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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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in die neue Welt befördern sollte; diese sieben Millionen stammten sicher nicht
allein aus England, waren vielmehr aus allen Teilen Europas bei dem riesigen
Sammelbecken zusammengeströmt. Das internationale Interesse an der Sicherheit
des transatlantischen Schiffsverkehrs darf also unbedingt als nachgewiesen gelten.
Ob freilich England sich in dieser Beziehung weitergehender Kontrolle wird
unterwerfen wollen, wird abzuwarten sein.




Verschiedene Anzeichen im In- und Auslande sprechen dasür, daß der
bevorstehende Sommer wieder recht lebhafte politische Aussprachen und Steigerung
kriegerischer Stimmung bei allen Nationen bringen kann. Die republikanische
Regierung in China kann wegen chronischen Geldmangels nicht recht zur not¬
wendigen Autorität gelangen, und zwischen den geldgebcnden Mächten schreitet
die Verständigung nur langsam vorwärts; die deutsch-englischen Verhandlungen
wegen einer Verständigung dürfen einstweilen als beendigt gelten, ohne'
daß sie ein greifbares Ergebnis gezeitigt hätten. In Frankreich drängt eine
Strömung zur Anerkennung, die Ostmarokko verwaltungslcchnisch mit Algier
verbinden möchte, um so den Widerstand der Marokkaner gegen das französische
Protektorat schneller und leichter brechen zu können. Ein solcher Schritt mare
mit den Bedingungen des Vertrages vom 4. November nicht vereinbar, da die
Teilung Marokkos ausdrücklich und zwar zur Sicherung der wirtschaftlichen
Interessen der Nichtfranzosen als unzulässig festgelegt ist. Sollte die Strömung
dennoch Einfluß auf die französische Regierung gewinnen und diese zu ent¬
sprechenden Schritten veranlassen, so wären wir vor die Tatsache eines Vertrags¬
bruchs gestellt, gegen den die Diplomatie der übrigen Mächte einzuschreiten
gezwungen wäre. Die zunächst nur vermuteten Absichten Frankreichs, den Vertrag
vom 4. November durchbrechen zu wollen, werden von alldeutscher Seite schon
jetzt benutzt, um von neuem den deutsch-französischen Gegensatz zu verschärfen.
Eine neuerliche Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften, wie im vorigen
Herbst, müßte im höchsten Maße bedauert werden. Ganz abgesehen von der
Gefährlichkeit des Spiels mit dem Feuer bedeutet eine zwecklos angefachte
Erregung den unwirtschaftlichen Verbrauch von nationaler Wärme, der sich im
Ernstfalle bitter rächen muß. Auch nationalen Aufgaben gegenüber kann das
Volksempfinden abgestumpft werden. Einmal entwickelte Kräfte müssen, sollen
sie kein Unheil anrichten, für bestimmte Zwecke verbraucht werden. Das ist ein
längst bekanntes Gesetz. Aufgepeitschte nationale Leidenschaften, die sich nicht
in einer großen internationalen Angelegenheit austoben können, müssen mit
unerbittlicher Naturnotwendigkeit auf die innere Politik übergreifen. Verärgerung
und Unlust sind die notwendigen Folgen seelischer Überreizung, Stumpfheit ernsten
nationalen Aufgaben gegenüber ist die Folge der Überspannung des nationalen
Ehrgeizes.


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in die neue Welt befördern sollte; diese sieben Millionen stammten sicher nicht
allein aus England, waren vielmehr aus allen Teilen Europas bei dem riesigen
Sammelbecken zusammengeströmt. Das internationale Interesse an der Sicherheit
des transatlantischen Schiffsverkehrs darf also unbedingt als nachgewiesen gelten.
Ob freilich England sich in dieser Beziehung weitergehender Kontrolle wird
unterwerfen wollen, wird abzuwarten sein.




Verschiedene Anzeichen im In- und Auslande sprechen dasür, daß der
bevorstehende Sommer wieder recht lebhafte politische Aussprachen und Steigerung
kriegerischer Stimmung bei allen Nationen bringen kann. Die republikanische
Regierung in China kann wegen chronischen Geldmangels nicht recht zur not¬
wendigen Autorität gelangen, und zwischen den geldgebcnden Mächten schreitet
die Verständigung nur langsam vorwärts; die deutsch-englischen Verhandlungen
wegen einer Verständigung dürfen einstweilen als beendigt gelten, ohne'
daß sie ein greifbares Ergebnis gezeitigt hätten. In Frankreich drängt eine
Strömung zur Anerkennung, die Ostmarokko verwaltungslcchnisch mit Algier
verbinden möchte, um so den Widerstand der Marokkaner gegen das französische
Protektorat schneller und leichter brechen zu können. Ein solcher Schritt mare
mit den Bedingungen des Vertrages vom 4. November nicht vereinbar, da die
Teilung Marokkos ausdrücklich und zwar zur Sicherung der wirtschaftlichen
Interessen der Nichtfranzosen als unzulässig festgelegt ist. Sollte die Strömung
dennoch Einfluß auf die französische Regierung gewinnen und diese zu ent¬
sprechenden Schritten veranlassen, so wären wir vor die Tatsache eines Vertrags¬
bruchs gestellt, gegen den die Diplomatie der übrigen Mächte einzuschreiten
gezwungen wäre. Die zunächst nur vermuteten Absichten Frankreichs, den Vertrag
vom 4. November durchbrechen zu wollen, werden von alldeutscher Seite schon
jetzt benutzt, um von neuem den deutsch-französischen Gegensatz zu verschärfen.
Eine neuerliche Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften, wie im vorigen
Herbst, müßte im höchsten Maße bedauert werden. Ganz abgesehen von der
Gefährlichkeit des Spiels mit dem Feuer bedeutet eine zwecklos angefachte
Erregung den unwirtschaftlichen Verbrauch von nationaler Wärme, der sich im
Ernstfalle bitter rächen muß. Auch nationalen Aufgaben gegenüber kann das
Volksempfinden abgestumpft werden. Einmal entwickelte Kräfte müssen, sollen
sie kein Unheil anrichten, für bestimmte Zwecke verbraucht werden. Das ist ein
längst bekanntes Gesetz. Aufgepeitschte nationale Leidenschaften, die sich nicht
in einer großen internationalen Angelegenheit austoben können, müssen mit
unerbittlicher Naturnotwendigkeit auf die innere Politik übergreifen. Verärgerung
und Unlust sind die notwendigen Folgen seelischer Überreizung, Stumpfheit ernsten
nationalen Aufgaben gegenüber ist die Folge der Überspannung des nationalen
Ehrgeizes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/209>, abgerufen am 01.10.2024.