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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Meilers Martyrium

Ein Dutzend gestreckte Zeigefinger stechen in die Höhe:

"Ch, Herr Lehrer, es, es, es, es, es!"

Das spanische Rohr saust auf den Pultdeckel:

"Wer macht da: ich, ich, ich? Rumler die Händ! Die Finger werden nur
in Kopfhöhe gehoben!"

Die erhobenen fuchtelnden Kinderarme senken sich in die vorgeschriebene
pedantische Haltung. Aber nun ist in: Sitzfleisch keine Ruhe. Schüler und
Schülerinnen, die gerne erzählen wollen, hüpfen auf dem Sitze, als ob sie im
Sattel eines galoppierenden Pferdes säßen.

Der Lehrer mustert die Eifriger:

"Der Mathees Seliger wills erzählen!"

Alle Finger gehen herunter, der Gerufene schnellt in die Höhe und beginnt:

"Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ."

Nach einer Weile unterbricht ihn der Lehrer:

"Alois Schäfer! Was hat der Mathees Seliger grad zuletzt gesagt?"

Keine Antwort.

"Der Kerl paßt nicht auf. Raus, Kunde, und hierhin gekniet neben dem
Pult. Gesicht an die Wand! -- Mathees Seliger weiterfahren!"

Der beendet seine Erzählung.

"Na ja, das war gut auswendig gelernt. Das ist fließend gegangen. Aber
wer kann mirs mit seinen eigenen Worten erzählen?"

Es gehen nur wenige Finger in die Höhe.

"Margaretha Erdner!"

"Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ."

Weiter kommt das Mädchen nicht.

"Die fängt gleich an, wies im Buch steht. Setz dich hin, mach fort, setz
dich hin, daß ich dich nimmer seh! Wer kanns?"

Er mustert wieder. Dann schuickt er den Kopf nach vorn.

Wenn der Lehrer keinen Namen nennt, sondern nur mit dem Kopfe
schrickt, so ist damit sein eigen Kind gemeint. Für das hat er nicht einmal
die geringe schulmeisterliche Güte, die er seinen anderen Schülern gönnt. Denn
der kleine Franz kommt in die Familie seiner Mutter, und diese mitsamt ihrer
"Sippschaft" haßt er, weil sie ihn um die erwartete Mitgift betrogen. Betrug
nennt er die Vorsicht der Schwiegereltern, sich für die alten Tage eine Rente
zurückbehalten zu haben.

Franz schnellt von seinem Sitze auf:

"Karls des Großen Tochter Emma liebte Eginhardt, den Geheimschreiber
ihres Vaters, und wollte ihn deshalb heiraten ..."

Der Vater hört wohl den aus der schärferen Betonung des Wörtchens
"deshalb" klagenden Vorwurf seines frühreifen Kindes. Sein Zorn quillt, und
der Haß lobt ihm aus den Augen.

"Und da, und da . . . und da, und da . . ."


Grenzboten I 1912 01
Franz Meilers Martyrium

Ein Dutzend gestreckte Zeigefinger stechen in die Höhe:

„Ch, Herr Lehrer, es, es, es, es, es!"

Das spanische Rohr saust auf den Pultdeckel:

„Wer macht da: ich, ich, ich? Rumler die Händ! Die Finger werden nur
in Kopfhöhe gehoben!"

Die erhobenen fuchtelnden Kinderarme senken sich in die vorgeschriebene
pedantische Haltung. Aber nun ist in: Sitzfleisch keine Ruhe. Schüler und
Schülerinnen, die gerne erzählen wollen, hüpfen auf dem Sitze, als ob sie im
Sattel eines galoppierenden Pferdes säßen.

Der Lehrer mustert die Eifriger:

„Der Mathees Seliger wills erzählen!"

Alle Finger gehen herunter, der Gerufene schnellt in die Höhe und beginnt:

„Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ."

Nach einer Weile unterbricht ihn der Lehrer:

„Alois Schäfer! Was hat der Mathees Seliger grad zuletzt gesagt?"

Keine Antwort.

„Der Kerl paßt nicht auf. Raus, Kunde, und hierhin gekniet neben dem
Pult. Gesicht an die Wand! — Mathees Seliger weiterfahren!"

Der beendet seine Erzählung.

„Na ja, das war gut auswendig gelernt. Das ist fließend gegangen. Aber
wer kann mirs mit seinen eigenen Worten erzählen?"

