Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Reichsspiegel Lntschlußlosigkeit Reue politische Organisationen -- Der Kampf um Bassermann -- Kautsky über den neuen Mittelstand -- Einfluß auf die Wähler -- Keine Klärung -- Heeresergänzung und Deckungsfrage Während im Reichstage die Fraktionen einander heftig befehden und die Reichsspiegel Lntschlußlosigkeit Reue politische Organisationen — Der Kampf um Bassermann — Kautsky über den neuen Mittelstand — Einfluß auf die Wähler — Keine Klärung — Heeresergänzung und Deckungsfrage Während im Reichstage die Fraktionen einander heftig befehden und die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0452" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320869"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_320416/figures/grenzboten_341895_320416_320869_000.jpg"/><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/> <div n="2"> <head> Lntschlußlosigkeit</head><lb/> <note type="argument"> Reue politische Organisationen — Der Kampf um Bassermann — Kautsky über den<lb/> neuen Mittelstand — Einfluß auf die Wähler — Keine Klärung — Heeresergänzung<lb/> und Deckungsfrage</note><lb/> <p xml:id="ID_1910" next="#ID_1911"> Während im Reichstage die Fraktionen einander heftig befehden und die<lb/> rechts stehenden Parteien sich anschicken, dem nationalen Liberalismus den<lb/> Garaus zu machen, erstehen draußen in den großen Industriezentren, des Westens<lb/> neue politische Organisationen als Folgeerscheinungen der Konsolidierung<lb/> wirtschaftlicher Unternehmungen und der Festigung des Besitzes. Die dritte<lb/> Generation der rheinisch-westfälischen Hüttenbesitzer beginnt seit einigen Jahren auf<lb/> eine Tradition zurückzuschauen, die zwar nicht so reich an historisch bedeutsamen<lb/> Geschehnissen sein kann wie die pommerscher und brandenburgischer Grund¬<lb/> herren, die aber gestützt auf größere Reichtümer heute vielleicht schon wirksamer<lb/> und kräftiger ist als jene. Zur Tradition gesellen sich Beziehungen, die weit<lb/> über den Rahmen der Familie hinausführen und mit den Beziehungen stellen<lb/> sich Pflichten und Rücksichten an die Wiege des künftigen Hüttenbesitzers, die<lb/> den Selfmademan noch nicht beschwerten. Das alles macht zusammen mit den<lb/> Anforderungen des industriellen Großbetriebes konservativ; zunächst nicht im<lb/> Sinne einer Weltanschauung, aber doch in der Auffassung der sozialen Unter¬<lb/> schiede und in der Staatsauffassung. Der demokratische Zug, der vor einem<lb/> Vierteljahrhundert die Ankömmlinge aus Ostelbien noch in Erstaunen versetzte,<lb/> ist längst verschwunden. Das westdeutsche Bürgertum hat eine eigene<lb/> Aristokratie geschaffen! Diese Entwicklung hat bislang in der Organisation<lb/> politischer Parteien keinen rechten Ausdruck gefunden. Im Rheinland und in<lb/> Westfalen gruppierte das Bürgertum sich nach Konfessionen: wer nicht als<lb/> Katholik wirklich liberal dachte, schloß sich dem Zentrum an; die Protestanten<lb/> aller sozialen Schichten aber fanden sich bei den Nationalliberalen zusammen.<lb/> Die Einigkeit der Liberalen wurde erstmalig gestört aber bald wieder hergestellt<lb/> durch das Auftreten der Sozialdemokratie, seit etwa zwanzig Jahren indessen<lb/> arg beunruhigt durch das Aufkommen des „neuen Mittelstandes", der sich im<lb/> Jungliberalismus eigene, wenn auch von den Alten abhängige Organisationen<lb/> schuf. Aber zu tief trennenden Auseinandersetzungen prinzipieller Art ist es</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0452]
[Abbildung]
Reichsspiegel
Lntschlußlosigkeit
Reue politische Organisationen — Der Kampf um Bassermann — Kautsky über den
neuen Mittelstand — Einfluß auf die Wähler — Keine Klärung — Heeresergänzung
und Deckungsfrage
Während im Reichstage die Fraktionen einander heftig befehden und die
rechts stehenden Parteien sich anschicken, dem nationalen Liberalismus den
Garaus zu machen, erstehen draußen in den großen Industriezentren, des Westens
neue politische Organisationen als Folgeerscheinungen der Konsolidierung
wirtschaftlicher Unternehmungen und der Festigung des Besitzes. Die dritte
Generation der rheinisch-westfälischen Hüttenbesitzer beginnt seit einigen Jahren auf
eine Tradition zurückzuschauen, die zwar nicht so reich an historisch bedeutsamen
Geschehnissen sein kann wie die pommerscher und brandenburgischer Grund¬
herren, die aber gestützt auf größere Reichtümer heute vielleicht schon wirksamer
und kräftiger ist als jene. Zur Tradition gesellen sich Beziehungen, die weit
über den Rahmen der Familie hinausführen und mit den Beziehungen stellen
sich Pflichten und Rücksichten an die Wiege des künftigen Hüttenbesitzers, die
den Selfmademan noch nicht beschwerten. Das alles macht zusammen mit den
Anforderungen des industriellen Großbetriebes konservativ; zunächst nicht im
Sinne einer Weltanschauung, aber doch in der Auffassung der sozialen Unter¬
schiede und in der Staatsauffassung. Der demokratische Zug, der vor einem
Vierteljahrhundert die Ankömmlinge aus Ostelbien noch in Erstaunen versetzte,
ist längst verschwunden. Das westdeutsche Bürgertum hat eine eigene
Aristokratie geschaffen! Diese Entwicklung hat bislang in der Organisation
politischer Parteien keinen rechten Ausdruck gefunden. Im Rheinland und in
Westfalen gruppierte das Bürgertum sich nach Konfessionen: wer nicht als
Katholik wirklich liberal dachte, schloß sich dem Zentrum an; die Protestanten
aller sozialen Schichten aber fanden sich bei den Nationalliberalen zusammen.
Die Einigkeit der Liberalen wurde erstmalig gestört aber bald wieder hergestellt
durch das Auftreten der Sozialdemokratie, seit etwa zwanzig Jahren indessen
arg beunruhigt durch das Aufkommen des „neuen Mittelstandes", der sich im
Jungliberalismus eigene, wenn auch von den Alten abhängige Organisationen
schuf. Aber zu tief trennenden Auseinandersetzungen prinzipieller Art ist es
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