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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Briefe ans (vstasien

An seine Schwester.

Krodo, 10. Juli 18V8. .


Meine liebe Weinande!

Ans Nagasaki schrieb ich Dir zuletzt, und seitdem haben mir so viel Schönes
und Interessantes auf unserer Reise durch das Innere Japans gesehen, daß ich
gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. . .

Für den Fall, daß Du unsere Reise auf der Karte verfolgen willst, nenne
ich zuerst die Hauptetappen. Von Nagasaki gingen wir den ersten Tag bis
Takeo, den zweiten Tag von dort, mit einem Abstecher nach dem alten Tempel
Dazaifn, nach Halala und von dort nach Moji. Von Moji aus besuchten wir
Shimonoseki, wo Li Hung-chang und Jto dem chinesisch-japanischen Kriege ein
Ende machten. Jetzt verließen wir die Insel Kyushu und fuhren nach der
Hauptinsel Nippon hinüber. Hier wiederum war am vierten Tage unser nächstes
Reiseziel die heilige Insel Minajima, die so paradiesisch schön ist, daß wir zwei
Tage lang dort blieben. Dann ging es weiter nach Okayama, der Hauptstadt
der Provinz Bizen, berühmt durch das alte, wohlerhaltene Schloß des Daimno
Jkeda und den dazu gehörigen prachtvollen Park Koraku-En, eine der schönsten
alten Gartenanlagen Japans. Leider regnete es hier den ganzen Tag. In
Okayama nächtigten wir und fuhren am nächsten Tage auf einem schauderhaften
japanischen Liliputdampfer nach der von Europäern wenig besuchten Insel
Shikoku hinüber, um uns den altehrwürdigen Kompira-Tempel anzusehen; von
Kompira ging es am nächsten Tage nach Hiketa, wo wieder Nachtquartier
gemacht wurde. Dann führen wir nach Tolushima, wo wir der mangelhaften
Dampferverbindnng wegen eine Nacht und einen vollen Tag bleiben mußten.
Am Abend um zehn Uhr bestiegen wir wieder einen jener unglückseligen japa¬
nischen Dampfer und kamen nach sechs qualvollen Stunden um vier Uhr morgens
in Kobe an.

"Bestiegen den Dampfer" klingt rührend einfach im Vergleich mit der kom¬
plizierten Wirklichkeit. In Wahrheit bildet das Besteigen eines japanischen
Dampfers und das Fahren auf einem solchen eine langwierige Verkettung
tragischer Momente. Zunächst läßt man sich auf einem kleinen Boot (Sampan)
nach dem Dampfer übersetzen. Nachdem das Ziel erreicht ist, kriecht man durch
ein viereckiges, einen halben Quadratmeter großes Loch vom Boot in die Kajüte
des Dampfers hinein und befindet sich zunächst in einem engen Korridor, der
durch den angrenzenden Maschiuenraum so schön warm ist, daß man darin ohne
weiteres Eier nach Belieben ausbrüten oder kochen kann. Das erste, was nun
ein ahnungsloser Passagier tut, ist, daß er sich aufrichtet. Der reine Aberwitz!
Die Kajüte ist so niedrig, daß nicht einmal ein Japaner aufrecht in ihr stehen
kann. Also: Knalleffekt, wobei der Schädel der leidende Teil ist. Nun geht
es in den Schlafraum. Hier heißt es, sich vor dem Betreten dieses geweihten
Raumes zunächst platt auf den Boden setzen -- denn Stühle gibt es nicht --
und die Stiefel ausziehen, um die saubere Matte nicht zu besudeln. Der Schlaf-


Grenzboten II 1912 17
Briefe ans (vstasien

An seine Schwester.

Krodo, 10. Juli 18V8. .


Meine liebe Weinande!

Ans Nagasaki schrieb ich Dir zuletzt, und seitdem haben mir so viel Schönes
und Interessantes auf unserer Reise durch das Innere Japans gesehen, daß ich
gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. . .

Für den Fall, daß Du unsere Reise auf der Karte verfolgen willst, nenne
ich zuerst die Hauptetappen. Von Nagasaki gingen wir den ersten Tag bis
Takeo, den zweiten Tag von dort, mit einem Abstecher nach dem alten Tempel
Dazaifn, nach Halala und von dort nach Moji. Von Moji aus besuchten wir
Shimonoseki, wo Li Hung-chang und Jto dem chinesisch-japanischen Kriege ein
Ende machten. Jetzt verließen wir die Insel Kyushu und fuhren nach der
Hauptinsel Nippon hinüber. Hier wiederum war am vierten Tage unser nächstes
Reiseziel die heilige Insel Minajima, die so paradiesisch schön ist, daß wir zwei
Tage lang dort blieben. Dann ging es weiter nach Okayama, der Hauptstadt
der Provinz Bizen, berühmt durch das alte, wohlerhaltene Schloß des Daimno
Jkeda und den dazu gehörigen prachtvollen Park Koraku-En, eine der schönsten
alten Gartenanlagen Japans. Leider regnete es hier den ganzen Tag. In
Okayama nächtigten wir und fuhren am nächsten Tage auf einem schauderhaften
japanischen Liliputdampfer nach der von Europäern wenig besuchten Insel
Shikoku hinüber, um uns den altehrwürdigen Kompira-Tempel anzusehen; von
Kompira ging es am nächsten Tage nach Hiketa, wo wieder Nachtquartier
gemacht wurde. Dann führen wir nach Tolushima, wo wir der mangelhaften
Dampferverbindnng wegen eine Nacht und einen vollen Tag bleiben mußten.
Am Abend um zehn Uhr bestiegen wir wieder einen jener unglückseligen japa¬
nischen Dampfer und kamen nach sechs qualvollen Stunden um vier Uhr morgens
in Kobe an.

