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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Gegenteil umwandeln lassen? Wenn darum England jetzt eine Verständigung
mit Deutschland erstrebt, so bedeutet das vorläufig nicht eine ganz neue
Orientierung, sondern nur eine Ergänzung seiner bisherigen Politik. Es ist eine
Rückversicherung gegen die Gefahren dieser Politik, die den Engländern die
Ereignisse des letzten Sommers so drastisch vor Augen geführt haben.

Betrachten wir nun diese Politik -- Verständigung mit Deutschland unter
Beibehaltung der bisherigen allgemeinen Orientierung -- vom deutschen Gesichts¬
punkt aus. Wenn wir zurückblicken, so zeigen die Erdeulen und Freundschaften
Englands eine große Elastizität. Es ist kein Zweifel, daß sie zeitweise einen
bündnisartigen Charakter angenommen haben, obwohl ein wirkliches Bündnis
nirgends besteht. Unter gewissen Umständen stellen sie sogar nur sehr lockere
Verbindungen dar. In der Marokkokrisis von 1905 und in Algeciras deckte
England die französischen Ansprüche. Dagegen konnte man im Jahre 1906,
wo bei uns die Besorgnis vor der Einkreisung wohl am stärksten war, bemerken,
wie der französische Ministerpräsident Clemenceau bei jeder Annäherung Englands
sichtlich zurückwich, um sich bedenklichen Verwicklungen zu entziehen. Die Balkan¬
krisis von 1908/9 fand Frankreich nicht im mindesten kriegslustig, und die
vermittelnde Haltung der französischen Regierung hat nicht wenig zu ihrer
Lösung beigetragen. Während der letzten Marokkokrisis deckte England wiederum
die französischen Ansprüche. In den beiden Fällen, wo es sich um französische
Interessen in Marokko handelte, hat England seine Verpflichtungen von 1904
erfüllt und die französische Politik unterstützt. Anderseits finden wir nicht, daß
Frankreich dies England gegenüber getan hat, wenn nicht unmittelbare französische
Interessen in Frage standen.

Für alle die Erdeulen, die die heutige europäische Konstellation kennzeichnen,
ist es charakteristisch, daß sie im Grunde nur politische Tendenzen anzeigen,
nicht aber vertragsmäßige Verpflichtungen, die bestimmt genug formuliert
waren, um nach ihnen bestimmte politische Aktionen einzuleiten.

Die Erdeulen haben die älteren Bündnisse zum Teil modifiziert zum Teil
ergänzt. Das älteste der kontinentalen Bündnisse, das zwischen Deutschland
und Österreich, hat noch immer die stärkste Lebenskraft. Sein Zweck ist, einen
russischen Angriff abzuwehren, der die Unterstützung einer anderen Macht fände.
Wenn die Balkankrisis einen Krieg entzündet hätte, so wäre für Deutschland
der LÄ8U8 koecZöri8 eingetreten. Aber heute haben wir das Bündnis mit
Österreich durch eine Entente mit Nußland ergänzt. Rußland hat also eine
Entente ebenso mit uns wie mit England. Und wenn die englisch-russische
Entente, wenigstens vorübergehend, eine antideutsche Tendenz gehabt hat, oder
nach der Auffassung gewisser englischer Kreise doch haben sollte, so ist ihr diese
Spitze durch das deutsch-russische Abkommen von 1911 abgebrochen worden.--
Die englisch-französische Entente enthielt nur für England, aber nicht für
Frankreich, eine bindende Verpflichtung, nämlich die, die französischen Ansprüche
auf Marokko diplomatisch zu unterstützen. Diese Verpflichtung hat mit der


Reichsspiegcl

Gegenteil umwandeln lassen? Wenn darum England jetzt eine Verständigung
mit Deutschland erstrebt, so bedeutet das vorläufig nicht eine ganz neue
Orientierung, sondern nur eine Ergänzung seiner bisherigen Politik. Es ist eine
Rückversicherung gegen die Gefahren dieser Politik, die den Engländern die
Ereignisse des letzten Sommers so drastisch vor Augen geführt haben.

Betrachten wir nun diese Politik — Verständigung mit Deutschland unter
Beibehaltung der bisherigen allgemeinen Orientierung — vom deutschen Gesichts¬
punkt aus. Wenn wir zurückblicken, so zeigen die Erdeulen und Freundschaften
Englands eine große Elastizität. Es ist kein Zweifel, daß sie zeitweise einen
bündnisartigen Charakter angenommen haben, obwohl ein wirkliches Bündnis
nirgends besteht. Unter gewissen Umständen stellen sie sogar nur sehr lockere
Verbindungen dar. In der Marokkokrisis von 1905 und in Algeciras deckte
England die französischen Ansprüche. Dagegen konnte man im Jahre 1906,
wo bei uns die Besorgnis vor der Einkreisung wohl am stärksten war, bemerken,
wie der französische Ministerpräsident Clemenceau bei jeder Annäherung Englands
sichtlich zurückwich, um sich bedenklichen Verwicklungen zu entziehen. Die Balkan¬
krisis von 1908/9 fand Frankreich nicht im mindesten kriegslustig, und die
vermittelnde Haltung der französischen Regierung hat nicht wenig zu ihrer
Lösung beigetragen. Während der letzten Marokkokrisis deckte England wiederum
die französischen Ansprüche. In den beiden Fällen, wo es sich um französische
Interessen in Marokko handelte, hat England seine Verpflichtungen von 1904
erfüllt und die französische Politik unterstützt. Anderseits finden wir nicht, daß
Frankreich dies England gegenüber getan hat, wenn nicht unmittelbare französische
Interessen in Frage standen.

