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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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In der Marokkoangelegenheit die Geister gegenwärtig zu erhitzen, ist aber
um so gefährlicher, als heutzutage jeder deutsche Politiker, der Anspruch darauf
erhebt, ernst genommen zu werden, wissen muß, daß die Regierung nicht daran
denkt, in Marokko Land zu erwerben. Die Gründe für diese Haltung der
deutschen Negierung sind seit zehn Jahren so oft in diesen Heften auseinander¬
gesetzt worden, daß es sich wohl erübrigt, noch einmal darauf einzugehen.
Selbst wenn es demnächst bei der endgültigen Grenzregulierung in Mittel¬
afrika zu ernsteren Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich
kommen sollte, so würde ein Landerwerb in Marokko kaum in Erwägung
gezogen werden, und zwar an? dem sehr einfachen Grunde, weil man
an verantwortlicher Stelle in Deutschland nicht beabsichtigt, das Vater¬
land mit einem kostspieligen Unternehmen zu belasten, das seine strategische
Lage auf dein Weltkriegsschauplatz gegenwärtig nur verschlechtern könnte.
Marokko interessiert uns lediglich wirtschaftlich, politisch mögen die Franzosen
fortfahren, sich daran zu erfreuen; wir gönnen ihnen ebenso die neuen Volks¬
genossen wie die neuen Waffenbrüder, die erst in der abgelaufenen Woche alle
Beweise ihrer Anhänglichkeit an Frankreich durch eine große Meuterei in Fez
gegeben haben.

Sollten die weiter oben erwähnten Strömungen Ostmarokko mit Algier zu
verbinden, Einfluß auf die französische Regierung gewinnen, so würde der
Vertrag vom 4. November 1911 zum erstenmal auf seine politische Bedeutung
hin erprobt werden. Es müßte sich zeigen, ob die durch die Marokkanische Bank
geschaffene Interessengemeinschaft des internationalen Großkapitals sowohl wie
der als Aktionäre beteiligten nenn Mächte stark genug ist, um sie insgesamt
hinter die deutsche Diplomatie zu stellen. In rein politischer Beziehung steht
Deutschland gegenwärtig den Franzosen in allen Marokkoangelegenheiten viel
freier gegenüber als vor dein 4. November. Sollte es im Verlauf bevorstehender
Verhandlungen zu energischeren Schritten von deutscher Seite kommen, so bedürfte
es keiner Aktion mehr an der marokkanischen Küste. Die Marokkoangelegenheit
gehört seit dem vorigen Jahre zu den Fragen der auswärtigen Politik, die
zwischen Deutschland und Frankreich unter vier Augen auf dein Festlande
erledigt werden können. (Weiteres findet sich zu diesem Thema in meinem
Aussatz "Das deutsch-französische Marokkoabkommen" in Heft 45 der Grenzboten
von 1911, S. 291. bis 299.)




In der abgelaufenen Woche hat sich die Regierung auch nach langem
Kampf hinter den Kulissen bereit gefunden, die Wehrvorlagen dem Reichs¬
tage zu übermitteln. Am Montag, den 22. d. M., sollen die öffentlichen Aus¬
sprachen über diesen wichtigen Gegenstand im Parlament beginnen. Die
Besprechung in der Presse war schon äußerst lebhaft, da die Vorlage wohl nie¬
manden recht zu befriedigen vermag. Sie ist in gewissem Sinne Flickwerk, das


Reichsspiegcl

In der Marokkoangelegenheit die Geister gegenwärtig zu erhitzen, ist aber
um so gefährlicher, als heutzutage jeder deutsche Politiker, der Anspruch darauf
erhebt, ernst genommen zu werden, wissen muß, daß die Regierung nicht daran
denkt, in Marokko Land zu erwerben. Die Gründe für diese Haltung der
deutschen Negierung sind seit zehn Jahren so oft in diesen Heften auseinander¬
gesetzt worden, daß es sich wohl erübrigt, noch einmal darauf einzugehen.
Selbst wenn es demnächst bei der endgültigen Grenzregulierung in Mittel¬
afrika zu ernsteren Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich
kommen sollte, so würde ein Landerwerb in Marokko kaum in Erwägung
gezogen werden, und zwar an? dem sehr einfachen Grunde, weil man
an verantwortlicher Stelle in Deutschland nicht beabsichtigt, das Vater¬
land mit einem kostspieligen Unternehmen zu belasten, das seine strategische
Lage auf dein Weltkriegsschauplatz gegenwärtig nur verschlechtern könnte.
Marokko interessiert uns lediglich wirtschaftlich, politisch mögen die Franzosen
fortfahren, sich daran zu erfreuen; wir gönnen ihnen ebenso die neuen Volks¬
genossen wie die neuen Waffenbrüder, die erst in der abgelaufenen Woche alle
Beweise ihrer Anhänglichkeit an Frankreich durch eine große Meuterei in Fez
gegeben haben.