Es gehen nur wenige Finger in die Höhe.

„Margaretha Erdner!"

„Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ."

Weiter kommt das Mädchen nicht.

„Die fängt gleich an, wies im Buch steht. Setz dich hin, mach fort, setz
dich hin, daß ich dich nimmer seh! Wer kanns?"

Er mustert wieder. Dann schuickt er den Kopf nach vorn.

Wenn der Lehrer keinen Namen nennt, sondern nur mit dem Kopfe
schrickt, so ist damit sein eigen Kind gemeint. Für das hat er nicht einmal
die geringe schulmeisterliche Güte, die er seinen anderen Schülern gönnt. Denn
der kleine Franz kommt in die Familie seiner Mutter, und diese mitsamt ihrer
„Sippschaft" haßt er, weil sie ihn um die erwartete Mitgift betrogen. Betrug
nennt er die Vorsicht der Schwiegereltern, sich für die alten Tage eine Rente
zurückbehalten zu haben.

Franz schnellt von seinem Sitze auf:

„Karls des Großen Tochter Emma liebte Eginhardt, den Geheimschreiber
ihres Vaters, und wollte ihn deshalb heiraten ..."

Der Vater hört wohl den aus der schärferen Betonung des Wörtchens
„deshalb" klagenden Vorwurf seines frühreifen Kindes. Sein Zorn quillt, und
der Haß lobt ihm aus den Augen.

„Und da, und da . . . und da, und da . . ."


Grenzboten I 1912 01
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[0485] Franz Meilers Martyrium Ein Dutzend gestreckte Zeigefinger stechen in die Höhe: „Ch, Herr Lehrer, es, es, es, es, es!" Das spanische Rohr saust auf den Pultdeckel: „Wer macht da: ich, ich, ich? Rumler die Händ! Die Finger werden nur in Kopfhöhe gehoben!" Die erhobenen fuchtelnden Kinderarme senken sich in die vorgeschriebene pedantische Haltung. Aber nun ist in: Sitzfleisch keine Ruhe. Schüler und Schülerinnen, die gerne erzählen wollen, hüpfen auf dem Sitze, als ob sie im Sattel eines galoppierenden Pferdes säßen. Der Lehrer mustert die Eifriger: „Der Mathees Seliger wills erzählen!" Alle Finger gehen herunter, der Gerufene schnellt in die Höhe und beginnt: „Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ." Nach einer Weile unterbricht ihn der Lehrer: „Alois Schäfer! Was hat der Mathees Seliger grad zuletzt gesagt?" Keine Antwort. „Der Kerl paßt nicht auf. Raus, Kunde, und hierhin gekniet neben dem Pult. Gesicht an die Wand! — Mathees Seliger weiterfahren!" Der beendet seine Erzählung. „Na ja, das war gut auswendig gelernt. Das ist fließend gegangen. Aber wer kann mirs mit seinen eigenen Worten erzählen?" Es gehen nur wenige Finger in die Höhe. „Margaretha Erdner!" „Karl der Große hatte eine Tochter namens Emma . . ." Weiter kommt das Mädchen nicht. „Die fängt gleich an, wies im Buch steht. Setz dich hin, mach fort, setz dich hin, daß ich dich nimmer seh! Wer kanns?" Er mustert wieder. Dann schuickt er den Kopf nach vorn. Wenn der Lehrer keinen Namen nennt, sondern nur mit dem Kopfe schrickt, so ist damit sein eigen Kind gemeint. Für das hat er nicht einmal die geringe schulmeisterliche Güte, die er seinen anderen Schülern gönnt. Denn der kleine Franz kommt in die Familie seiner Mutter, und diese mitsamt ihrer „Sippschaft" haßt er, weil sie ihn um die erwartete Mitgift betrogen. Betrug nennt er die Vorsicht der Schwiegereltern, sich für die alten Tage eine Rente zurückbehalten zu haben. Franz schnellt von seinem Sitze auf: „Karls des Großen Tochter Emma liebte Eginhardt, den Geheimschreiber ihres Vaters, und wollte ihn deshalb heiraten ..." Der Vater hört wohl den aus der schärferen Betonung des Wörtchens „deshalb" klagenden Vorwurf seines frühreifen Kindes. Sein Zorn quillt, und der Haß lobt ihm aus den Augen. „Und da, und da . . . und da, und da . . ." Grenzboten I 1912 01

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/485>, abgerufen am 27.09.2024.