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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Jugend und die Sozialdemokratie

bittere in seine Wohnung zurücktreiben wird, um zu grollen über --, nun über
die UnMichkeit des Menschengeschlechtes. Oder aber die Sozialdemokratie
erkennt, daß auch sie das Erbe der Väter übernehmen und sich durch harte
geistige Arbeit erwerben muß. Sittliche Kultur, Weltanschauung, Wissenschaft --
alles, was man bei der Erziehung bedarf --, es hat nichts zu tun mit dem
ökonomischen System. Doch es ist auf diesen Blättern nicht der Ort, die Sozial¬
demokraten zu belehren, sondern zum Schluß frage ich mit ganzem Ernste:
Welche Schuld haben denn wir, die wir jenes Erbe der Väter zu besitzen, viel¬
leicht zu verteidigen glauben, an der traurigen Verarmung unseres jungen
Geschlechtes?

Ohne Zweifel trifft auch unsere Schule ein Vorwurf dafür, daß die junge
Generation derartig widerstandslos der Phrase gegenübersteht. Durch die Volks¬
schullehrerschaft geht ein Suchen nach neuen pädagogischen Methoden. Man
möchte mehr leisten, aber die Kinder sollen nicht so sehr angestrengt werden.
Man scheut sich fest zuzugreifen. Man vergißt das alte Wort: vor die Tugend
setzten die Götter den Schweiß. Die Schulbehörden stellen sich meist nicht führend
an die Spitze; sie lassen sich eher hie und da zu einem Zugeständnis bewegen.
Die Schule gerät in einen Zustand innerer Unsicherheit. Während den Kindern
vieles mehr gelehrt wird als früher, wissen und können sie oft weniger.
Auf der anderen Seite fühlen die Behörden sich verpflichtet, recht konservativ zu
sein, namentlich im Religionsunterricht. Dadurch wird in die Lehrerschaft eine
gefährliche innere Spannung gebracht: innerlich nach Neuerungen strebend, oft
skeptisch durch und durch, soll sie im Religionsunterricht starr in den alten
Bahnen beharren.

Der Religionsunterricht unserer Volksschule ist unpsychologisch durch und
durch. Wir wollen Christen sein wie unsere Väter. Aber so wenig jemand
nach der griechischen Grammatik des Melanchthon heute unterrichten würde, so
unmöglich ist es, Religionsunterricht in der Methode des sechzehnten Jahrhunderts
zu geben; und doch wird es versucht. Nur wenige fromme und tiefe Gedanken
und das klare Bild einiger frommer Heldengestalten braucht der Mensch ins
Leben mitzunehmen, damit entweder die von der Familie geweckte Gesinnung
sich zu breiterem Lebensverständnis entfalte oder auch der innerlich leere Mensch
später, durch herbe Erfahrungen angepackt, in sich noch etwas finde, womit er
sich doch das Leben ausbeuten und einen neuen Idealismus aufbauen könne.

Der erschütternde Zusammenbruch religiöser Sitte und Lebensauffassung in
unserem Volke sollte uns doch endlich die Allgen darüber öffnen, daß die Methode
unseres Religionsunterrichtes verkehrt sei. Was wir aber als ganzes Volk
verlieren, vermag nur der ganz zu erkennen, der das Versagen der sittlichen
Kräfte rings um sich, Tag für Tag, erlebt. "Wir Alten hatten doch noch
etwas," sagte mir neulich ein Kutscher auf der Straße, "wenn wir auch die
Religion weggeworfen hatten, es saß doch noch etwas in uns, amGuten festzuhalten.
Aber nun die Jungen werden schlimmer, denn sie haben gar nichts mehr."


Grenzboten I 1912 07
Die Jugend und die Sozialdemokratie

bittere in seine Wohnung zurücktreiben wird, um zu grollen über —, nun über
die UnMichkeit des Menschengeschlechtes. Oder aber die Sozialdemokratie
erkennt, daß auch sie das Erbe der Väter übernehmen und sich durch harte
geistige Arbeit erwerben muß. Sittliche Kultur, Weltanschauung, Wissenschaft —
alles, was man bei der Erziehung bedarf —, es hat nichts zu tun mit dem
ökonomischen System. Doch es ist auf diesen Blättern nicht der Ort, die Sozial¬
demokraten zu belehren, sondern zum Schluß frage ich mit ganzem Ernste:
Welche Schuld haben denn wir, die wir jenes Erbe der Väter zu besitzen, viel¬
leicht zu verteidigen glauben, an der traurigen Verarmung unseres jungen
Geschlechtes?

Ohne Zweifel trifft auch unsere Schule ein Vorwurf dafür, daß die junge
Generation derartig widerstandslos der Phrase gegenübersteht. Durch die Volks¬
schullehrerschaft geht ein Suchen nach neuen pädagogischen Methoden. Man
möchte mehr leisten, aber die Kinder sollen nicht so sehr angestrengt werden.
Man scheut sich fest zuzugreifen. Man vergißt das alte Wort: vor die Tugend
setzten die Götter den Schweiß. Die Schulbehörden stellen sich meist nicht führend
an die Spitze; sie lassen sich eher hie und da zu einem Zugeständnis bewegen.
Die Schule gerät in einen Zustand innerer Unsicherheit. Während den Kindern
vieles mehr gelehrt wird als früher, wissen und können sie oft weniger.
Auf der anderen Seite fühlen die Behörden sich verpflichtet, recht konservativ zu
sein, namentlich im Religionsunterricht. Dadurch wird in die Lehrerschaft eine
gefährliche innere Spannung gebracht: innerlich nach Neuerungen strebend, oft
skeptisch durch und durch, soll sie im Religionsunterricht starr in den alten
Bahnen beharren.

Der Religionsunterricht unserer Volksschule ist unpsychologisch durch und
durch. Wir wollen Christen sein wie unsere Väter. Aber so wenig jemand
nach der griechischen Grammatik des Melanchthon heute unterrichten würde, so
unmöglich ist es, Religionsunterricht in der Methode des sechzehnten Jahrhunderts
zu geben; und doch wird es versucht. Nur wenige fromme und tiefe Gedanken
und das klare Bild einiger frommer Heldengestalten braucht der Mensch ins
Leben mitzunehmen, damit entweder die von der Familie geweckte Gesinnung
sich zu breiterem Lebensverständnis entfalte oder auch der innerlich leere Mensch
später, durch herbe Erfahrungen angepackt, in sich noch etwas finde, womit er
sich doch das Leben ausbeuten und einen neuen Idealismus aufbauen könne.

Der erschütternde Zusammenbruch religiöser Sitte und Lebensauffassung in
unserem Volke sollte uns doch endlich die Allgen darüber öffnen, daß die Methode
unseres Religionsunterrichtes verkehrt sei. Was wir aber als ganzes Volk
verlieren, vermag nur der ganz zu erkennen, der das Versagen der sittlichen
Kräfte rings um sich, Tag für Tag, erlebt. „Wir Alten hatten doch noch
etwas," sagte mir neulich ein Kutscher auf der Straße, „wenn wir auch die
Religion weggeworfen hatten, es saß doch noch etwas in uns, amGuten festzuhalten.
Aber nun die Jungen werden schlimmer, denn sie haben gar nichts mehr."


Grenzboten I 1912 07
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/533>, abgerufen am 27.09.2024.