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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Bewegung des panislcimismus

einzelne kaukasische Stämme haben während des japanischen Feldzuges das
Soldatenmaterial zu einer freiwilligen Reiterbrigade gestellt. Endlich wird
darauf hingewiesen, daß der Sohn des Schamyl als russischer General zu einem
ebenso überzeugten Anhänger des Zaren geworden sei wie viele seiner Glaubens¬
genossen. Es scheint aber, daß die heutige Generation weniger als je gesonnen
ist, diesem Beispiele der Älteren zu folgen, und daß darum die Frage von der
höchsten Bedeutung ist, wie sie sich im Falle eines kriegerischen Zusammenstoßes
Rußlands mit der Türkei verhalten würde. Bekannt ist ja, daß ein Teil der
mohammedanischen Bewohner des westlichen Kaukasus zu Beginn des letzten
russisch-türkischen Krieges seine Wohnsitze verlassen hat und bereit war, für
seinen Glauben zu leiden und zu kämpfen.

In den mittelasiatischen Ländern bildet der Panislamismus geradezu eine
Trennung zwischen den Muselmanen und den russischen Ansiedlern, die doch das
Land russifizieren sollen. Den 96 Prozent Sunniten stehen nur 2 Prozent Russen
(im ganzen hundertzehn bis Hundertzwanzigtausend) und 2 Prozent Armenier,
Juden und Schiiten gegenüber. Dies Verhältnis wird dadurch nicht günstiger,
daß, vorwiegend im Gebiet Transkaspien, das Sektantentum in fortschreitender
Ausdehnung begriffen ist und gerade Sekten mit rationalistischen Lehrmeinungen
und staatsfeindlichen Gesinnungen großen Zulauf haben. Der Bischof von
Turkestan meint deshalb, daß die Nachrichten über die Zunahme der pan¬
islamitischen Agitation im Turkestan die der russischen Herrschaft von feiten der
mohammedanischen Bevölkerung drohende Gefahr lange nicht ernsthaft genug
darstellen.

Ebenso wenig günstig und förderlich für den Bestand der russischen Herr¬
schaft ist die im Turkestan und auch im Kaukasus vertretene religiöse Abart des
Islam, der Derwischismus. Die Jschans, d. h. die Häupter dieser einen geheimen
religiösen Orden bildenden Bewegung, ordnen sich dem Haupt der türkischen
Geistlichkeit, dem Scheich-ni-Islam, unter. Ihre Lehre verlangt "Vernichtung
der Ungläubigen bis auf den letzten Mann". Die Macht eines solchen Ordens
kennzeichnen die Taten Schännis, der eine Art Theokratie unter seinen Berg¬
völkern hergestellt und den Kaukasus fünfunddreißig Jahre lang in Spannung
erhalten hat. In jeder Stadt des Turkestan sind ein oder mehrere Jschans
vertreten, die in ihren Jüngern (Müriden) über unbedingt ergebene Anhänger
verfügen und deren politische Gesinnung entscheidend beeinflussen. Auch Duktschi,
der Führer der Aufstandsbewegung in Andishan im Jahre 1898, war ein
Jschan.

Von großer Bedeutung ist die Haltung der muselmanischen Presse. Sie
hat sich in den letzten Jahren schnell entwickelt und gewinnt mit der Literatur
überhaupt an Verbreitung und Einfluß. Von den dreißig bis vierzig musei.
manischen Zeitungen, die jetzt in Rußland in orientalischer Sprache erscheinen,
arbeiten die meisten im Sinne der Partei der Kadetten und der muselmanischen
Fraktion der Duma. Doch sind unter ihnen alle Parteischattierungen von der


Die Bewegung des panislcimismus

einzelne kaukasische Stämme haben während des japanischen Feldzuges das
Soldatenmaterial zu einer freiwilligen Reiterbrigade gestellt. Endlich wird
darauf hingewiesen, daß der Sohn des Schamyl als russischer General zu einem
ebenso überzeugten Anhänger des Zaren geworden sei wie viele seiner Glaubens¬
genossen. Es scheint aber, daß die heutige Generation weniger als je gesonnen
ist, diesem Beispiele der Älteren zu folgen, und daß darum die Frage von der
höchsten Bedeutung ist, wie sie sich im Falle eines kriegerischen Zusammenstoßes
Rußlands mit der Türkei verhalten würde. Bekannt ist ja, daß ein Teil der
mohammedanischen Bewohner des westlichen Kaukasus zu Beginn des letzten
russisch-türkischen Krieges seine Wohnsitze verlassen hat und bereit war, für
seinen Glauben zu leiden und zu kämpfen.

In den mittelasiatischen Ländern bildet der Panislamismus geradezu eine
Trennung zwischen den Muselmanen und den russischen Ansiedlern, die doch das
Land russifizieren sollen. Den 96 Prozent Sunniten stehen nur 2 Prozent Russen
(im ganzen hundertzehn bis Hundertzwanzigtausend) und 2 Prozent Armenier,
Juden und Schiiten gegenüber. Dies Verhältnis wird dadurch nicht günstiger,
daß, vorwiegend im Gebiet Transkaspien, das Sektantentum in fortschreitender
Ausdehnung begriffen ist und gerade Sekten mit rationalistischen Lehrmeinungen
und staatsfeindlichen Gesinnungen großen Zulauf haben. Der Bischof von
Turkestan meint deshalb, daß die Nachrichten über die Zunahme der pan¬
islamitischen Agitation im Turkestan die der russischen Herrschaft von feiten der
mohammedanischen Bevölkerung drohende Gefahr lange nicht ernsthaft genug
darstellen.