„Bestiegen den Dampfer" klingt rührend einfach im Vergleich mit der kom¬
plizierten Wirklichkeit. In Wahrheit bildet das Besteigen eines japanischen
Dampfers und das Fahren auf einem solchen eine langwierige Verkettung
tragischer Momente. Zunächst läßt man sich auf einem kleinen Boot (Sampan)
nach dem Dampfer übersetzen. Nachdem das Ziel erreicht ist, kriecht man durch
ein viereckiges, einen halben Quadratmeter großes Loch vom Boot in die Kajüte
des Dampfers hinein und befindet sich zunächst in einem engen Korridor, der
durch den angrenzenden Maschiuenraum so schön warm ist, daß man darin ohne
weiteres Eier nach Belieben ausbrüten oder kochen kann. Das erste, was nun
ein ahnungsloser Passagier tut, ist, daß er sich aufrichtet. Der reine Aberwitz!
Die Kajüte ist so niedrig, daß nicht einmal ein Japaner aufrecht in ihr stehen
kann. Also: Knalleffekt, wobei der Schädel der leidende Teil ist. Nun geht
es in den Schlafraum. Hier heißt es, sich vor dem Betreten dieses geweihten
Raumes zunächst platt auf den Boden setzen — denn Stühle gibt es nicht —
und die Stiefel ausziehen, um die saubere Matte nicht zu besudeln. Der Schlaf-


Grenzboten II 1912 17
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[0141] Briefe ans (vstasien An seine Schwester. Krodo, 10. Juli 18V8. . Meine liebe Weinande! Ans Nagasaki schrieb ich Dir zuletzt, und seitdem haben mir so viel Schönes und Interessantes auf unserer Reise durch das Innere Japans gesehen, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. . . Für den Fall, daß Du unsere Reise auf der Karte verfolgen willst, nenne ich zuerst die Hauptetappen. Von Nagasaki gingen wir den ersten Tag bis Takeo, den zweiten Tag von dort, mit einem Abstecher nach dem alten Tempel Dazaifn, nach Halala und von dort nach Moji. Von Moji aus besuchten wir Shimonoseki, wo Li Hung-chang und Jto dem chinesisch-japanischen Kriege ein Ende machten. Jetzt verließen wir die Insel Kyushu und fuhren nach der Hauptinsel Nippon hinüber. Hier wiederum war am vierten Tage unser nächstes Reiseziel die heilige Insel Minajima, die so paradiesisch schön ist, daß wir zwei Tage lang dort blieben. Dann ging es weiter nach Okayama, der Hauptstadt der Provinz Bizen, berühmt durch das alte, wohlerhaltene Schloß des Daimno Jkeda und den dazu gehörigen prachtvollen Park Koraku-En, eine der schönsten alten Gartenanlagen Japans. Leider regnete es hier den ganzen Tag. In Okayama nächtigten wir und fuhren am nächsten Tage auf einem schauderhaften japanischen Liliputdampfer nach der von Europäern wenig besuchten Insel Shikoku hinüber, um uns den altehrwürdigen Kompira-Tempel anzusehen; von Kompira ging es am nächsten Tage nach Hiketa, wo wieder Nachtquartier gemacht wurde. Dann führen wir nach Tolushima, wo wir der mangelhaften Dampferverbindnng wegen eine Nacht und einen vollen Tag bleiben mußten. Am Abend um zehn Uhr bestiegen wir wieder einen jener unglückseligen japa¬ nischen Dampfer und kamen nach sechs qualvollen Stunden um vier Uhr morgens in Kobe an. „Bestiegen den Dampfer" klingt rührend einfach im Vergleich mit der kom¬ plizierten Wirklichkeit. In Wahrheit bildet das Besteigen eines japanischen Dampfers und das Fahren auf einem solchen eine langwierige Verkettung tragischer Momente. Zunächst läßt man sich auf einem kleinen Boot (Sampan) nach dem Dampfer übersetzen. Nachdem das Ziel erreicht ist, kriecht man durch ein viereckiges, einen halben Quadratmeter großes Loch vom Boot in die Kajüte des Dampfers hinein und befindet sich zunächst in einem engen Korridor, der durch den angrenzenden Maschiuenraum so schön warm ist, daß man darin ohne weiteres Eier nach Belieben ausbrüten oder kochen kann. Das erste, was nun ein ahnungsloser Passagier tut, ist, daß er sich aufrichtet. Der reine Aberwitz! Die Kajüte ist so niedrig, daß nicht einmal ein Japaner aufrecht in ihr stehen kann. Also: Knalleffekt, wobei der Schädel der leidende Teil ist. Nun geht es in den Schlafraum. Hier heißt es, sich vor dem Betreten dieses geweihten Raumes zunächst platt auf den Boden setzen — denn Stühle gibt es nicht — und die Stiefel ausziehen, um die saubere Matte nicht zu besudeln. Der Schlaf- Grenzboten II 1912 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/141>, abgerufen am 23.07.2024.