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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die experimentelliz Ästhetik

Fechner hatte sich auf zwei experimentelle Methoden beschränkt. Er nannte
sie die Methode der Wahl und die der Herstellung. Jene bestand in dein
Heraussuchen einer wohlgefälligsten Form aus einer ganzen Anzahl geometrisch
abgestufter Grade derselben. So kann z. B. bei einer Visitenkarte nach dem
wohlgefälligsten Verhältnis der Längs- und der Schmalseiten gefragt werden.
Wenn einer Versuchsperson eine Anzahl solcher Karten vorgelegt wird, in der
die kleinste Schmalseite den Anfang macht und die größte zu einem vollen
Quadrat mit der Längsseite sich ergänzend den Abschluß bildet, so mußte nach
Fechners Methode der Wahl diejenige Karte gewählt werden, die innerhalb
dieser Reihe das gefälligste Seitenverhältnis aufwies. Die Maximalzahl der
Urteile vereinigte sich hierbei auf das sogenannte Verhältnis des goldenen
Schnittes, wonach die kleinere Seite sich zu der größeren verhält, wie diese zur
Summe beider. Bei diesem Verfahren wurde aus der ganzen Reihe jeweils
nur ein Objekt gewühlt. Die übrigen Objekte kamen eigentlich nur in so weit
in Betracht, als sie das erforderliche Relief für das gefälligste bildeten und
möglicherweise von anderen Versuchspersonen gewählt werden konnten. Um
dieser mangelhaften Ausnutzung abzuhelfen und zugleich den Verschiedenheiten
in Grad und Art der ästhetischen Beurteilung Rechnung zu tragen, hat man
Fechners Methode der Wahl nicht unwesentlich umgestaltet. Man hat z. B.
nicht nur das gefälligste, sondern auch das mißfälligste Objekt und andere Grade
in der Skala der ästhetischen Werte bestimmen lassen. Dann hat man auch
eine sogenannte Reihenmethode aufgestellt, nach der die ganze geometrisch
abgestufte Reihe in eine ästhetische Wertreihe umzuwandeln ist. Man ist auch
dazu übergegangen, nur je zwei solcher Objekte miteinander vergleichen zu lassen
und lediglich relative ästhetische Urteile von der Versuchsperson zu verlangen.
Diese Methode der paarweisen Vergleichung fordert freilich mehr Zeit als die
einfachere Methode der Wahl oder die Reihenmethode. Aber sie ermöglicht
zugleich eine sicherere Abstufung der Wertgrade des ästhetischen Urteils, indem
die Zahl der Vorzugsurteile bei einer und derselben Versuchsperson ein ein¬
faches Maß für den Wert desjenigen Objekts abgibt, auf welches sie sich ver¬
einigt haben.

Die Fechnersche Methode der Herstellung bestand in einer Erzeugung des
gefälligsten Objektes durch die urteilende Versuchsperson. Man denke sich etwa
an einem Kreuzmodell den Kreuzarm verschiebbar. Man kann dann von einer
Versuchsperson diejenige Stellung des Armes selbst durch Verschieben anbringen
lassen, welche ihr den wohlgefälligsten Gesamteindruck des Kreuzes erweckt. Auch
diesem Verfahren sind in der späteren Entwicklung mannigfache neue Anwen¬
dungen und Verfeinerungen zuteil geworden. Die wichtigste von ihnen dürfte
wohl darin bestehen, daß man zwischen der Methode der Herstellung und dem
aktiven ästhetischen Verhalten, dem künstlerischen Schaffen, eine engere Beziehung
hat ausweisen können. Es ist das Zusammenwirken von Auge und Hand unter
dem Einfluß des persönlichen Geschmacks auch hier wie beim Zeichnen oder


Die experimentelliz Ästhetik

Fechner hatte sich auf zwei experimentelle Methoden beschränkt. Er nannte
sie die Methode der Wahl und die der Herstellung. Jene bestand in dein
Heraussuchen einer wohlgefälligsten Form aus einer ganzen Anzahl geometrisch
abgestufter Grade derselben. So kann z. B. bei einer Visitenkarte nach dem
wohlgefälligsten Verhältnis der Längs- und der Schmalseiten gefragt werden.
Wenn einer Versuchsperson eine Anzahl solcher Karten vorgelegt wird, in der
die kleinste Schmalseite den Anfang macht und die größte zu einem vollen
Quadrat mit der Längsseite sich ergänzend den Abschluß bildet, so mußte nach
Fechners Methode der Wahl diejenige Karte gewählt werden, die innerhalb
dieser Reihe das gefälligste Seitenverhältnis aufwies. Die Maximalzahl der
Urteile vereinigte sich hierbei auf das sogenannte Verhältnis des goldenen
Schnittes, wonach die kleinere Seite sich zu der größeren verhält, wie diese zur
Summe beider. Bei diesem Verfahren wurde aus der ganzen Reihe jeweils
nur ein Objekt gewühlt. Die übrigen Objekte kamen eigentlich nur in so weit
in Betracht, als sie das erforderliche Relief für das gefälligste bildeten und
möglicherweise von anderen Versuchspersonen gewählt werden konnten. Um
dieser mangelhaften Ausnutzung abzuhelfen und zugleich den Verschiedenheiten
in Grad und Art der ästhetischen Beurteilung Rechnung zu tragen, hat man
Fechners Methode der Wahl nicht unwesentlich umgestaltet. Man hat z. B.
nicht nur das gefälligste, sondern auch das mißfälligste Objekt und andere Grade
in der Skala der ästhetischen Werte bestimmen lassen. Dann hat man auch
eine sogenannte Reihenmethode aufgestellt, nach der die ganze geometrisch
abgestufte Reihe in eine ästhetische Wertreihe umzuwandeln ist. Man ist auch
dazu übergegangen, nur je zwei solcher Objekte miteinander vergleichen zu lassen
und lediglich relative ästhetische Urteile von der Versuchsperson zu verlangen.
Diese Methode der paarweisen Vergleichung fordert freilich mehr Zeit als die
einfachere Methode der Wahl oder die Reihenmethode. Aber sie ermöglicht
zugleich eine sicherere Abstufung der Wertgrade des ästhetischen Urteils, indem
die Zahl der Vorzugsurteile bei einer und derselben Versuchsperson ein ein¬
faches Maß für den Wert desjenigen Objekts abgibt, auf welches sie sich ver¬
einigt haben.

