daß die preußischen<lb/>
Handwerkskammern überhaupt nur 35000 Mark verausgabt haben, die der<lb/>
Großindustrie, die hier in Frage kommt, angerechnet werden können. Nun ist<lb/>
ja zuzugeben, daß die Handwerkskammern nicht allein derartige Schulen unter¬<lb/>
halten, sondern daß dies auch die Innungen tun, und für die Innungen fehlen<lb/>
die Zahlen. Es bestehen aber in Preußen nur dreihundertfünfunddreißig Jnnungs-<lb/>
fachschulen, und es ist nach der ganzen Art der Einrichtung und dem Umfange<lb/>
dieser Schulen nicht anzunehmen, daß die hier aufgewandten Kosten sehr erheb-<lb/>
lich sind."</p><lb/>
          <note xml:id="FID_38" place="foot"> ") Stenographische Berichte der Verhandlunge» des preußischen Abgeordnetenhauses,<lb/>
2«, Legislaturperiode, IV. Session, II. Band, S, 1429M30,</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0233] Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie? Nach dem ersten Vorschlage würde sich bei Zugrundelegung der empfohlenen Pauschalsumme von 50000 Mark für jeden Handwerkskammerbezirk eine jähr¬ liche Gesamtbelastung von 3,55 Millionen für die deutsche Industrie — es handelt sich um einundsiebzig Kammern ergeben. Wie wenig begründet diese Forderung ist und wie sehr sie mit den tatsächlichen Verhältnissen im Widerspruche steht, lassen am besten die Ausführungen des preußischen Handelsministers vom 1. Februar 1908 erkennen"), die deshalb ungekürzt hier wiedergegeben sein mögen: „Ich habe eine Umfrage veranstaltet, um festzustellen, welche Beträge denn zunächst einmal die (preußischen) Handwerkskammern für die Lehrlingsansbildung aufwenden, und da bin ich doch zu einigen nicht uninteressanter Ergebnissen gekommen. Es hat eine kürzlich vorgenommene Umfrage über die Einnahmen und Ausgaben der preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehr¬ lingswesens ergeben, daß im Jahre 1906 von den dreiunddreißig preußischen Handwerkskammern zwanzig Handwerkskammern eine Mehrausgabe von ins¬ gesamt 60442,20 Mark auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrlinge zu leisten hatten; dreizehn Handwerkskammern haben dagegen auf diesem Gebiete 20551,20 Mark mehr eingenommen, als sie aufgewendet haben. Alle dreiund¬ dreißig Handwerkskammern haben also zusammen 39891 Mark für das Lehrlings¬ wesen mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Dabei sind allerdings nur von acht Kammern Verwaltungskosten in Ansatz gebracht. Aber selbst wenn man hierfür auch für die übrigen fünfundzwanzig Kammern je 1500 Mark 37 600 Mark hinzurechnet, so würden die durch Einnahmen nicht gedeckten Aufwendungen aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete der Lehr¬ lingsausbildung 77391 Mark betragen. Auch dieser Betrag wird sich noch etwas ermäßigen, weil ein paar Kammern, die ich hier nicht nennen will, zweifellos zu hohe Verwaltungskosten in Ansatz gebracht haben, so daß man wohl rund 70000 Mark als Gesamtleistung aller preußischen Handwerkskammern auf dem Gebiete des Lehrlingswesens berechnen kann. Wenn man aber berück¬ sichtigt, daß diese Aufwendungen nicht ausschließlich der Industrie zugute kommen, sondern daß ein Teil der Lehrlinge — ich will 60 Prozent annehmen — im Handwerk bleibt, so würde man zu dem Ergebnis kommen, daß die preußischen Handwerkskammern überhaupt nur 35000 Mark verausgabt haben, die der Großindustrie, die hier in Frage kommt, angerechnet werden können. Nun ist ja zuzugeben, daß die Handwerkskammern nicht allein derartige Schulen unter¬ halten, sondern daß dies auch die Innungen tun, und für die Innungen fehlen die Zahlen. Es bestehen aber in Preußen nur dreihundertfünfunddreißig Jnnungs- fachschulen, und es ist nach der ganzen Art der Einrichtung und dem Umfange dieser Schulen nicht anzunehmen, daß die hier aufgewandten Kosten sehr erheb- lich sind." ") Stenographische Berichte der Verhandlunge» des preußischen Abgeordnetenhauses, 2«, Legislaturperiode, IV. Session, II. Band, S, 1429M30,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/233
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/233>, abgerufen am 23.07.2024.