Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Die deutsche Malerei der Gegenwart Ein Überblick über ihre Grundlagen, Führer und Strömungen von Dr. Paul Ferdinand Schmidt ustert man die Werke der gegenwärtigen Malerei in Deutschland, Selbstverständlich besagt eine solche kunsthistorische Einordnung gar nichts. Die deutsche Malerei der Gegenwart Ein Überblick über ihre Grundlagen, Führer und Strömungen von Dr. Paul Ferdinand Schmidt ustert man die Werke der gegenwärtigen Malerei in Deutschland, Selbstverständlich besagt eine solche kunsthistorische Einordnung gar nichts. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0519" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320936"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_320416/figures/grenzboten_341895_320416_320936_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Die deutsche Malerei der Gegenwart<lb/> Ein Überblick über ihre Grundlagen, Führer und Strömungen<lb/><note type="byline"> von Dr. Paul Ferdinand Schmidt</note></head><lb/> <p xml:id="ID_2230"> ustert man die Werke der gegenwärtigen Malerei in Deutschland,<lb/> wie sie sich jedes Jahr in zahllosen großen und kleineren, offiziellen,<lb/> nichtoffiziellen und privaten Ausstellungen darbieten, so scheint ein<lb/> unentwirrbares Chaos von widerstreitenden und unkontrollierbaren<lb/> Richtungen und persönlichen Ausdrucksweisen in ihnen zu herrschen.<lb/> Den Laien verwirrt das, und er glaubt wohl, keine Zeit habe so viele künstlerische<lb/> Persönlichkeiten oder so viel Willkür in den künstlerischen Ausdrucksweisen hervor¬<lb/> gebracht wie die unserige, während doch ein Blick auf die Kunstgeschichte ein<lb/> sauber nach Orten, Zeiten und Meistern eingeteiltes, wohl übersehbares Feld<lb/> darbietet, in dem man alle Sterne, von der ersten bis zur sechsten oder gar<lb/> achten Klasse, manierlich und ohne Zögern an ihrem ihnen zugemessenen Platze<lb/> rubrizieren kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_2231" next="#ID_2232"> Selbstverständlich besagt eine solche kunsthistorische Einordnung gar nichts.<lb/> Wem nicht das Geheimnis eines Straßburger Münsters oder eines Selbstbildnisses<lb/> von Rembrandt als tiefbewegendes Erlebnis persönlichen Empfindens aufgegangen<lb/> ist, der klammert sich gern an die Daten der Geschichte, an das Milieu, in<lb/> dem das Kunstwerk entstanden ist, an den Inhalt, den es darstellt, kurz, an die<lb/> unkünstlerischen, an die mit dem Verstände aufzunehmenden Dinge allein. Aber<lb/> es trägt anderseits auch zum ehrlichen Verständnis bei, die Umgebung, die<lb/> Zeit zu kennen, in der Kunstwerke entstanden. So ist es z. B. nicht gleichgültig<lb/> SU wissen, daß Rembrandt ein Niederdeutscher, ein Protestant, Rubens aber ein<lb/> katholischer Vlame der Barockzeit war. Es regt zum Vergleichen und intimeren<lb/> Genießen an. Und in diesem Geiste ist die Forderung nicht unberechtigt, gewisse<lb/> Leitlinien in dem Chaos unserer modernen Malerei kennen zu lernen; ja, sie ist<lb/> weit berechtigter als gegenüber der alten Kunst. Denn die lebenden Künstler<lb/> sind die Denker unseres eigenen Lebenswillens, und wer sie recht empfinden und<lb/> die Echten von den Unechten scheiden kann, der hat mehr gewonnen als ein<lb/> Mittel der „Rubrizierung", er hat seine Zeit aus dem Innersten verstehen gelernt.<lb/> Denn insoweit, als der Dichter und der Künstler ihre Zeit weit besser, tiefer,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0519]
[Abbildung]
Die deutsche Malerei der Gegenwart
Ein Überblick über ihre Grundlagen, Führer und Strömungen
von Dr. Paul Ferdinand Schmidt
ustert man die Werke der gegenwärtigen Malerei in Deutschland,
wie sie sich jedes Jahr in zahllosen großen und kleineren, offiziellen,
nichtoffiziellen und privaten Ausstellungen darbieten, so scheint ein
unentwirrbares Chaos von widerstreitenden und unkontrollierbaren
Richtungen und persönlichen Ausdrucksweisen in ihnen zu herrschen.
Den Laien verwirrt das, und er glaubt wohl, keine Zeit habe so viele künstlerische
Persönlichkeiten oder so viel Willkür in den künstlerischen Ausdrucksweisen hervor¬
gebracht wie die unserige, während doch ein Blick auf die Kunstgeschichte ein
sauber nach Orten, Zeiten und Meistern eingeteiltes, wohl übersehbares Feld
darbietet, in dem man alle Sterne, von der ersten bis zur sechsten oder gar
achten Klasse, manierlich und ohne Zögern an ihrem ihnen zugemessenen Platze
rubrizieren kann.
Selbstverständlich besagt eine solche kunsthistorische Einordnung gar nichts.
Wem nicht das Geheimnis eines Straßburger Münsters oder eines Selbstbildnisses
von Rembrandt als tiefbewegendes Erlebnis persönlichen Empfindens aufgegangen
ist, der klammert sich gern an die Daten der Geschichte, an das Milieu, in
dem das Kunstwerk entstanden ist, an den Inhalt, den es darstellt, kurz, an die
unkünstlerischen, an die mit dem Verstände aufzunehmenden Dinge allein. Aber
es trägt anderseits auch zum ehrlichen Verständnis bei, die Umgebung, die
Zeit zu kennen, in der Kunstwerke entstanden. So ist es z. B. nicht gleichgültig
SU wissen, daß Rembrandt ein Niederdeutscher, ein Protestant, Rubens aber ein
katholischer Vlame der Barockzeit war. Es regt zum Vergleichen und intimeren
Genießen an. Und in diesem Geiste ist die Forderung nicht unberechtigt, gewisse
Leitlinien in dem Chaos unserer modernen Malerei kennen zu lernen; ja, sie ist
weit berechtigter als gegenüber der alten Kunst. Denn die lebenden Künstler
sind die Denker unseres eigenen Lebenswillens, und wer sie recht empfinden und
die Echten von den Unechten scheiden kann, der hat mehr gewonnen als ein
Mittel der „Rubrizierung", er hat seine Zeit aus dem Innersten verstehen gelernt.
Denn insoweit, als der Dichter und der Künstler ihre Zeit weit besser, tiefer,
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