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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Iveilcrs Martyrium

entnimmt, UM die besudelten Hände daran abzuputzen. Dann verzettelt er
das Stroh sämtlicher Körbe längs der Wand zu einem Lager sür sich, rollt
den Sack zusammen, legt ihn als Kopfkissen in eine Ecke und streckt sich aus.

Es ist stille. Hin und wieder piept, göhrlt, pfeift ein Huhn leise im
Schlaf. Von unten dringt zuweilen das Schnaufen und behagliche Grunzen
eines Schweines oder das Nuscheln der Kaninchen im Stroh.

Von den unten liegenden Ställen herauf durch die Ritzen des gebordeten
Stallbodens aber steigen auch die üblen Dünste, besonders der Schweine.
Und im Hühnerställe selbst die stickige Luft!

Franz kann nicht zum Schlafen kommen. Er hört das Nachtwächterhorn tuten.

Zwölf. . .

Eins. . .

Da hält er es nicht länger aus in dem Dunst und legt sich vor die Tür,
wo frische Luft hereinzieht. Er saugt sie gierig ein. Das ermüdet.

Der Nachtwächter tutet zwei und singt dazu mit leiernder Stimme:

Um zwei Uhr tutet der Nachtwächter zum letzten Male, um drei läutet er
Tag, geht heim und legt sich aufs Ohr.

Franz hört das Taggeläute nicht mehr. Er ist eingeschlafen, aber unruhige
Träume quälen ihn. Plötzlich schrickt er auf, fährt mit den Armen aus, stößt
dabei die Tür auf, der Kopf hängt sich über die Schwelle, der Oberkörper
rutscht nach. Noch ein Armefuchteln -- der Körper bekommt das Übergewicht
und stürzt kopfvor auf die Betondecke des Fußbodens. Eine Weile scheinen der
Körper und die gereckten Beine steil stehen zu bleiben. Das Hemdchen rutscht
auf die Brust herunter. Aber dann überschlägt er sich und bleibt regungslos liegen.

Als die Hühner von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden, finden sie
die Tür offen und fliegen hinaus. Göckernd und pickend laufen sie im Hofe.
Die Hähne schlagen mit den Flügeln, recken die Hälse, schieben die Nickhaut
über die schwarzen Augen mit den gelben Ringen und krähen.

Um sechs Uhr kommt die Hausfrau. Sie ist verwundert, die Tiere schon
im Hofe zu sehen. Ganz genau weiß sie, daß sie gestern Abend das Türchen
geschlossen hat.

Sie geht in den Hinteren Hof und sieht das halbnackte Kind ausgestreckt
liegen. Ein Huhn hüpft darüber hinweg. Der Frau schwindelt, und dann
zerschneidet ein schriller, gellender Schrei den Morgenfrieden:

"Jesses Maria, mein Kind!"

Sie bückt sich, faßt die gelbe Hand und läßt sie schaudernd wieder fahren.
Wachs ist fühlscimer als diese kalte, starre Hand.

Ein dünnes Greiner rinnt und wimmert:


Franz Iveilcrs Martyrium

entnimmt, UM die besudelten Hände daran abzuputzen. Dann verzettelt er
das Stroh sämtlicher Körbe längs der Wand zu einem Lager sür sich, rollt
den Sack zusammen, legt ihn als Kopfkissen in eine Ecke und streckt sich aus.

Es ist stille. Hin und wieder piept, göhrlt, pfeift ein Huhn leise im
Schlaf. Von unten dringt zuweilen das Schnaufen und behagliche Grunzen
eines Schweines oder das Nuscheln der Kaninchen im Stroh.

Von den unten liegenden Ställen herauf durch die Ritzen des gebordeten
Stallbodens aber steigen auch die üblen Dünste, besonders der Schweine.
Und im Hühnerställe selbst die stickige Luft!

Franz kann nicht zum Schlafen kommen. Er hört das Nachtwächterhorn tuten.

Zwölf. . .

Eins. . .

Da hält er es nicht länger aus in dem Dunst und legt sich vor die Tür,
wo frische Luft hereinzieht. Er saugt sie gierig ein. Das ermüdet.

Der Nachtwächter tutet zwei und singt dazu mit leiernder Stimme:

Um zwei Uhr tutet der Nachtwächter zum letzten Male, um drei läutet er
Tag, geht heim und legt sich aufs Ohr.

