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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Weilers Martyrium

Der Bub springt aus dem Bett, will schreien, stößt aber nur halblaut hervor:

"Ua, wua!"

Die Mutter packt ihn an der Kehle:

"Wtllschte still sein!"

Franz zerrt sich los, springt auf das Fensterbrett, greift nach dem Riegel.
Aber die Wütende reißt ihn wieder herunter.

Der Widerstandswille des Kindes, eines Menschen, ist gebrochen.

Sie nimmt das Licht und geht. Die Tür schließt sich und verschluckt den
Lichtschein, und es ist wieder dunkel. Aber es ist keine heilige Stille mehr.
Die anderen Kinder sind zwar nicht wach geworden, werfen sich aber unruhig
hin und her.

Als Franz hört, daß die Mutter oben ist und hinter ihr die Tür zugeht,
steht er auf und steigt wieder ins Bett. Er drückt das Deckbett fest auf sich.

Und jetzt erst fängt er leise zu weinen an.

In der Kopfhaut zuckt und klopft es von den Schlägen. Im Hirne poltert's
ihm. Vorhin wollte er gerne wach bleiben, und jetzt möchte er gerne einschlafen.

Nach einiger Zeit beruhigt sich das wirre Tosen in der Seele. Aber wie
der Schlaf kommen will, wächst auch wieder die Angst in ihm. Sein Körper
siedet. Da springt er wieder aus dem Bett. Seine Füße stehen im Nassen,
da, wo er vorhin am Boden gelegen hat. Er hebt sein Knie aufs Fensterbrett,
hält sich am Riegel und zieht das andere Bein nach. Dann öffnet er das
Fenster und setzt sich auf die äußere, sandsteinerne Fensterbank.

Das Kind überlegt, wo es sich verstecken solle. Auf dem Schuppen unterm
Dach? Da müßte er die große schwere Leiter anstellen. Das gäbe Geräusch.
Also nicht auf dein Schuppen. Im Geißenstall? Wenn die Mutter noch
einmal herunterkommt und ihn im Bette nicht findet, wird sie ihn in den unteren
Ställen zuerst suchen. Also auch nicht im Ziegenstall. Vielleicht im
Hühnerstall? Da wird er vorsichtig zu Werke gehen müssen, damit die Hühner
nicht gackern und schreien. Aber es wäre zu probieren. Die Hirte! sind zahm,
sie fressen ihm aus der Hand. Sie kennen ihn. Wenn sie auf der Straße
sind und ihn sehen, ziehen sie ihm nach wie die Herde dem guten Hirten.

Franz springt ab, geht auf die Ställe zu und tastet sich an den Holz¬
trichter des Schweinetrogs, klettert auf die schweren Eichenbohlen, hält sich
an der rechtwinkelig angrenzenden Schuppenwand fest und stellt sich gerade auf.
Sein Herz klopft so laut, daß er den Mund aufmachen muß. Er lauscht. Die
Hühner sind noch nicht unruhig geworden. Leise schiebt er den Riegel zurück
und öffnet ruckweise die Tür. Unter seinen nackten Fußsohlen spürt er einen
Sack liegen. Er bückt sich, nimmt ihn, legt ihn aus die Türschwelle und schwingt
sich selbst hinauf. Die Hühner wuscheln und trippeln und drängeln auf den
Stangen, aber sie lärmen nicht.

Franz zieht die Tür hinter sich zu. Er kann sie von innen nicht verriegeln.
Auf den Knien rutscht er nach den Nestkörbcn, denen er ein Büschel Stroh


Grenzboten I 1912 79
Franz Weilers Martyrium

Der Bub springt aus dem Bett, will schreien, stößt aber nur halblaut hervor:

„Ua, wua!"

Die Mutter packt ihn an der Kehle:

„Wtllschte still sein!"

Franz zerrt sich los, springt auf das Fensterbrett, greift nach dem Riegel.
Aber die Wütende reißt ihn wieder herunter.

Der Widerstandswille des Kindes, eines Menschen, ist gebrochen.

Sie nimmt das Licht und geht. Die Tür schließt sich und verschluckt den
Lichtschein, und es ist wieder dunkel. Aber es ist keine heilige Stille mehr.
Die anderen Kinder sind zwar nicht wach geworden, werfen sich aber unruhig
hin und her.

Als Franz hört, daß die Mutter oben ist und hinter ihr die Tür zugeht,
steht er auf und steigt wieder ins Bett. Er drückt das Deckbett fest auf sich.

Und jetzt erst fängt er leise zu weinen an.

In der Kopfhaut zuckt und klopft es von den Schlägen. Im Hirne poltert's
ihm. Vorhin wollte er gerne wach bleiben, und jetzt möchte er gerne einschlafen.

Nach einiger Zeit beruhigt sich das wirre Tosen in der Seele. Aber wie
der Schlaf kommen will, wächst auch wieder die Angst in ihm. Sein Körper
siedet. Da springt er wieder aus dem Bett. Seine Füße stehen im Nassen,
da, wo er vorhin am Boden gelegen hat. Er hebt sein Knie aufs Fensterbrett,
hält sich am Riegel und zieht das andere Bein nach. Dann öffnet er das
Fenster und setzt sich auf die äußere, sandsteinerne Fensterbank.

