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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Ivcilers Martyrium

Weiler steht flüchtig über die Tafel und sagt:

"Ja, mach, daß de jetzt grase gehschtl Un bleib mer net zu lang!"

Lehrer auf dem Laude sind oft halbe Bauern, sie halten reichlich Nutzvieh.
Auch Weiler. In den Ställen hinterm Hause hat er zwei Schweine, zwei
Geißen, etliche zwanzig Kaninchen und an die fünfzig Hühner mit vier Göckeln.
Für das Federvieh muß das Futter allerdings gekauft werden. Aber das
Geschäft rentiert sich- denn zuweilen gehen die Eierpreise enorm in die Höhe,
und in der nahen Stadt Worms sind frische Landeier gesucht. Ebenso erfordern
die Schweine einen Zuschuß für Kleien und Kartoffeln. Für die Ziegen muß
Franz, der Älteste, das Futter suchen. Man nennt das: Grasen gehn. Alltäglich
siedelt er sich an Rainen, Feldwegen, Ödungen und in den Wingerten eine Last
zusammen. Was nicht für die täglichen Imse verbraucht wird, trocknet man
zu Winterheu.

Franz räumt sein Schulzeug beiseite, wechselt die bessere Schuljacke mit
einen: grobleinenen Kittel und geht in den Hof. Aus dem Schuppen holt er
ein großes, viereckiges, sackleinenes Tuch, das an den Ecken mit Stricken zum
Schnüren versehen ist, wickelt Sichel und Wetzstein hinein und macht sich auf
den Weg, hinauf auf den Kirschberg. Dort sind die Wingerte. Es wuchert
jetzt noch viel Hürdürm darin. Der Vater sagt: richtig heißt die Pflanze
"Hühnerdarm". Die Geißen fressen das gern.

Der Bub breitet auf dem Wege vor einem Weinberg sein Tuch aus und
macht sich an die Arbeit. Zeile um Zeile geht er ab. sammelt einen Arm voll
Futter und häuft es auf das Tuch.

In der Nähe steht eine unterkellerte Feldscheune. Dort beladen zwei
Bauersleute einen Wagen mit Dickwurz, die sie im Keller überwintert haben.
Der eine sagt zum anderen:

"Is do nunc net dem Schullähre Weiler sein Klaane?^

Der Angeredete beschattet mit der schwieligen, schwarzrissigen Hand die
Augen und bestätigt:

"Jo. des is er!"

"'s is en aarme Kerl!"

"Mer helle net nmane, daß des Kind schun so gedrickt sei könnt, weil die
Alte sich iwwers Kreiz sin!"

"Der is weit vor. Zu weit for sei Alter. Guck em nor in die Augen."

Sie mögen den Zwölfjährigen gern und haben Mitleid mit ihm.

"Franz! Kumm emol her, Bu!"

Franz folgt der Aufforderung.

"Gun Tag beisamme!"

"Dag, Knäächt! Na, buschte grase?"

"El ja, unser Heu is all. 's is nemehr de Wert drum, neues ze kaufe.
Jetz gibts ja bal wieder Futter im Jwwerfluß. Vorläufig muß mer sich helfe,
so gut's geht," entgegnet Franz in dem den Lehrerskindern auf dem Lande


Franz Ivcilers Martyrium

Weiler steht flüchtig über die Tafel und sagt:

„Ja, mach, daß de jetzt grase gehschtl Un bleib mer net zu lang!"

Lehrer auf dem Laude sind oft halbe Bauern, sie halten reichlich Nutzvieh.
Auch Weiler. In den Ställen hinterm Hause hat er zwei Schweine, zwei
Geißen, etliche zwanzig Kaninchen und an die fünfzig Hühner mit vier Göckeln.
Für das Federvieh muß das Futter allerdings gekauft werden. Aber das
Geschäft rentiert sich- denn zuweilen gehen die Eierpreise enorm in die Höhe,
und in der nahen Stadt Worms sind frische Landeier gesucht. Ebenso erfordern
die Schweine einen Zuschuß für Kleien und Kartoffeln. Für die Ziegen muß
Franz, der Älteste, das Futter suchen. Man nennt das: Grasen gehn. Alltäglich
siedelt er sich an Rainen, Feldwegen, Ödungen und in den Wingerten eine Last
zusammen. Was nicht für die täglichen Imse verbraucht wird, trocknet man
zu Winterheu.

Franz räumt sein Schulzeug beiseite, wechselt die bessere Schuljacke mit
einen: grobleinenen Kittel und geht in den Hof. Aus dem Schuppen holt er
ein großes, viereckiges, sackleinenes Tuch, das an den Ecken mit Stricken zum
Schnüren versehen ist, wickelt Sichel und Wetzstein hinein und macht sich auf
den Weg, hinauf auf den Kirschberg. Dort sind die Wingerte. Es wuchert
jetzt noch viel Hürdürm darin. Der Vater sagt: richtig heißt die Pflanze
„Hühnerdarm". Die Geißen fressen das gern.

