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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Dcis Problem der Ivahlreform in Ungarn

ganze Mittelklasse, soweit sie sich der Forderung der unbedingten Herrschaft des
Magyarentums anschließt, darf sich mit dem Adel in die Herrschaft teilen. Die
Mehrheit der Bewohner des Landes steht trotzdem außerhalb dieses Kreises;
dazu gehören die industrielle Arbeiterschaft, ferner die Leute, die den Vorschriften des
Zensus nicht genügen und daher kein Wahlrecht besitzen, und endlich alle, die, als
nichtmagyarische Bürger des Landes geboren, keine Lust haben, ihr Volkstum
preiszugeben und sich zu magyarisieren. Diese Schichten sind in den letzten
Jahrzehnten sehr erstarkt; der Masse des rumänischen und slovakischen Volkes
brachte erst das Jahr 1848 die Befreiung aus der Leibeigenschaft. Trotz aller
Hemmnisse, trotz ihrer auch heute noch ziemlich niedrigen Kulturstufe haben diese
Völker doch außerordentliche Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet und in bezug
auf die Volksbildung gemacht und aus sich heraus eine führende Intelligenz
entwickelt. Mit der Gründung von Fabriken ist eine industrielle Arbeiterschaft
in Ungarn entstanden, die sich durch deutsche Vermittlung die Lehren der
Sozialdemokratie angeeignet hat. Diese Massen wollen auf die Gesetzgebung
Einfluß gewinnen. Anderseits ist die führende magyarische Schichte innerlich
nicht stärker geworden. Sie hat gewiß ihre Macht nach Kräften ausgenützt,
nicht ohne Erfolg Proselyten geworben, die Widerstrebenden ihre Macht fühlen
lassen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist der Kleinadel in dieser Zeit
in Ungarn fast vollkommen aus seinem Landbesitz verdrängt worden, weil er
den Anforderungen einer modernen Wirtschaftsweise nicht gewachsen war. Die
Szekler in Siebenbürgen, ein besonders reinrassiger magyarischer Stamm, ver¬
lieren beständig Boden an die Rumänen, weil die Fürsorge des Staates sie
zu freiem Wettbewerb fast unfähig gemacht hat und jeder nur mehr Staats¬
pensionär werden will.

Das ist die eine Seite; die andere hängt mit der Eigenart der magyarischen
Politik zusammen. Ihr Ideal ist die völlige Unabhängigkeit Ungarns stets
gewesen und ist es heute mehr denn je. Höchstens die Gemeinsamkeit des
Herrschers mit Österreich betrachtet ein Teil der magyarischen Politiker ehrlich
als etwas erträgliches, ja vielleicht sogar für Ungarn vorteilhaftes. Indes haben
die magyarischen Politiker nach der Niederlage des Jahres 1849 doch so viel
Verständnis für Realpolitik gewonnen, daß sie die Erreichung ihres Zieles
nur von langsamer Arbeit erhoffen, der Wahrnehmung jedes Vorteils, der
Eroberung auch der unscheinbarsten Errungenschaft in der Loslösung von der
anderen Reichshälfte, bis ihnen dann bei guter Gelegenheit die völlige Selbst-
ständigkeit als reife Frucht in den Schoß fällt. Die Gruppierung in 67 er Par¬
teien (die auf den Boden des Ausgleichs stehen) und 48 er Parteien (die ent¬
weder die Personalunion oder völlige Selbständigkeit auf die Fahne geschrieben
haben) bedeutet keine wesentliche Verschiedenheit der politischen Programme,
sondern nur einen taktischen Aufmarsch. Die Art, wie nun dem Monarchen
immer neue Zugeständnisse abgerungen werden, entspricht ganz der Überlieferung
des alten ständischen Parlaments. Die Stände bewilligten in der Zeit, wo es


Dcis Problem der Ivahlreform in Ungarn

ganze Mittelklasse, soweit sie sich der Forderung der unbedingten Herrschaft des
Magyarentums anschließt, darf sich mit dem Adel in die Herrschaft teilen. Die
Mehrheit der Bewohner des Landes steht trotzdem außerhalb dieses Kreises;
dazu gehören die industrielle Arbeiterschaft, ferner die Leute, die den Vorschriften des
Zensus nicht genügen und daher kein Wahlrecht besitzen, und endlich alle, die, als
nichtmagyarische Bürger des Landes geboren, keine Lust haben, ihr Volkstum
preiszugeben und sich zu magyarisieren. Diese Schichten sind in den letzten
Jahrzehnten sehr erstarkt; der Masse des rumänischen und slovakischen Volkes
brachte erst das Jahr 1848 die Befreiung aus der Leibeigenschaft. Trotz aller
Hemmnisse, trotz ihrer auch heute noch ziemlich niedrigen Kulturstufe haben diese
Völker doch außerordentliche Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet und in bezug
auf die Volksbildung gemacht und aus sich heraus eine führende Intelligenz
entwickelt. Mit der Gründung von Fabriken ist eine industrielle Arbeiterschaft
in Ungarn entstanden, die sich durch deutsche Vermittlung die Lehren der
Sozialdemokratie angeeignet hat. Diese Massen wollen auf die Gesetzgebung
Einfluß gewinnen. Anderseits ist die führende magyarische Schichte innerlich
nicht stärker geworden. Sie hat gewiß ihre Macht nach Kräften ausgenützt,
nicht ohne Erfolg Proselyten geworben, die Widerstrebenden ihre Macht fühlen
lassen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist der Kleinadel in dieser Zeit
in Ungarn fast vollkommen aus seinem Landbesitz verdrängt worden, weil er
den Anforderungen einer modernen Wirtschaftsweise nicht gewachsen war. Die
Szekler in Siebenbürgen, ein besonders reinrassiger magyarischer Stamm, ver¬
lieren beständig Boden an die Rumänen, weil die Fürsorge des Staates sie
zu freiem Wettbewerb fast unfähig gemacht hat und jeder nur mehr Staats¬
pensionär werden will.

Das ist die eine Seite; die andere hängt mit der Eigenart der magyarischen
Politik zusammen. Ihr Ideal ist die völlige Unabhängigkeit Ungarns stets
gewesen und ist es heute mehr denn je. Höchstens die Gemeinsamkeit des
Herrschers mit Österreich betrachtet ein Teil der magyarischen Politiker ehrlich
als etwas erträgliches, ja vielleicht sogar für Ungarn vorteilhaftes. Indes haben
die magyarischen Politiker nach der Niederlage des Jahres 1849 doch so viel
Verständnis für Realpolitik gewonnen, daß sie die Erreichung ihres Zieles
nur von langsamer Arbeit erhoffen, der Wahrnehmung jedes Vorteils, der
Eroberung auch der unscheinbarsten Errungenschaft in der Loslösung von der
anderen Reichshälfte, bis ihnen dann bei guter Gelegenheit die völlige Selbst-
ständigkeit als reife Frucht in den Schoß fällt. Die Gruppierung in 67 er Par¬
teien (die auf den Boden des Ausgleichs stehen) und 48 er Parteien (die ent¬
weder die Personalunion oder völlige Selbständigkeit auf die Fahne geschrieben
haben) bedeutet keine wesentliche Verschiedenheit der politischen Programme,
sondern nur einen taktischen Aufmarsch. Die Art, wie nun dem Monarchen
immer neue Zugeständnisse abgerungen werden, entspricht ganz der Überlieferung
des alten ständischen Parlaments. Die Stände bewilligten in der Zeit, wo es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/130>, abgerufen am 23.07.2024.