Franz hört das Taggeläute nicht mehr. Er ist eingeschlafen, aber unruhige
Träume quälen ihn. Plötzlich schrickt er auf, fährt mit den Armen aus, stößt
dabei die Tür auf, der Kopf hängt sich über die Schwelle, der Oberkörper
rutscht nach. Noch ein Armefuchteln — der Körper bekommt das Übergewicht
und stürzt kopfvor auf die Betondecke des Fußbodens. Eine Weile scheinen der
Körper und die gereckten Beine steil stehen zu bleiben. Das Hemdchen rutscht
auf die Brust herunter. Aber dann überschlägt er sich und bleibt regungslos liegen.

Als die Hühner von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden, finden sie
die Tür offen und fliegen hinaus. Göckernd und pickend laufen sie im Hofe.
Die Hähne schlagen mit den Flügeln, recken die Hälse, schieben die Nickhaut
über die schwarzen Augen mit den gelben Ringen und krähen.

Um sechs Uhr kommt die Hausfrau. Sie ist verwundert, die Tiere schon
im Hofe zu sehen. Ganz genau weiß sie, daß sie gestern Abend das Türchen
geschlossen hat.

Sie geht in den Hinteren Hof und sieht das halbnackte Kind ausgestreckt
liegen. Ein Huhn hüpft darüber hinweg. Der Frau schwindelt, und dann
zerschneidet ein schriller, gellender Schrei den Morgenfrieden:

„Jesses Maria, mein Kind!"

Sie bückt sich, faßt die gelbe Hand und läßt sie schaudernd wieder fahren.
Wachs ist fühlscimer als diese kalte, starre Hand.

Ein dünnes Greiner rinnt und wimmert:


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[0630] Franz Iveilcrs Martyrium entnimmt, UM die besudelten Hände daran abzuputzen. Dann verzettelt er das Stroh sämtlicher Körbe längs der Wand zu einem Lager sür sich, rollt den Sack zusammen, legt ihn als Kopfkissen in eine Ecke und streckt sich aus. Es ist stille. Hin und wieder piept, göhrlt, pfeift ein Huhn leise im Schlaf. Von unten dringt zuweilen das Schnaufen und behagliche Grunzen eines Schweines oder das Nuscheln der Kaninchen im Stroh. Von den unten liegenden Ställen herauf durch die Ritzen des gebordeten Stallbodens aber steigen auch die üblen Dünste, besonders der Schweine. Und im Hühnerställe selbst die stickige Luft! Franz kann nicht zum Schlafen kommen. Er hört das Nachtwächterhorn tuten. Zwölf. . . Eins. . . Da hält er es nicht länger aus in dem Dunst und legt sich vor die Tür, wo frische Luft hereinzieht. Er saugt sie gierig ein. Das ermüdet. Der Nachtwächter tutet zwei und singt dazu mit leiernder Stimme: Um zwei Uhr tutet der Nachtwächter zum letzten Male, um drei läutet er Tag, geht heim und legt sich aufs Ohr. Franz hört das Taggeläute nicht mehr. Er ist eingeschlafen, aber unruhige Träume quälen ihn. Plötzlich schrickt er auf, fährt mit den Armen aus, stößt dabei die Tür auf, der Kopf hängt sich über die Schwelle, der Oberkörper rutscht nach. Noch ein Armefuchteln — der Körper bekommt das Übergewicht und stürzt kopfvor auf die Betondecke des Fußbodens. Eine Weile scheinen der Körper und die gereckten Beine steil stehen zu bleiben. Das Hemdchen rutscht auf die Brust herunter. Aber dann überschlägt er sich und bleibt regungslos liegen. Als die Hühner von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden, finden sie die Tür offen und fliegen hinaus. Göckernd und pickend laufen sie im Hofe. Die Hähne schlagen mit den Flügeln, recken die Hälse, schieben die Nickhaut über die schwarzen Augen mit den gelben Ringen und krähen. Um sechs Uhr kommt die Hausfrau. Sie ist verwundert, die Tiere schon im Hofe zu sehen. Ganz genau weiß sie, daß sie gestern Abend das Türchen geschlossen hat. Sie geht in den Hinteren Hof und sieht das halbnackte Kind ausgestreckt liegen. Ein Huhn hüpft darüber hinweg. Der Frau schwindelt, und dann zerschneidet ein schriller, gellender Schrei den Morgenfrieden: „Jesses Maria, mein Kind!" Sie bückt sich, faßt die gelbe Hand und läßt sie schaudernd wieder fahren. Wachs ist fühlscimer als diese kalte, starre Hand. Ein dünnes Greiner rinnt und wimmert:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/630>, abgerufen am 27.09.2024.