Für alle die Erdeulen, die die heutige europäische Konstellation kennzeichnen,
ist es charakteristisch, daß sie im Grunde nur politische Tendenzen anzeigen,
nicht aber vertragsmäßige Verpflichtungen, die bestimmt genug formuliert
waren, um nach ihnen bestimmte politische Aktionen einzuleiten.

Die Erdeulen haben die älteren Bündnisse zum Teil modifiziert zum Teil
ergänzt. Das älteste der kontinentalen Bündnisse, das zwischen Deutschland
und Österreich, hat noch immer die stärkste Lebenskraft. Sein Zweck ist, einen
russischen Angriff abzuwehren, der die Unterstützung einer anderen Macht fände.
Wenn die Balkankrisis einen Krieg entzündet hätte, so wäre für Deutschland
der LÄ8U8 koecZöri8 eingetreten. Aber heute haben wir das Bündnis mit
Österreich durch eine Entente mit Nußland ergänzt. Rußland hat also eine
Entente ebenso mit uns wie mit England. Und wenn die englisch-russische
Entente, wenigstens vorübergehend, eine antideutsche Tendenz gehabt hat, oder
nach der Auffassung gewisser englischer Kreise doch haben sollte, so ist ihr diese
Spitze durch das deutsch-russische Abkommen von 1911 abgebrochen worden.—
Die englisch-französische Entente enthielt nur für England, aber nicht für
Frankreich, eine bindende Verpflichtung, nämlich die, die französischen Ansprüche
auf Marokko diplomatisch zu unterstützen. Diese Verpflichtung hat mit der


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[0591] Reichsspiegcl Gegenteil umwandeln lassen? Wenn darum England jetzt eine Verständigung mit Deutschland erstrebt, so bedeutet das vorläufig nicht eine ganz neue Orientierung, sondern nur eine Ergänzung seiner bisherigen Politik. Es ist eine Rückversicherung gegen die Gefahren dieser Politik, die den Engländern die Ereignisse des letzten Sommers so drastisch vor Augen geführt haben. Betrachten wir nun diese Politik — Verständigung mit Deutschland unter Beibehaltung der bisherigen allgemeinen Orientierung — vom deutschen Gesichts¬ punkt aus. Wenn wir zurückblicken, so zeigen die Erdeulen und Freundschaften Englands eine große Elastizität. Es ist kein Zweifel, daß sie zeitweise einen bündnisartigen Charakter angenommen haben, obwohl ein wirkliches Bündnis nirgends besteht. Unter gewissen Umständen stellen sie sogar nur sehr lockere Verbindungen dar. In der Marokkokrisis von 1905 und in Algeciras deckte England die französischen Ansprüche. Dagegen konnte man im Jahre 1906, wo bei uns die Besorgnis vor der Einkreisung wohl am stärksten war, bemerken, wie der französische Ministerpräsident Clemenceau bei jeder Annäherung Englands sichtlich zurückwich, um sich bedenklichen Verwicklungen zu entziehen. Die Balkan¬ krisis von 1908/9 fand Frankreich nicht im mindesten kriegslustig, und die vermittelnde Haltung der französischen Regierung hat nicht wenig zu ihrer Lösung beigetragen. Während der letzten Marokkokrisis deckte England wiederum die französischen Ansprüche. In den beiden Fällen, wo es sich um französische Interessen in Marokko handelte, hat England seine Verpflichtungen von 1904 erfüllt und die französische Politik unterstützt. Anderseits finden wir nicht, daß Frankreich dies England gegenüber getan hat, wenn nicht unmittelbare französische Interessen in Frage standen. Für alle die Erdeulen, die die heutige europäische Konstellation kennzeichnen, ist es charakteristisch, daß sie im Grunde nur politische Tendenzen anzeigen, nicht aber vertragsmäßige Verpflichtungen, die bestimmt genug formuliert waren, um nach ihnen bestimmte politische Aktionen einzuleiten. Die Erdeulen haben die älteren Bündnisse zum Teil modifiziert zum Teil ergänzt. Das älteste der kontinentalen Bündnisse, das zwischen Deutschland und Österreich, hat noch immer die stärkste Lebenskraft. Sein Zweck ist, einen russischen Angriff abzuwehren, der die Unterstützung einer anderen Macht fände. Wenn die Balkankrisis einen Krieg entzündet hätte, so wäre für Deutschland der LÄ8U8 koecZöri8 eingetreten. Aber heute haben wir das Bündnis mit Österreich durch eine Entente mit Nußland ergänzt. Rußland hat also eine Entente ebenso mit uns wie mit England. Und wenn die englisch-russische Entente, wenigstens vorübergehend, eine antideutsche Tendenz gehabt hat, oder nach der Auffassung gewisser englischer Kreise doch haben sollte, so ist ihr diese Spitze durch das deutsch-russische Abkommen von 1911 abgebrochen worden.— Die englisch-französische Entente enthielt nur für England, aber nicht für Frankreich, eine bindende Verpflichtung, nämlich die, die französischen Ansprüche auf Marokko diplomatisch zu unterstützen. Diese Verpflichtung hat mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/591>, abgerufen am 27.09.2024.