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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Bewegung des Panislamismus

Band" der ganzen Welt des Islam. Die Einheit der Sprache ist die Vor¬
bedingung für die Vereinheitlichung des Staatsgedankens, für die Herbeiführung
politischer Einheit des muselmanischen Gesamtvolkes, das nur "in der gemein¬
samen Religion oder genauer gesagt dort, wo der Islam herrscht, sein Vater¬
land sieht."

Jeder wahre Muselman ist Träger des Gedankens der Ausbreitung des
Islam nicht nur aus Überzeugung, sondern auch auf Geheiß des Koran.
Hierin ist die besondere werbende Kraft des Islam und seiner Tendenzen begründet,
die die Gedanken des Panislamismus und Pantürkismus in sich vereinigen.

Die panislamitische Bewegung ist wohl organisiert; Komitees leiten die
Agitation, Kongresse in den Staaten und Weltkongresse stellen allgemeine
Gesichtspunkte auf. Das Komitee für "Einigkeit und Fortschritt" hat den
Panislamismus und den türkischen Nationalismus in sein Programm auf¬
genommen und "sieht zwangsweise Türkisierung der Christen mittels Aufnötigung
der Sprache und des Heeresdienstes in seinem Programm vor".

Neuerdings macht sich im Islam eine Strömung für die politische Ver¬
einigung der Sunniten und Schiiten bemerkbar, die unverkennbar ihre Spitze
gegen die russische und englische Politik in Persien richtet. Ende 1910 haben
sich einige höhere Vertreter der Geistlichkeit beider Richtungen für diese Ver¬
einigung ausgesprochen und die Verteidigung der Grenzen und der Unabhängigkeit
beider Reiche (der Türkei und Persiens) als ihr Ziel hingestellt. Kenner des
Muselmanentums sehen in der Einigung des Islams eine Bedrohung der christ¬
lichen Welt, die in die politischen Beziehungen der Staaten ein neues Moment
hineintrügt. Die "unversöhnliche Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten" muß
nunmehr aus allen politischen und militärischen Erwägungen der in Gegensatz
M islamitischen Mächten geratenden Staaten ausgeschaltet werden. Ferner muß
Zur Kenntnis genommen werden, daß die Hoffnung auf Verschmelzung von
Muselmanen mit Christen in einem Staatswesen in den meisten Fällen trügerisch
ist- Rußland gilt nach einer Äußerung der in Kairo erscheinenden arabischen
Zeitung Al Muajed als Hauptfeind des ottomanischen Reiches und, nächst Eng¬
land, auch als Hauptfeind des Islamismus. Dieser Ansicht entspricht das Ver¬
halten der Muselmanen des russischen Reiches.

Den vorherrschenden Volksstamm mohanimedanischen Glaubens in Rußland
bilden die Tataren. Sie sind am meisten kulturell entwickelt, aufnahmefähig, unter¬
nehmend und dabei glaubensstark im Islam. Professor Vamböry rühmt ihnen
ein überraschend ausgeprägtes Nationalbewußtsein, politischen Takt und Festigkeit,
Tatkraft und Patriotismus (in spezifisch tatarischen Sinne) nach. Dazu findet
er. daß sie die Sache des Pantürkismus glücklich fördern, indem sie aus ihrer
Sprache alle persischen und arabischen Worte ausmerzen und durch türkische Worte
(osmanischen Dialekts) ersetzen.

Die wichtigsten Stätten tatarisch-muselmanischer Bildung in Rußland sind
Kasan (der Schmuck des Ostens). Bachtschissarai, Tiflis, Baku, Orenburg, Troizk,


Die Bewegung des Panislamismus

Band" der ganzen Welt des Islam. Die Einheit der Sprache ist die Vor¬
bedingung für die Vereinheitlichung des Staatsgedankens, für die Herbeiführung
politischer Einheit des muselmanischen Gesamtvolkes, das nur „in der gemein¬
samen Religion oder genauer gesagt dort, wo der Islam herrscht, sein Vater¬
land sieht."

Jeder wahre Muselman ist Träger des Gedankens der Ausbreitung des
Islam nicht nur aus Überzeugung, sondern auch auf Geheiß des Koran.
Hierin ist die besondere werbende Kraft des Islam und seiner Tendenzen begründet,
die die Gedanken des Panislamismus und Pantürkismus in sich vereinigen.

Die panislamitische Bewegung ist wohl organisiert; Komitees leiten die
Agitation, Kongresse in den Staaten und Weltkongresse stellen allgemeine
Gesichtspunkte auf. Das Komitee für „Einigkeit und Fortschritt" hat den
Panislamismus und den türkischen Nationalismus in sein Programm auf¬
genommen und „sieht zwangsweise Türkisierung der Christen mittels Aufnötigung
der Sprache und des Heeresdienstes in seinem Programm vor".