Sollten die weiter oben erwähnten Strömungen Ostmarokko mit Algier zu
verbinden, Einfluß auf die französische Regierung gewinnen, so würde der
Vertrag vom 4. November 1911 zum erstenmal auf seine politische Bedeutung
hin erprobt werden. Es müßte sich zeigen, ob die durch die Marokkanische Bank
geschaffene Interessengemeinschaft des internationalen Großkapitals sowohl wie
der als Aktionäre beteiligten nenn Mächte stark genug ist, um sie insgesamt
hinter die deutsche Diplomatie zu stellen. In rein politischer Beziehung steht
Deutschland gegenwärtig den Franzosen in allen Marokkoangelegenheiten viel
freier gegenüber als vor dein 4. November. Sollte es im Verlauf bevorstehender
Verhandlungen zu energischeren Schritten von deutscher Seite kommen, so bedürfte
es keiner Aktion mehr an der marokkanischen Küste. Die Marokkoangelegenheit
gehört seit dem vorigen Jahre zu den Fragen der auswärtigen Politik, die
zwischen Deutschland und Frankreich unter vier Augen auf dein Festlande
erledigt werden können. (Weiteres findet sich zu diesem Thema in meinem
Aussatz „Das deutsch-französische Marokkoabkommen" in Heft 45 der Grenzboten
von 1911, S. 291. bis 299.)




In der abgelaufenen Woche hat sich die Regierung auch nach langem
Kampf hinter den Kulissen bereit gefunden, die Wehrvorlagen dem Reichs¬
tage zu übermitteln. Am Montag, den 22. d. M., sollen die öffentlichen Aus¬
sprachen über diesen wichtigen Gegenstand im Parlament beginnen. Die
Besprechung in der Presse war schon äußerst lebhaft, da die Vorlage wohl nie¬
manden recht zu befriedigen vermag. Sie ist in gewissem Sinne Flickwerk, das


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[0210] Reichsspiegcl In der Marokkoangelegenheit die Geister gegenwärtig zu erhitzen, ist aber um so gefährlicher, als heutzutage jeder deutsche Politiker, der Anspruch darauf erhebt, ernst genommen zu werden, wissen muß, daß die Regierung nicht daran denkt, in Marokko Land zu erwerben. Die Gründe für diese Haltung der deutschen Negierung sind seit zehn Jahren so oft in diesen Heften auseinander¬ gesetzt worden, daß es sich wohl erübrigt, noch einmal darauf einzugehen. Selbst wenn es demnächst bei der endgültigen Grenzregulierung in Mittel¬ afrika zu ernsteren Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich kommen sollte, so würde ein Landerwerb in Marokko kaum in Erwägung gezogen werden, und zwar an? dem sehr einfachen Grunde, weil man an verantwortlicher Stelle in Deutschland nicht beabsichtigt, das Vater¬ land mit einem kostspieligen Unternehmen zu belasten, das seine strategische Lage auf dein Weltkriegsschauplatz gegenwärtig nur verschlechtern könnte. Marokko interessiert uns lediglich wirtschaftlich, politisch mögen die Franzosen fortfahren, sich daran zu erfreuen; wir gönnen ihnen ebenso die neuen Volks¬ genossen wie die neuen Waffenbrüder, die erst in der abgelaufenen Woche alle Beweise ihrer Anhänglichkeit an Frankreich durch eine große Meuterei in Fez gegeben haben. Sollten die weiter oben erwähnten Strömungen Ostmarokko mit Algier zu verbinden, Einfluß auf die französische Regierung gewinnen, so würde der Vertrag vom 4. November 1911 zum erstenmal auf seine politische Bedeutung hin erprobt werden. Es müßte sich zeigen, ob die durch die Marokkanische Bank geschaffene Interessengemeinschaft des internationalen Großkapitals sowohl wie der als Aktionäre beteiligten nenn Mächte stark genug ist, um sie insgesamt hinter die deutsche Diplomatie zu stellen. In rein politischer Beziehung steht Deutschland gegenwärtig den Franzosen in allen Marokkoangelegenheiten viel freier gegenüber als vor dein 4. November. Sollte es im Verlauf bevorstehender Verhandlungen zu energischeren Schritten von deutscher Seite kommen, so bedürfte es keiner Aktion mehr an der marokkanischen Küste. Die Marokkoangelegenheit gehört seit dem vorigen Jahre zu den Fragen der auswärtigen Politik, die zwischen Deutschland und Frankreich unter vier Augen auf dein Festlande erledigt werden können. (Weiteres findet sich zu diesem Thema in meinem Aussatz „Das deutsch-französische Marokkoabkommen" in Heft 45 der Grenzboten von 1911, S. 291. bis 299.) In der abgelaufenen Woche hat sich die Regierung auch nach langem Kampf hinter den Kulissen bereit gefunden, die Wehrvorlagen dem Reichs¬ tage zu übermitteln. Am Montag, den 22. d. M., sollen die öffentlichen Aus¬ sprachen über diesen wichtigen Gegenstand im Parlament beginnen. Die Besprechung in der Presse war schon äußerst lebhaft, da die Vorlage wohl nie¬ manden recht zu befriedigen vermag. Sie ist in gewissem Sinne Flickwerk, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/210>, abgerufen am 23.07.2024.