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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Weilers Martyrium

Es wird für Franz eine Zeit noch tieferer Zweifel kommen, und das Gebot
Gottes wird nicht mehr die Rätselberge abtragen und damit die Leidensschlüfte
der Seele ausfüllen. Das wird dann eine schwere Zeit sein, wo Franzens Herz
sich zu Stein verhärtet, und dann werden die Dämonen der Hölle in ein
Schauriges Triumphgeheul ausbrechen -- oder wo es sich zu reinem Golde
läutert, dann aber heißt Gott seine Heerscharen anheben zu einem Jubelhymnus,
der brauset von einem Ende des Himmels bis zum andern.

Doch für Franz wird das eine grausige Zeit werden, von der er noch
nichts ahnt.

Er schlüpft ins Bett. Zuweilen horcht er auf, ob Mutter und Vater denn
noch immer nicht in ihr Schlafzimmer gehen. Es dauert ihm so entsetzlich lange.
Er hört noch Töpfe klappern, und dann gelingt es ihm nicht mehr, wach zu
bleiben. Die Anstrengungen des Tages und das Bad tun ihre Wirkung.

Franz schläft, und stille ist's im Zimmer. Nur weichgehauchte Atemzüge
sind hörbar. Man könnte sie für das sachte Flügelschlagen der Schutzengel
halten, die wachend über den Betten hin und her schweben. Vierzehn Englein
halten Wacht. . .

Wer nicht Vater und Mutter ist und im dunklen Schlafzimmer der lieblichen
Musik lauscht, die aus den Atemzügen schlafender Kindlein schmilzt, dem geht
die Brust hoch in trunkener Sehnsucht nach dem Weibe, nach dem Manne, damit
ein heimliches Hoffen, Warten und ein süßes Träumen sei. . .

Zwei Füße gehen die knarrende Stiege herauf. Es müßten vier sein.
Aber es sind nur zwei.

Die Tür öffnet sich. Der Schein eines kleinen Öllämpchens spaltet die
Dunkelheit der Stube. Eine Frau kommt mit gedämpften Schritten herein.
Ihre Hand blendet jetzt das Licht ab. Sie geht an das Büchergestell und stellt
das Lämpchen auf das leere oberste Brett, dreht sich herum und sieht, solange
man braucht, um bis auf drei zu zählen, auf die schlafenden Knaben im Bett
am Fenster.

Es ist ein grausamer Zug in ihrem Gesicht. Die Falten um ihren Mund
sind wie mit einem Messer schmal und tief gekerbt. Der Schein ihrer Augen
ist kalt und dünn wie das Licht der Sonne an Regentagen.

Nun schlüpft sie mit dem Fuß aus dem Pantoffel, bückt sich, hebt ihn
auf. Es ist ein Haushahns aus weichem Leder. Auch die Sohlen sind ganz
biegsam. Der Absatz ist aus etwas stärkerem Material.

Die Frau faßt den Schuh an der Spitze und holt aus. Kurzgezückte
schnelle Schläge fallen auf den Kopf des schlafenden Knaben.

Nach einigen Hieben fährt er auf, bleibt steil und verschlafen sitzen. Dann
zuckt zerrend der Kopf wie bei einer automatischen Puppe nach rechts. Die schlaf¬
trunkenen Augen starren ins Gesicht der grausam zuschlagenden Frau. Ein
Blitz geht durch das Kinderhirn und erweckt es völlig.

Die Mutter. . .!


Franz Weilers Martyrium

Es wird für Franz eine Zeit noch tieferer Zweifel kommen, und das Gebot
Gottes wird nicht mehr die Rätselberge abtragen und damit die Leidensschlüfte
der Seele ausfüllen. Das wird dann eine schwere Zeit sein, wo Franzens Herz
sich zu Stein verhärtet, und dann werden die Dämonen der Hölle in ein
Schauriges Triumphgeheul ausbrechen — oder wo es sich zu reinem Golde
läutert, dann aber heißt Gott seine Heerscharen anheben zu einem Jubelhymnus,
der brauset von einem Ende des Himmels bis zum andern.

Doch für Franz wird das eine grausige Zeit werden, von der er noch
nichts ahnt.

Er schlüpft ins Bett. Zuweilen horcht er auf, ob Mutter und Vater denn
noch immer nicht in ihr Schlafzimmer gehen. Es dauert ihm so entsetzlich lange.
Er hört noch Töpfe klappern, und dann gelingt es ihm nicht mehr, wach zu
bleiben. Die Anstrengungen des Tages und das Bad tun ihre Wirkung.

Franz schläft, und stille ist's im Zimmer. Nur weichgehauchte Atemzüge
sind hörbar. Man könnte sie für das sachte Flügelschlagen der Schutzengel
halten, die wachend über den Betten hin und her schweben. Vierzehn Englein
halten Wacht. . .

Wer nicht Vater und Mutter ist und im dunklen Schlafzimmer der lieblichen
Musik lauscht, die aus den Atemzügen schlafender Kindlein schmilzt, dem geht
die Brust hoch in trunkener Sehnsucht nach dem Weibe, nach dem Manne, damit
ein heimliches Hoffen, Warten und ein süßes Träumen sei. . .