Das Kind überlegt, wo es sich verstecken solle. Auf dem Schuppen unterm
Dach? Da müßte er die große schwere Leiter anstellen. Das gäbe Geräusch.
Also nicht auf dein Schuppen. Im Geißenstall? Wenn die Mutter noch
einmal herunterkommt und ihn im Bette nicht findet, wird sie ihn in den unteren
Ställen zuerst suchen. Also auch nicht im Ziegenstall. Vielleicht im
Hühnerstall? Da wird er vorsichtig zu Werke gehen müssen, damit die Hühner
nicht gackern und schreien. Aber es wäre zu probieren. Die Hirte! sind zahm,
sie fressen ihm aus der Hand. Sie kennen ihn. Wenn sie auf der Straße
sind und ihn sehen, ziehen sie ihm nach wie die Herde dem guten Hirten.

Franz springt ab, geht auf die Ställe zu und tastet sich an den Holz¬
trichter des Schweinetrogs, klettert auf die schweren Eichenbohlen, hält sich
an der rechtwinkelig angrenzenden Schuppenwand fest und stellt sich gerade auf.
Sein Herz klopft so laut, daß er den Mund aufmachen muß. Er lauscht. Die
Hühner sind noch nicht unruhig geworden. Leise schiebt er den Riegel zurück
und öffnet ruckweise die Tür. Unter seinen nackten Fußsohlen spürt er einen
Sack liegen. Er bückt sich, nimmt ihn, legt ihn aus die Türschwelle und schwingt
sich selbst hinauf. Die Hühner wuscheln und trippeln und drängeln auf den
Stangen, aber sie lärmen nicht.

Franz zieht die Tür hinter sich zu. Er kann sie von innen nicht verriegeln.
Auf den Knien rutscht er nach den Nestkörbcn, denen er ein Büschel Stroh


Grenzboten I 1912 79
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[0629] Franz Weilers Martyrium Der Bub springt aus dem Bett, will schreien, stößt aber nur halblaut hervor: „Ua, wua!" Die Mutter packt ihn an der Kehle: „Wtllschte still sein!" Franz zerrt sich los, springt auf das Fensterbrett, greift nach dem Riegel. Aber die Wütende reißt ihn wieder herunter. Der Widerstandswille des Kindes, eines Menschen, ist gebrochen. Sie nimmt das Licht und geht. Die Tür schließt sich und verschluckt den Lichtschein, und es ist wieder dunkel. Aber es ist keine heilige Stille mehr. Die anderen Kinder sind zwar nicht wach geworden, werfen sich aber unruhig hin und her. Als Franz hört, daß die Mutter oben ist und hinter ihr die Tür zugeht, steht er auf und steigt wieder ins Bett. Er drückt das Deckbett fest auf sich. Und jetzt erst fängt er leise zu weinen an. In der Kopfhaut zuckt und klopft es von den Schlägen. Im Hirne poltert's ihm. Vorhin wollte er gerne wach bleiben, und jetzt möchte er gerne einschlafen. Nach einiger Zeit beruhigt sich das wirre Tosen in der Seele. Aber wie der Schlaf kommen will, wächst auch wieder die Angst in ihm. Sein Körper siedet. Da springt er wieder aus dem Bett. Seine Füße stehen im Nassen, da, wo er vorhin am Boden gelegen hat. Er hebt sein Knie aufs Fensterbrett, hält sich am Riegel und zieht das andere Bein nach. Dann öffnet er das Fenster und setzt sich auf die äußere, sandsteinerne Fensterbank. Das Kind überlegt, wo es sich verstecken solle. Auf dem Schuppen unterm Dach? Da müßte er die große schwere Leiter anstellen. Das gäbe Geräusch. Also nicht auf dein Schuppen. Im Geißenstall? Wenn die Mutter noch einmal herunterkommt und ihn im Bette nicht findet, wird sie ihn in den unteren Ställen zuerst suchen. Also auch nicht im Ziegenstall. Vielleicht im Hühnerstall? Da wird er vorsichtig zu Werke gehen müssen, damit die Hühner nicht gackern und schreien. Aber es wäre zu probieren. Die Hirte! sind zahm, sie fressen ihm aus der Hand. Sie kennen ihn. Wenn sie auf der Straße sind und ihn sehen, ziehen sie ihm nach wie die Herde dem guten Hirten. Franz springt ab, geht auf die Ställe zu und tastet sich an den Holz¬ trichter des Schweinetrogs, klettert auf die schweren Eichenbohlen, hält sich an der rechtwinkelig angrenzenden Schuppenwand fest und stellt sich gerade auf. Sein Herz klopft so laut, daß er den Mund aufmachen muß. Er lauscht. Die Hühner sind noch nicht unruhig geworden. Leise schiebt er den Riegel zurück und öffnet ruckweise die Tür. Unter seinen nackten Fußsohlen spürt er einen Sack liegen. Er bückt sich, nimmt ihn, legt ihn aus die Türschwelle und schwingt sich selbst hinauf. Die Hühner wuscheln und trippeln und drängeln auf den Stangen, aber sie lärmen nicht. Franz zieht die Tür hinter sich zu. Er kann sie von innen nicht verriegeln. Auf den Knien rutscht er nach den Nestkörbcn, denen er ein Büschel Stroh Grenzboten I 1912 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/629>, abgerufen am 20.10.2024.