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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Iveilers Martyrium

Die beiden anderen lenken ein:

"Na, wer meint, du verstehscht kein Spaß mehr! Sag' kommschte net ein
bißje heut Awend?"

"Nein!" sagt Weiler, "ich hab noch sechszig Hefte zu korrigiere um will
dann noch en Beet Erbse lege."

Sagt's schroff und geht in seine Klasse. Die Kinder fahren zusammen, so
heftig und geräuschvoll reißt er die Tür auf und schnaubt er ins Zimmer.

Das durch die halblaute Unterhaltung der Kinder hervorgerufene Gesumme,
das wie das Schwirren vieler Bienen dem Lehrer entgegengeschlagen war, hat
wie weggeschnappt aufgehört, und es wird lautlos stille. Trotzdem greift
Weiler nach dem spanischen Rohr, haut es so wütend auf deu Pultdeckel, daß
es sich am Ende spaltet, und schreit dazu:

"Wer spricht da noch?"

Seine Augen zücken drohend über die steil und still dasitzenden Kinder hin
und bohren sich in die verschüchterten Blicke des auf dem zweiten Platz in
der obersten Bank sitzenden Buben. Er wird unruhig unter dem starren, wut¬
sprühenden Ausdruck des Lehrers. Die Angst wirrt immer verzweifelter aus
den melancholischen Augen. Das Kind rutscht auf dem Sitze hin und her,
richtet den Kopf nach der Decke, um den wütenden Blicken zu entgehen. Doch
plötzlich senkt er ihn wieder und sieht dem Lehrer voller Qual ins Gesicht, als
ob ein Bann ihn dazu zwänge. Sekundenlang nur flattern des Kindes Angst¬
blicke vor dem stahlscharfen Augenlicht des Mannes. Dann fährt es mit einem
Ruck in die Höhe:

"Vater!?"

Der Ruf liegt zwischen Sprechen und Stöhnen und geht wie ein armer
Bettler zu dem Manne am Pult.

"Setzen!! Ich hab nichts gefragt!"

Der Kleine setzt sich wieder nieder. Er hat des Vaters Wut gleich bemerkt.
Sicher hat der Vater was mit den andern Lehrern gehabt. Darunter muß er,
ganz allein er, nun leiden. Nachher beim Kaffeetrinken vielleicht auch die Mutter.

Die Stimme am Pult schnarrt:

"Das Lesebuch wird aufgeschlagen! Wie Seligenstadt entstand."

Ein Muscheln, Rascheln. Blättern wird laut, Füße scharren.

Wieder zischt das spanische Rohr durch die Luft und knallt auf den Pultdeckel.

"Mit drei hat wieder alles still zu sein!"

Der kleine Franz Weiler ist so sehr in seine schmerzlichen Gedanken versunken,
daß er erst als letzter dazu kommt, sein Buch aufzuschlagen. Der Vater bemerkt
es und ruft:

"Was hat das so lang zu dauern bei Dem??"

Und wieder ein unholdes Drohen im Blick.

"Wer kann mir, ohne ins Buch zu gucken, noch einmal erzählen, wie Seligen-
stadt entstand?"


Franz Iveilers Martyrium

Die beiden anderen lenken ein:

„Na, wer meint, du verstehscht kein Spaß mehr! Sag' kommschte net ein
bißje heut Awend?"

„Nein!" sagt Weiler, „ich hab noch sechszig Hefte zu korrigiere um will
dann noch en Beet Erbse lege."

Sagt's schroff und geht in seine Klasse. Die Kinder fahren zusammen, so
heftig und geräuschvoll reißt er die Tür auf und schnaubt er ins Zimmer.

Das durch die halblaute Unterhaltung der Kinder hervorgerufene Gesumme,
das wie das Schwirren vieler Bienen dem Lehrer entgegengeschlagen war, hat
wie weggeschnappt aufgehört, und es wird lautlos stille. Trotzdem greift
Weiler nach dem spanischen Rohr, haut es so wütend auf deu Pultdeckel, daß
es sich am Ende spaltet, und schreit dazu:

„Wer spricht da noch?"

Seine Augen zücken drohend über die steil und still dasitzenden Kinder hin
und bohren sich in die verschüchterten Blicke des auf dem zweiten Platz in
der obersten Bank sitzenden Buben. Er wird unruhig unter dem starren, wut¬
sprühenden Ausdruck des Lehrers. Die Angst wirrt immer verzweifelter aus
den melancholischen Augen. Das Kind rutscht auf dem Sitze hin und her,
richtet den Kopf nach der Decke, um den wütenden Blicken zu entgehen. Doch
plötzlich senkt er ihn wieder und sieht dem Lehrer voller Qual ins Gesicht, als
ob ein Bann ihn dazu zwänge. Sekundenlang nur flattern des Kindes Angst¬
blicke vor dem stahlscharfen Augenlicht des Mannes. Dann fährt es mit einem
Ruck in die Höhe:

„Vater!?"

