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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Bewegung des Panislamismus

verbreitet und geglaubt, daß die Aufrichtung dieses Reiches eine der Bedingungen
des Friedens von Portsmouth sei und daß der jetzige Sultan bei der Umgürtung
mit dem Schwerte des Propheten") seine Beihülfe zugeschworen habe.

Dem Ziele der Befreiung aller Muselmanen in Rußland streben einige
muselmanische Wohltätigkeitsgesellschaften offen zu; aber auch geheime Gesell¬
schaften bestehen, wie die tatarische Gesellschaft Heirat in Ba?u, die energisch
auf die möglichst weitgehende Abschließung des vorwiegend durch Mohammedaner
bewohnten Teils des Kaukasus hinarbeitet. Alle diese Erscheinungen gewinnen
an Bedeutung durch eine Agitation, die durch die Beschlüsse der Mohammedanertage
in Kasan, Asa, Nishni, Tobolsk und Petersburg ihre Weisungen erhält. Diese
zielen aber auf nichts anderes als auf die "Bildung eines Staates im Staate"
hin. Die allmohammedanischen Kongresse und die ausländischen mohammedanischen
Zeitungen schüren das Feuer, und die auf das einfachere Volk noch eindring¬
licher wirkenden Erzählungen der Mekkapilger tun nichts anderes, als diesem Volke
die falschesten Begriffe über die Macht und Bedeutung des Kalifats beizubringen.

Die Tatarisierung hat unter den mohammedanischen Völkerschaften zweifellos
aufreizend gewirkt und große Fortschritte auf dem Wege zu dem erstrebten Erfolg
gemacht. Die Kirgisenhorden sind den Tataren geistig und materiell botmäßig
geworden. Schon ist unter ihnen die Losung verbreitet: "alle Russen zu Schanden
hauen". Die Zeitung Kasakstan der großen Horde bläst in dies Horn.

Die Völkerschaften der Wolgagegenden mit eigenen Sprachen wie die
Tscheremissen und die Bewohner des Permschen Landes, die Tschuwaschen und die
Baschkiren, haben wie die Kirgisen ihren Sprachschatz durch Aufnahme tatarischer
Worte mindestens verdoppelt und mit der Sprache die Gedanken des tatarischen
Muselmanentums, seine Lebensweise, seine Sitten und Gebräuche angenommen,
selbst im Äußeren einiges der tatarischen Tracht entlehnt.

Wenn nun der Muselman in Rußland von frühester Jugend an dazu
erzogen wird, die Welt vom Standpunkte des Panislamismus zu betrachten und
im russischen Staate seinen Feind zu sehen, so ist wohl begreiflich, daß die Er¬
füllung der militärischen Wehrpflicht und Dienstpflicht in keinem besonderen
Ansehen steht. Die Tataren bezeichnen die Wehrpflicht geradezu als eine der
Ursachen für die Auswanderung aus Nußland. Professor Maschanoff bezeugt
denn auch, daß der Heeresdienst, der die Angehörigen einer Kompagnie, einer
Schwadron sonst einander näher bringt, nicht den geringsten Einfluß auf die
Tataren ausübt: "Sie fühlen sich ganz augenscheinlich völlig fremd unter den
Russen." Es muß indessen hierbei hervorgehoben werden, daß durchaus nicht
alle russischen Fremdvölker muselmanischen Glaubens von gleichem Geiste erfüllt
sind. Die Turkmenen in Transkaspien, die allerdings in Glaubenssachen sehr
lau sind, werden als durchaus zuverlässige und tüchtige Soldaten angesehen, und



*) Der Krönung eines christlichen Herrschers entsprechende Politisch-religiöse Zeremonie,
die in der heiligen, den Christen völlig verschlossenen Moschee Ejub Khan um Goldenen Horn
nach der Thronbesteigung zu geschehen hat.
Die Bewegung des Panislamismus

verbreitet und geglaubt, daß die Aufrichtung dieses Reiches eine der Bedingungen
des Friedens von Portsmouth sei und daß der jetzige Sultan bei der Umgürtung
mit dem Schwerte des Propheten") seine Beihülfe zugeschworen habe.

Dem Ziele der Befreiung aller Muselmanen in Rußland streben einige
muselmanische Wohltätigkeitsgesellschaften offen zu; aber auch geheime Gesell¬
schaften bestehen, wie die tatarische Gesellschaft Heirat in Ba?u, die energisch
auf die möglichst weitgehende Abschließung des vorwiegend durch Mohammedaner
bewohnten Teils des Kaukasus hinarbeitet. Alle diese Erscheinungen gewinnen
an Bedeutung durch eine Agitation, die durch die Beschlüsse der Mohammedanertage
in Kasan, Asa, Nishni, Tobolsk und Petersburg ihre Weisungen erhält. Diese
zielen aber auf nichts anderes als auf die „Bildung eines Staates im Staate"
hin. Die allmohammedanischen Kongresse und die ausländischen mohammedanischen
Zeitungen schüren das Feuer, und die auf das einfachere Volk noch eindring¬
licher wirkenden Erzählungen der Mekkapilger tun nichts anderes, als diesem Volke
die falschesten Begriffe über die Macht und Bedeutung des Kalifats beizubringen.

Die Tatarisierung hat unter den mohammedanischen Völkerschaften zweifellos
aufreizend gewirkt und große Fortschritte auf dem Wege zu dem erstrebten Erfolg
gemacht. Die Kirgisenhorden sind den Tataren geistig und materiell botmäßig
geworden. Schon ist unter ihnen die Losung verbreitet: „alle Russen zu Schanden
hauen". Die Zeitung Kasakstan der großen Horde bläst in dies Horn.

Die Völkerschaften der Wolgagegenden mit eigenen Sprachen wie die
Tscheremissen und die Bewohner des Permschen Landes, die Tschuwaschen und die
Baschkiren, haben wie die Kirgisen ihren Sprachschatz durch Aufnahme tatarischer
Worte mindestens verdoppelt und mit der Sprache die Gedanken des tatarischen
Muselmanentums, seine Lebensweise, seine Sitten und Gebräuche angenommen,
selbst im Äußeren einiges der tatarischen Tracht entlehnt.

Wenn nun der Muselman in Rußland von frühester Jugend an dazu
erzogen wird, die Welt vom Standpunkte des Panislamismus zu betrachten und
im russischen Staate seinen Feind zu sehen, so ist wohl begreiflich, daß die Er¬
füllung der militärischen Wehrpflicht und Dienstpflicht in keinem besonderen
Ansehen steht. Die Tataren bezeichnen die Wehrpflicht geradezu als eine der
Ursachen für die Auswanderung aus Nußland. Professor Maschanoff bezeugt
denn auch, daß der Heeresdienst, der die Angehörigen einer Kompagnie, einer
Schwadron sonst einander näher bringt, nicht den geringsten Einfluß auf die
Tataren ausübt: „Sie fühlen sich ganz augenscheinlich völlig fremd unter den
Russen." Es muß indessen hierbei hervorgehoben werden, daß durchaus nicht
alle russischen Fremdvölker muselmanischen Glaubens von gleichem Geiste erfüllt
sind. Die Turkmenen in Transkaspien, die allerdings in Glaubenssachen sehr
lau sind, werden als durchaus zuverlässige und tüchtige Soldaten angesehen, und



*) Der Krönung eines christlichen Herrschers entsprechende Politisch-religiöse Zeremonie,
die in der heiligen, den Christen völlig verschlossenen Moschee Ejub Khan um Goldenen Horn
nach der Thronbesteigung zu geschehen hat.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/466>, abgerufen am 27.09.2024.