Neuerdings macht sich im Islam eine Strömung für die politische Ver¬
einigung der Sunniten und Schiiten bemerkbar, die unverkennbar ihre Spitze
gegen die russische und englische Politik in Persien richtet. Ende 1910 haben
sich einige höhere Vertreter der Geistlichkeit beider Richtungen für diese Ver¬
einigung ausgesprochen und die Verteidigung der Grenzen und der Unabhängigkeit
beider Reiche (der Türkei und Persiens) als ihr Ziel hingestellt. Kenner des
Muselmanentums sehen in der Einigung des Islams eine Bedrohung der christ¬
lichen Welt, die in die politischen Beziehungen der Staaten ein neues Moment
hineintrügt. Die „unversöhnliche Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten" muß
nunmehr aus allen politischen und militärischen Erwägungen der in Gegensatz
M islamitischen Mächten geratenden Staaten ausgeschaltet werden. Ferner muß
Zur Kenntnis genommen werden, daß die Hoffnung auf Verschmelzung von
Muselmanen mit Christen in einem Staatswesen in den meisten Fällen trügerisch
ist- Rußland gilt nach einer Äußerung der in Kairo erscheinenden arabischen
Zeitung Al Muajed als Hauptfeind des ottomanischen Reiches und, nächst Eng¬
land, auch als Hauptfeind des Islamismus. Dieser Ansicht entspricht das Ver¬
halten der Muselmanen des russischen Reiches.

Den vorherrschenden Volksstamm mohanimedanischen Glaubens in Rußland
bilden die Tataren. Sie sind am meisten kulturell entwickelt, aufnahmefähig, unter¬
nehmend und dabei glaubensstark im Islam. Professor Vamböry rühmt ihnen
ein überraschend ausgeprägtes Nationalbewußtsein, politischen Takt und Festigkeit,
Tatkraft und Patriotismus (in spezifisch tatarischen Sinne) nach. Dazu findet
er. daß sie die Sache des Pantürkismus glücklich fördern, indem sie aus ihrer
Sprache alle persischen und arabischen Worte ausmerzen und durch türkische Worte
(osmanischen Dialekts) ersetzen.

Die wichtigsten Stätten tatarisch-muselmanischer Bildung in Rußland sind
Kasan (der Schmuck des Ostens). Bachtschissarai, Tiflis, Baku, Orenburg, Troizk,


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[0463] Die Bewegung des Panislamismus Band" der ganzen Welt des Islam. Die Einheit der Sprache ist die Vor¬ bedingung für die Vereinheitlichung des Staatsgedankens, für die Herbeiführung politischer Einheit des muselmanischen Gesamtvolkes, das nur „in der gemein¬ samen Religion oder genauer gesagt dort, wo der Islam herrscht, sein Vater¬ land sieht." Jeder wahre Muselman ist Träger des Gedankens der Ausbreitung des Islam nicht nur aus Überzeugung, sondern auch auf Geheiß des Koran. Hierin ist die besondere werbende Kraft des Islam und seiner Tendenzen begründet, die die Gedanken des Panislamismus und Pantürkismus in sich vereinigen. Die panislamitische Bewegung ist wohl organisiert; Komitees leiten die Agitation, Kongresse in den Staaten und Weltkongresse stellen allgemeine Gesichtspunkte auf. Das Komitee für „Einigkeit und Fortschritt" hat den Panislamismus und den türkischen Nationalismus in sein Programm auf¬ genommen und „sieht zwangsweise Türkisierung der Christen mittels Aufnötigung der Sprache und des Heeresdienstes in seinem Programm vor". Neuerdings macht sich im Islam eine Strömung für die politische Ver¬ einigung der Sunniten und Schiiten bemerkbar, die unverkennbar ihre Spitze gegen die russische und englische Politik in Persien richtet. Ende 1910 haben sich einige höhere Vertreter der Geistlichkeit beider Richtungen für diese Ver¬ einigung ausgesprochen und die Verteidigung der Grenzen und der Unabhängigkeit beider Reiche (der Türkei und Persiens) als ihr Ziel hingestellt. Kenner des Muselmanentums sehen in der Einigung des Islams eine Bedrohung der christ¬ lichen Welt, die in die politischen Beziehungen der Staaten ein neues Moment hineintrügt. Die „unversöhnliche Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten" muß nunmehr aus allen politischen und militärischen Erwägungen der in Gegensatz M islamitischen Mächten geratenden Staaten ausgeschaltet werden. Ferner muß Zur Kenntnis genommen werden, daß die Hoffnung auf Verschmelzung von Muselmanen mit Christen in einem Staatswesen in den meisten Fällen trügerisch ist- Rußland gilt nach einer Äußerung der in Kairo erscheinenden arabischen Zeitung Al Muajed als Hauptfeind des ottomanischen Reiches und, nächst Eng¬ land, auch als Hauptfeind des Islamismus. Dieser Ansicht entspricht das Ver¬ halten der Muselmanen des russischen Reiches. Den vorherrschenden Volksstamm mohanimedanischen Glaubens in Rußland bilden die Tataren. Sie sind am meisten kulturell entwickelt, aufnahmefähig, unter¬ nehmend und dabei glaubensstark im Islam. Professor Vamböry rühmt ihnen ein überraschend ausgeprägtes Nationalbewußtsein, politischen Takt und Festigkeit, Tatkraft und Patriotismus (in spezifisch tatarischen Sinne) nach. Dazu findet er. daß sie die Sache des Pantürkismus glücklich fördern, indem sie aus ihrer Sprache alle persischen und arabischen Worte ausmerzen und durch türkische Worte (osmanischen Dialekts) ersetzen. Die wichtigsten Stätten tatarisch-muselmanischer Bildung in Rußland sind Kasan (der Schmuck des Ostens). Bachtschissarai, Tiflis, Baku, Orenburg, Troizk,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/463>, abgerufen am 27.09.2024.