Der Ruf liegt zwischen Sprechen und Stöhnen und geht wie ein armer
Bettler zu dem Manne am Pult.

„Setzen!! Ich hab nichts gefragt!"

Der Kleine setzt sich wieder nieder. Er hat des Vaters Wut gleich bemerkt.
Sicher hat der Vater was mit den andern Lehrern gehabt. Darunter muß er,
ganz allein er, nun leiden. Nachher beim Kaffeetrinken vielleicht auch die Mutter.

Die Stimme am Pult schnarrt:

„Das Lesebuch wird aufgeschlagen! Wie Seligenstadt entstand."

Ein Muscheln, Rascheln. Blättern wird laut, Füße scharren.

Wieder zischt das spanische Rohr durch die Luft und knallt auf den Pultdeckel.

„Mit drei hat wieder alles still zu sein!"

Der kleine Franz Weiler ist so sehr in seine schmerzlichen Gedanken versunken,
daß er erst als letzter dazu kommt, sein Buch aufzuschlagen. Der Vater bemerkt
es und ruft:

„Was hat das so lang zu dauern bei Dem??"

Und wieder ein unholdes Drohen im Blick.

„Wer kann mir, ohne ins Buch zu gucken, noch einmal erzählen, wie Seligen-
stadt entstand?"


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[0484] Franz Iveilers Martyrium Die beiden anderen lenken ein: „Na, wer meint, du verstehscht kein Spaß mehr! Sag' kommschte net ein bißje heut Awend?" „Nein!" sagt Weiler, „ich hab noch sechszig Hefte zu korrigiere um will dann noch en Beet Erbse lege." Sagt's schroff und geht in seine Klasse. Die Kinder fahren zusammen, so heftig und geräuschvoll reißt er die Tür auf und schnaubt er ins Zimmer. Das durch die halblaute Unterhaltung der Kinder hervorgerufene Gesumme, das wie das Schwirren vieler Bienen dem Lehrer entgegengeschlagen war, hat wie weggeschnappt aufgehört, und es wird lautlos stille. Trotzdem greift Weiler nach dem spanischen Rohr, haut es so wütend auf deu Pultdeckel, daß es sich am Ende spaltet, und schreit dazu: „Wer spricht da noch?" Seine Augen zücken drohend über die steil und still dasitzenden Kinder hin und bohren sich in die verschüchterten Blicke des auf dem zweiten Platz in der obersten Bank sitzenden Buben. Er wird unruhig unter dem starren, wut¬ sprühenden Ausdruck des Lehrers. Die Angst wirrt immer verzweifelter aus den melancholischen Augen. Das Kind rutscht auf dem Sitze hin und her, richtet den Kopf nach der Decke, um den wütenden Blicken zu entgehen. Doch plötzlich senkt er ihn wieder und sieht dem Lehrer voller Qual ins Gesicht, als ob ein Bann ihn dazu zwänge. Sekundenlang nur flattern des Kindes Angst¬ blicke vor dem stahlscharfen Augenlicht des Mannes. Dann fährt es mit einem Ruck in die Höhe: „Vater!?" Der Ruf liegt zwischen Sprechen und Stöhnen und geht wie ein armer Bettler zu dem Manne am Pult. „Setzen!! Ich hab nichts gefragt!" Der Kleine setzt sich wieder nieder. Er hat des Vaters Wut gleich bemerkt. Sicher hat der Vater was mit den andern Lehrern gehabt. Darunter muß er, ganz allein er, nun leiden. Nachher beim Kaffeetrinken vielleicht auch die Mutter. Die Stimme am Pult schnarrt: „Das Lesebuch wird aufgeschlagen! Wie Seligenstadt entstand." Ein Muscheln, Rascheln. Blättern wird laut, Füße scharren. Wieder zischt das spanische Rohr durch die Luft und knallt auf den Pultdeckel. „Mit drei hat wieder alles still zu sein!" Der kleine Franz Weiler ist so sehr in seine schmerzlichen Gedanken versunken, daß er erst als letzter dazu kommt, sein Buch aufzuschlagen. Der Vater bemerkt es und ruft: „Was hat das so lang zu dauern bei Dem??" Und wieder ein unholdes Drohen im Blick. „Wer kann mir, ohne ins Buch zu gucken, noch einmal erzählen, wie Seligen- stadt entstand?"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/484>, abgerufen am 27.09.2024.