Die Fechnersche Methode der Herstellung bestand in einer Erzeugung des
gefälligsten Objektes durch die urteilende Versuchsperson. Man denke sich etwa
an einem Kreuzmodell den Kreuzarm verschiebbar. Man kann dann von einer
Versuchsperson diejenige Stellung des Armes selbst durch Verschieben anbringen
lassen, welche ihr den wohlgefälligsten Gesamteindruck des Kreuzes erweckt. Auch
diesem Verfahren sind in der späteren Entwicklung mannigfache neue Anwen¬
dungen und Verfeinerungen zuteil geworden. Die wichtigste von ihnen dürfte
wohl darin bestehen, daß man zwischen der Methode der Herstellung und dem
aktiven ästhetischen Verhalten, dem künstlerischen Schaffen, eine engere Beziehung
hat ausweisen können. Es ist das Zusammenwirken von Auge und Hand unter
dem Einfluß des persönlichen Geschmacks auch hier wie beim Zeichnen oder


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[0472] Die experimentelliz Ästhetik Fechner hatte sich auf zwei experimentelle Methoden beschränkt. Er nannte sie die Methode der Wahl und die der Herstellung. Jene bestand in dein Heraussuchen einer wohlgefälligsten Form aus einer ganzen Anzahl geometrisch abgestufter Grade derselben. So kann z. B. bei einer Visitenkarte nach dem wohlgefälligsten Verhältnis der Längs- und der Schmalseiten gefragt werden. Wenn einer Versuchsperson eine Anzahl solcher Karten vorgelegt wird, in der die kleinste Schmalseite den Anfang macht und die größte zu einem vollen Quadrat mit der Längsseite sich ergänzend den Abschluß bildet, so mußte nach Fechners Methode der Wahl diejenige Karte gewählt werden, die innerhalb dieser Reihe das gefälligste Seitenverhältnis aufwies. Die Maximalzahl der Urteile vereinigte sich hierbei auf das sogenannte Verhältnis des goldenen Schnittes, wonach die kleinere Seite sich zu der größeren verhält, wie diese zur Summe beider. Bei diesem Verfahren wurde aus der ganzen Reihe jeweils nur ein Objekt gewühlt. Die übrigen Objekte kamen eigentlich nur in so weit in Betracht, als sie das erforderliche Relief für das gefälligste bildeten und möglicherweise von anderen Versuchspersonen gewählt werden konnten. Um dieser mangelhaften Ausnutzung abzuhelfen und zugleich den Verschiedenheiten in Grad und Art der ästhetischen Beurteilung Rechnung zu tragen, hat man Fechners Methode der Wahl nicht unwesentlich umgestaltet. Man hat z. B. nicht nur das gefälligste, sondern auch das mißfälligste Objekt und andere Grade in der Skala der ästhetischen Werte bestimmen lassen. Dann hat man auch eine sogenannte Reihenmethode aufgestellt, nach der die ganze geometrisch abgestufte Reihe in eine ästhetische Wertreihe umzuwandeln ist. Man ist auch dazu übergegangen, nur je zwei solcher Objekte miteinander vergleichen zu lassen und lediglich relative ästhetische Urteile von der Versuchsperson zu verlangen. Diese Methode der paarweisen Vergleichung fordert freilich mehr Zeit als die einfachere Methode der Wahl oder die Reihenmethode. Aber sie ermöglicht zugleich eine sicherere Abstufung der Wertgrade des ästhetischen Urteils, indem die Zahl der Vorzugsurteile bei einer und derselben Versuchsperson ein ein¬ faches Maß für den Wert desjenigen Objekts abgibt, auf welches sie sich ver¬ einigt haben. Die Fechnersche Methode der Herstellung bestand in einer Erzeugung des gefälligsten Objektes durch die urteilende Versuchsperson. Man denke sich etwa an einem Kreuzmodell den Kreuzarm verschiebbar. Man kann dann von einer Versuchsperson diejenige Stellung des Armes selbst durch Verschieben anbringen lassen, welche ihr den wohlgefälligsten Gesamteindruck des Kreuzes erweckt. Auch diesem Verfahren sind in der späteren Entwicklung mannigfache neue Anwen¬ dungen und Verfeinerungen zuteil geworden. Die wichtigste von ihnen dürfte wohl darin bestehen, daß man zwischen der Methode der Herstellung und dem aktiven ästhetischen Verhalten, dem künstlerischen Schaffen, eine engere Beziehung hat ausweisen können. Es ist das Zusammenwirken von Auge und Hand unter dem Einfluß des persönlichen Geschmacks auch hier wie beim Zeichnen oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/472>, abgerufen am 27.09.2024.