Zwei Füße gehen die knarrende Stiege herauf. Es müßten vier sein.
Aber es sind nur zwei.

Die Tür öffnet sich. Der Schein eines kleinen Öllämpchens spaltet die
Dunkelheit der Stube. Eine Frau kommt mit gedämpften Schritten herein.
Ihre Hand blendet jetzt das Licht ab. Sie geht an das Büchergestell und stellt
das Lämpchen auf das leere oberste Brett, dreht sich herum und sieht, solange
man braucht, um bis auf drei zu zählen, auf die schlafenden Knaben im Bett
am Fenster.

Es ist ein grausamer Zug in ihrem Gesicht. Die Falten um ihren Mund
sind wie mit einem Messer schmal und tief gekerbt. Der Schein ihrer Augen
ist kalt und dünn wie das Licht der Sonne an Regentagen.

Nun schlüpft sie mit dem Fuß aus dem Pantoffel, bückt sich, hebt ihn
auf. Es ist ein Haushahns aus weichem Leder. Auch die Sohlen sind ganz
biegsam. Der Absatz ist aus etwas stärkerem Material.

Die Frau faßt den Schuh an der Spitze und holt aus. Kurzgezückte
schnelle Schläge fallen auf den Kopf des schlafenden Knaben.

Nach einigen Hieben fährt er auf, bleibt steil und verschlafen sitzen. Dann
zuckt zerrend der Kopf wie bei einer automatischen Puppe nach rechts. Die schlaf¬
trunkenen Augen starren ins Gesicht der grausam zuschlagenden Frau. Ein
Blitz geht durch das Kinderhirn und erweckt es völlig.

Die Mutter. . .!


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[0628] Franz Weilers Martyrium Es wird für Franz eine Zeit noch tieferer Zweifel kommen, und das Gebot Gottes wird nicht mehr die Rätselberge abtragen und damit die Leidensschlüfte der Seele ausfüllen. Das wird dann eine schwere Zeit sein, wo Franzens Herz sich zu Stein verhärtet, und dann werden die Dämonen der Hölle in ein Schauriges Triumphgeheul ausbrechen — oder wo es sich zu reinem Golde läutert, dann aber heißt Gott seine Heerscharen anheben zu einem Jubelhymnus, der brauset von einem Ende des Himmels bis zum andern. Doch für Franz wird das eine grausige Zeit werden, von der er noch nichts ahnt. Er schlüpft ins Bett. Zuweilen horcht er auf, ob Mutter und Vater denn noch immer nicht in ihr Schlafzimmer gehen. Es dauert ihm so entsetzlich lange. Er hört noch Töpfe klappern, und dann gelingt es ihm nicht mehr, wach zu bleiben. Die Anstrengungen des Tages und das Bad tun ihre Wirkung. Franz schläft, und stille ist's im Zimmer. Nur weichgehauchte Atemzüge sind hörbar. Man könnte sie für das sachte Flügelschlagen der Schutzengel halten, die wachend über den Betten hin und her schweben. Vierzehn Englein halten Wacht. . . Wer nicht Vater und Mutter ist und im dunklen Schlafzimmer der lieblichen Musik lauscht, die aus den Atemzügen schlafender Kindlein schmilzt, dem geht die Brust hoch in trunkener Sehnsucht nach dem Weibe, nach dem Manne, damit ein heimliches Hoffen, Warten und ein süßes Träumen sei. . . Zwei Füße gehen die knarrende Stiege herauf. Es müßten vier sein. Aber es sind nur zwei. Die Tür öffnet sich. Der Schein eines kleinen Öllämpchens spaltet die Dunkelheit der Stube. Eine Frau kommt mit gedämpften Schritten herein. Ihre Hand blendet jetzt das Licht ab. Sie geht an das Büchergestell und stellt das Lämpchen auf das leere oberste Brett, dreht sich herum und sieht, solange man braucht, um bis auf drei zu zählen, auf die schlafenden Knaben im Bett am Fenster. Es ist ein grausamer Zug in ihrem Gesicht. Die Falten um ihren Mund sind wie mit einem Messer schmal und tief gekerbt. Der Schein ihrer Augen ist kalt und dünn wie das Licht der Sonne an Regentagen. Nun schlüpft sie mit dem Fuß aus dem Pantoffel, bückt sich, hebt ihn auf. Es ist ein Haushahns aus weichem Leder. Auch die Sohlen sind ganz biegsam. Der Absatz ist aus etwas stärkerem Material. Die Frau faßt den Schuh an der Spitze und holt aus. Kurzgezückte schnelle Schläge fallen auf den Kopf des schlafenden Knaben. Nach einigen Hieben fährt er auf, bleibt steil und verschlafen sitzen. Dann zuckt zerrend der Kopf wie bei einer automatischen Puppe nach rechts. Die schlaf¬ trunkenen Augen starren ins Gesicht der grausam zuschlagenden Frau. Ein Blitz geht durch das Kinderhirn und erweckt es völlig. Die Mutter. . .!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/628>, abgerufen am 27.09.2024.