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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus perfien

Tee und Zucker konsumiert werden. (Den Russen ist das gar nicht unangenehm;
denn Tee und Zucker sind russische Einfuhrartikel. Je mehr daher über den
Boykott russischer Waren debattiert wird, um so mehr wächst die russische Ein¬
fuhr). Geht dann so ein Patriot nach Hause, dann ist seine Brust von dem
stolzen Bewußtsein geschwellt, daß er alles getan hat, was er zur Verteidigung
des Vaterlandes schlechterdings hätte tun können. In seinem Kopfe spuken die
wildesten Phantasien von ungeheueren Scharen von Gläubigen, die die Ein¬
dringlinge vernichten werden. Wo diese Scharen herkommen werden? Aus den
Bergländern der Nomaden, vom heiligen Mesched oder vom noch heiligerer
Nedjef, kurz irgendwoher, je weiter, je besser. Da man ganz genau weiß, daß
in der Nähe nicht ein einziger Mann gegen die Russen auf die Beine gebracht
wird, so klingen die Nachrichten von den sich sammelnden Heldenscharen um so
wahrscheinlicher, je weiter sie herkommen. Diese Phantasiestimmung birgt viel¬
leicht die größte Gefahr für Persiens Selbständigkeit. Denn wie leicht kann sie
einmal zu unbedachten Taten führen, die den Russen den erwünschten Vorwand
zum Einmarsch nach Teheran liefern. Haben die Russen aber erst einmal die
Hauptstadt besetzt, so werden es sicher nicht die persischen Einflüsse sein, die sie
zur Aufgabe der einmal gewonnenen Position bewegen. Nicht hier wird also
die Frage über Persiens Zukunft entschieden, sondern in den Kabinetten von
London und Petersburg sitzen die Leute, die für Persien die Rolle des Schick¬
sals spielen.

Von: kulturellen Standpunkt wäre es ja kein Schade, wenn einmal frisches
Leben in die alten Ruinen einzöge. Klingt es doch fast wie eine Fabel, daß
ein unmittelbar an Europa grenzendes Land keine Fabriken, keine Maschinen,
keine Eisenbahnen, ja nur zum kleinsten Teil fahrbare Straßen besitzt, kurz, daß
dort an der Schwelle Europas ein Land liegt, das auf einer Entwicklungsstufe
stehen geblieben ist, die nun schon mehr als 2000 Jahre hinter uns liegt.
Bismarck hat einmal von den Russen gesagt, daß ihre Kulturaufgaben im Osten
liegen. Jeder unparteiische Beurteiler muß den Russen das Zeugnis ausstellen,
daß sie dieser ihrer Aufgabe gerecht werden. Mögen im eigenen Lande noch
so wunderbare Zustände herrschen, dem schlafenden asiatischen Koloß haben sie
jedenfalls, wo sie hinkamen, Leben eingehaucht. Mit jedem Schritt, den sie in
die weiten transkaukasischen Länder vordrangen, entstanden Straßen, Eisenbahnen,
Telegraphen, gewaltige Stau- und Bewässerungsanlagen, umfangreiche Fabriken:
alles Dinge, von denen der Orient nichts ahnte. Und doch! Wiegt der so
erzielte Gewinn die Zerstörung der reichen, selbständigen Kultur auf, die früher
hier ihre Stätte hatte? Wohl flutet heute noch dieselbe farbenschillernde Menge
durch die Straßen der Städte Turkestans, aber in den Köpfen spukt es schon
von Maschinen und Fabriken, von nervösem Absetzen im Kampf um den
Mammon. Wohl ragen in Samarkand noch die Trümmer der gewaltigen
Bauten eines Timur Lenk in die blaue Luft, stehen in Buchara die dräuenden
Mauern der Zwingburg des Emirs, und doch kann das Auge nicht den Anblick


Briefe aus perfien

Tee und Zucker konsumiert werden. (Den Russen ist das gar nicht unangenehm;
denn Tee und Zucker sind russische Einfuhrartikel. Je mehr daher über den
Boykott russischer Waren debattiert wird, um so mehr wächst die russische Ein¬
fuhr). Geht dann so ein Patriot nach Hause, dann ist seine Brust von dem
stolzen Bewußtsein geschwellt, daß er alles getan hat, was er zur Verteidigung
des Vaterlandes schlechterdings hätte tun können. In seinem Kopfe spuken die
wildesten Phantasien von ungeheueren Scharen von Gläubigen, die die Ein¬
dringlinge vernichten werden. Wo diese Scharen herkommen werden? Aus den
Bergländern der Nomaden, vom heiligen Mesched oder vom noch heiligerer
Nedjef, kurz irgendwoher, je weiter, je besser. Da man ganz genau weiß, daß
in der Nähe nicht ein einziger Mann gegen die Russen auf die Beine gebracht
wird, so klingen die Nachrichten von den sich sammelnden Heldenscharen um so
wahrscheinlicher, je weiter sie herkommen. Diese Phantasiestimmung birgt viel¬
leicht die größte Gefahr für Persiens Selbständigkeit. Denn wie leicht kann sie
einmal zu unbedachten Taten führen, die den Russen den erwünschten Vorwand
zum Einmarsch nach Teheran liefern. Haben die Russen aber erst einmal die
Hauptstadt besetzt, so werden es sicher nicht die persischen Einflüsse sein, die sie
zur Aufgabe der einmal gewonnenen Position bewegen. Nicht hier wird also
die Frage über Persiens Zukunft entschieden, sondern in den Kabinetten von
London und Petersburg sitzen die Leute, die für Persien die Rolle des Schick¬
sals spielen.

Von: kulturellen Standpunkt wäre es ja kein Schade, wenn einmal frisches
Leben in die alten Ruinen einzöge. Klingt es doch fast wie eine Fabel, daß
ein unmittelbar an Europa grenzendes Land keine Fabriken, keine Maschinen,
keine Eisenbahnen, ja nur zum kleinsten Teil fahrbare Straßen besitzt, kurz, daß
dort an der Schwelle Europas ein Land liegt, das auf einer Entwicklungsstufe
stehen geblieben ist, die nun schon mehr als 2000 Jahre hinter uns liegt.
Bismarck hat einmal von den Russen gesagt, daß ihre Kulturaufgaben im Osten
liegen. Jeder unparteiische Beurteiler muß den Russen das Zeugnis ausstellen,
daß sie dieser ihrer Aufgabe gerecht werden. Mögen im eigenen Lande noch
so wunderbare Zustände herrschen, dem schlafenden asiatischen Koloß haben sie
jedenfalls, wo sie hinkamen, Leben eingehaucht. Mit jedem Schritt, den sie in
die weiten transkaukasischen Länder vordrangen, entstanden Straßen, Eisenbahnen,
Telegraphen, gewaltige Stau- und Bewässerungsanlagen, umfangreiche Fabriken:
alles Dinge, von denen der Orient nichts ahnte. Und doch! Wiegt der so
erzielte Gewinn die Zerstörung der reichen, selbständigen Kultur auf, die früher
hier ihre Stätte hatte? Wohl flutet heute noch dieselbe farbenschillernde Menge
durch die Straßen der Städte Turkestans, aber in den Köpfen spukt es schon
von Maschinen und Fabriken, von nervösem Absetzen im Kampf um den
Mammon. Wohl ragen in Samarkand noch die Trümmer der gewaltigen
Bauten eines Timur Lenk in die blaue Luft, stehen in Buchara die dräuenden
Mauern der Zwingburg des Emirs, und doch kann das Auge nicht den Anblick


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/80>, abgerufen am 27.09.2024.