Ebenso wenig günstig und förderlich für den Bestand der russischen Herr¬
schaft ist die im Turkestan und auch im Kaukasus vertretene religiöse Abart des
Islam, der Derwischismus. Die Jschans, d. h. die Häupter dieser einen geheimen
religiösen Orden bildenden Bewegung, ordnen sich dem Haupt der türkischen
Geistlichkeit, dem Scheich-ni-Islam, unter. Ihre Lehre verlangt „Vernichtung
der Ungläubigen bis auf den letzten Mann". Die Macht eines solchen Ordens
kennzeichnen die Taten Schännis, der eine Art Theokratie unter seinen Berg¬
völkern hergestellt und den Kaukasus fünfunddreißig Jahre lang in Spannung
erhalten hat. In jeder Stadt des Turkestan sind ein oder mehrere Jschans
vertreten, die in ihren Jüngern (Müriden) über unbedingt ergebene Anhänger
verfügen und deren politische Gesinnung entscheidend beeinflussen. Auch Duktschi,
der Führer der Aufstandsbewegung in Andishan im Jahre 1898, war ein
Jschan.

Von großer Bedeutung ist die Haltung der muselmanischen Presse. Sie
hat sich in den letzten Jahren schnell entwickelt und gewinnt mit der Literatur
überhaupt an Verbreitung und Einfluß. Von den dreißig bis vierzig musei.
manischen Zeitungen, die jetzt in Rußland in orientalischer Sprache erscheinen,
arbeiten die meisten im Sinne der Partei der Kadetten und der muselmanischen
Fraktion der Duma. Doch sind unter ihnen alle Parteischattierungen von der


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[0467] Die Bewegung des panislcimismus einzelne kaukasische Stämme haben während des japanischen Feldzuges das Soldatenmaterial zu einer freiwilligen Reiterbrigade gestellt. Endlich wird darauf hingewiesen, daß der Sohn des Schamyl als russischer General zu einem ebenso überzeugten Anhänger des Zaren geworden sei wie viele seiner Glaubens¬ genossen. Es scheint aber, daß die heutige Generation weniger als je gesonnen ist, diesem Beispiele der Älteren zu folgen, und daß darum die Frage von der höchsten Bedeutung ist, wie sie sich im Falle eines kriegerischen Zusammenstoßes Rußlands mit der Türkei verhalten würde. Bekannt ist ja, daß ein Teil der mohammedanischen Bewohner des westlichen Kaukasus zu Beginn des letzten russisch-türkischen Krieges seine Wohnsitze verlassen hat und bereit war, für seinen Glauben zu leiden und zu kämpfen. In den mittelasiatischen Ländern bildet der Panislamismus geradezu eine Trennung zwischen den Muselmanen und den russischen Ansiedlern, die doch das Land russifizieren sollen. Den 96 Prozent Sunniten stehen nur 2 Prozent Russen (im ganzen hundertzehn bis Hundertzwanzigtausend) und 2 Prozent Armenier, Juden und Schiiten gegenüber. Dies Verhältnis wird dadurch nicht günstiger, daß, vorwiegend im Gebiet Transkaspien, das Sektantentum in fortschreitender Ausdehnung begriffen ist und gerade Sekten mit rationalistischen Lehrmeinungen und staatsfeindlichen Gesinnungen großen Zulauf haben. Der Bischof von Turkestan meint deshalb, daß die Nachrichten über die Zunahme der pan¬ islamitischen Agitation im Turkestan die der russischen Herrschaft von feiten der mohammedanischen Bevölkerung drohende Gefahr lange nicht ernsthaft genug darstellen. Ebenso wenig günstig und förderlich für den Bestand der russischen Herr¬ schaft ist die im Turkestan und auch im Kaukasus vertretene religiöse Abart des Islam, der Derwischismus. Die Jschans, d. h. die Häupter dieser einen geheimen religiösen Orden bildenden Bewegung, ordnen sich dem Haupt der türkischen Geistlichkeit, dem Scheich-ni-Islam, unter. Ihre Lehre verlangt „Vernichtung der Ungläubigen bis auf den letzten Mann". Die Macht eines solchen Ordens kennzeichnen die Taten Schännis, der eine Art Theokratie unter seinen Berg¬ völkern hergestellt und den Kaukasus fünfunddreißig Jahre lang in Spannung erhalten hat. In jeder Stadt des Turkestan sind ein oder mehrere Jschans vertreten, die in ihren Jüngern (Müriden) über unbedingt ergebene Anhänger verfügen und deren politische Gesinnung entscheidend beeinflussen. Auch Duktschi, der Führer der Aufstandsbewegung in Andishan im Jahre 1898, war ein Jschan. Von großer Bedeutung ist die Haltung der muselmanischen Presse. Sie hat sich in den letzten Jahren schnell entwickelt und gewinnt mit der Literatur überhaupt an Verbreitung und Einfluß. Von den dreißig bis vierzig musei. manischen Zeitungen, die jetzt in Rußland in orientalischer Sprache erscheinen, arbeiten die meisten im Sinne der Partei der Kadetten und der muselmanischen Fraktion der Duma. Doch sind unter ihnen alle Parteischattierungen von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/467>, abgerufen am 27.09.2024.