Der Bub breitet auf dem Wege vor einem Weinberg sein Tuch aus und
macht sich an die Arbeit. Zeile um Zeile geht er ab. sammelt einen Arm voll
Futter und häuft es auf das Tuch.

In der Nähe steht eine unterkellerte Feldscheune. Dort beladen zwei
Bauersleute einen Wagen mit Dickwurz, die sie im Keller überwintert haben.
Der eine sagt zum anderen:

„Is do nunc net dem Schullähre Weiler sein Klaane?^

Der Angeredete beschattet mit der schwieligen, schwarzrissigen Hand die
Augen und bestätigt:

„Jo. des is er!"

„'s is en aarme Kerl!"

„Mer helle net nmane, daß des Kind schun so gedrickt sei könnt, weil die
Alte sich iwwers Kreiz sin!"

„Der is weit vor. Zu weit for sei Alter. Guck em nor in die Augen."

Sie mögen den Zwölfjährigen gern und haben Mitleid mit ihm.

„Franz! Kumm emol her, Bu!"

Franz folgt der Aufforderung.

„Gun Tag beisamme!"

„Dag, Knäächt! Na, buschte grase?"

„El ja, unser Heu is all. 's is nemehr de Wert drum, neues ze kaufe.
Jetz gibts ja bal wieder Futter im Jwwerfluß. Vorläufig muß mer sich helfe,
so gut's geht," entgegnet Franz in dem den Lehrerskindern auf dem Lande


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[0538] Franz Ivcilers Martyrium Weiler steht flüchtig über die Tafel und sagt: „Ja, mach, daß de jetzt grase gehschtl Un bleib mer net zu lang!" Lehrer auf dem Laude sind oft halbe Bauern, sie halten reichlich Nutzvieh. Auch Weiler. In den Ställen hinterm Hause hat er zwei Schweine, zwei Geißen, etliche zwanzig Kaninchen und an die fünfzig Hühner mit vier Göckeln. Für das Federvieh muß das Futter allerdings gekauft werden. Aber das Geschäft rentiert sich- denn zuweilen gehen die Eierpreise enorm in die Höhe, und in der nahen Stadt Worms sind frische Landeier gesucht. Ebenso erfordern die Schweine einen Zuschuß für Kleien und Kartoffeln. Für die Ziegen muß Franz, der Älteste, das Futter suchen. Man nennt das: Grasen gehn. Alltäglich siedelt er sich an Rainen, Feldwegen, Ödungen und in den Wingerten eine Last zusammen. Was nicht für die täglichen Imse verbraucht wird, trocknet man zu Winterheu. Franz räumt sein Schulzeug beiseite, wechselt die bessere Schuljacke mit einen: grobleinenen Kittel und geht in den Hof. Aus dem Schuppen holt er ein großes, viereckiges, sackleinenes Tuch, das an den Ecken mit Stricken zum Schnüren versehen ist, wickelt Sichel und Wetzstein hinein und macht sich auf den Weg, hinauf auf den Kirschberg. Dort sind die Wingerte. Es wuchert jetzt noch viel Hürdürm darin. Der Vater sagt: richtig heißt die Pflanze „Hühnerdarm". Die Geißen fressen das gern. Der Bub breitet auf dem Wege vor einem Weinberg sein Tuch aus und macht sich an die Arbeit. Zeile um Zeile geht er ab. sammelt einen Arm voll Futter und häuft es auf das Tuch. In der Nähe steht eine unterkellerte Feldscheune. Dort beladen zwei Bauersleute einen Wagen mit Dickwurz, die sie im Keller überwintert haben. Der eine sagt zum anderen: „Is do nunc net dem Schullähre Weiler sein Klaane?^ Der Angeredete beschattet mit der schwieligen, schwarzrissigen Hand die Augen und bestätigt: „Jo. des is er!" „'s is en aarme Kerl!" „Mer helle net nmane, daß des Kind schun so gedrickt sei könnt, weil die Alte sich iwwers Kreiz sin!" „Der is weit vor. Zu weit for sei Alter. Guck em nor in die Augen." Sie mögen den Zwölfjährigen gern und haben Mitleid mit ihm. „Franz! Kumm emol her, Bu!" Franz folgt der Aufforderung. „Gun Tag beisamme!" „Dag, Knäächt! Na, buschte grase?" „El ja, unser Heu is all. 's is nemehr de Wert drum, neues ze kaufe. Jetz gibts ja bal wieder Futter im Jwwerfluß. Vorläufig muß mer sich helfe, so gut's geht," entgegnet Franz in dem den Lehrerskindern auf dem Lande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/538>, abgerufen am 27.09.2024.